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VORWÄRTS/1262: Wenn der Staat ein Kind wegnimmt


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 03/04 vom 3. Februar 2017

Wenn der Staat ein Kind wegnimmt

Von Andreas Boueke


Im Jahr 2015 wurden in England über 5000 Adoptionen durchgeführt. Die biologischen Eltern dürfen ihre Kinder nicht mehr sehen. Viele Betroffene sprechen von "child snatching". Sie sagen, der britische Staat würde ihre Kinder stehlen. Eine Reportage über den Kampf einer jungen Mutter gegen die Zwangsadoption ihrer Tochter.

Die junge Frau ist Mitte zwanzig. Gross, schlank, blond - sehr blond - mit weisser Haut, die sich an Sonnentagen schnell rötet. "Ich möchte nicht, dass mein Name genannt wird", sagt sie mit Sorgenfalten auf der Stirn und Tränen in den Augen. "Ich kämpfe gegen sehr einflussreiche Leute. Alles was ich sage, könnte gegen mich verwendet werden." Sie spricht das deutliche britische Englisch der Küstenregion Südenglands. "Wer noch kämpft, muss anonym bleiben, sonst bekommt man sein Kind bestimmt nicht zurück. Wenn ich keine Hoffnung mehr hätte, wenn meine Tochter schon adoptiert worden wäre, dann hätte ich nichts zu verlieren. Dann könnte ich meinen Namen nennen."

Neben ihr sitzt Warren, ein Mann Mitte vierzig. "Bevor ich sie kennenlernte, wusste ich von ähnlichen Fällen", sagt der diplomierte Psychologe. "Ich hatte Berichte gelesen, von Kindern, die in Adoption gegeben wurden, ohne dass die leiblichen Eltern ihr Einverständnis gegeben hätten." Jetzt kämpft er unermüdlich mit der jungen Mutter, dass sie ihr Kind wieder zurückbekommt. Solche Zwangsadoptionen sind in keinem anderen Land der Europäischen Union möglich. In Grossbritannien aber gibt es jeden Monat weit über hundert Fälle.


"Es war die Hölle"

Die Behörden waren aufmerksam geworden, als die Mutter ins Krankenhaus gekommen war. Das Kind war ihr aus den Armen gerutscht: "Plötzlich sagte mir ein Arzt, es gebe Zweifel an der Sicherheit meiner kleinen Tochter. Daraufhin wurden mehrere Röntgenuntersuchungen gemacht. Dabei haben sie angebliche Knochennarben eines älteren Armbruchs festgestellt, den ich nicht erklären konnte. Ich war ausser mir vor Schreck." Wer sein Baby ins Krankenhaus bringt und dort dann jemand den Eindruck hat, das Kind könnte bewusst verletzt worden sein, dann leuchten Alarmlichter auf. In Grossbritannien wird das Jugendamt hinzugezogen und nicht selten wird den Eltern das Kind weggenommen. "Meine Tochter bekam Polizeischutz. Diese Leute von der Behörde sagten, dass die Verletzung vermutlich nicht das Ergebnis eines Unfalls war, sondern dass jemand meine Tochter bewusst verletzt hatte. Es war die Hölle."

Der Psychologe Warren hat viel Erfahrung mit den Behörden. Jahre lang arbeitete er selbst mit den staatlichen Sozialdiensten. Er kennt die Routine: "Der staatliche Apparat rollt an. Nachdem eine Notfallbestimmung zum Schutz des Kindes ausgesprochen ist, geht das Jugendamt vor Gericht. Wenn dort die Rede von einer möglichen Gefahr schwerwiegender Schäden für das Kind ist, dann wird kein Richter ein Risiko eingehen. Auch nicht, wenn es keinerlei Beweise gibt." Die junge Mutter konnte nicht glauben, was geschah: "Plötzlich giltst du als Risiko für dein eigenes Kind. Sie nehmen es dir weg und du kannst nicht einmal widersprechen. Wenn du nicht einverstanden bist, beweist das nur, wie uneinsichtig du bist."


200 biologische Eltern inhaftiert

Zur Zeit leben in England über 52.000 Kinder in Pflegefamiien, doppelt so viele wie vor fünfzehn Jahren. Die endgültige Entscheidung liegt bei einem/einer FamilienrichterIn. Er oder sie trifft die Entscheidung allein und ohne öffentliche Anhörung. Dabei stützen sich die meisten RichterInnen auf Berichte von SozialarbeiterInnen, von denen viele für private Dienstleistungsunternehmen arbeiten. Diese Firmen wiederum verdienen oft selbst an den Adoptionen. Sie müssen bestimmte Quoten erreichen, um profitabel zu sein.

Im Fall der jungen Mutter gab es keine weiteren Untersuchungen, um festzustellen, ob es nicht auch andere Ursachen für die Narben geben könnte. Zwar wurde ein Radiologe beauftragt und ein weiterer Kinderarzt, aber es sind immer dieselben ExpertInnen, die solche Gutachten schreiben. Warren ist empört über das System: "Einem Experten für mentale Gesundheit werden Tausende Pfund dafür bezahlt, dass er Berichte über Mütter oder Väter schreibt, mit denen er nur ein, zwei Stunden verbracht hat. Manchmal trifft er sie auch gar nicht, sondern liest nur die medizinischen Dossiers. Die Eltern bekommen keine Möglichkeit, andere Erklärungen für die angeblichen Verletzungen ihres Kindes zu finden. Sie können sich nicht wehren. Auf keinen Fall dürfen sie an die Öffentlichkeit gehen. Wer sich beschwert, kommt unter die Räder."

Die Famiiengerichte verhandeln unter Ausschluss der Öffentlichkeit, ohne ZuschauerInnen, ohne JournalistInnen, damit die Anonymität der Kinder gewahrt bleibt. Wer über adoptierte Kinder öffentlich spricht und ihre Identität preisgibt, dem drohen Gefängnisstrafen. Im Jahr 2014 wurden über zweihundert biologische Eltern inhaftiert, weil sie öffentlich über ihre Fälle gesprochen oder Kontakt zu ihren Kindern gesucht haben. In manchen Fällen wurden Kinder von ihren Eltern getrennt, weil Röntgenbilder den Verdacht auf eine Verletzung nahe legten. Monate später sind dann neue Informationen aufgetaucht, die beweisen, dass es sich nicht um eine Verletzung, sondern um einen angeborenen Gendefekt handelt. Aber es war zu spät. Sobald das Kind von einem anderen Ehepaar adoptiert wurde, haben die biologischen Eltern keine Chance mehr, es wieder zu sehen. Warren kann es kaum glauben: "Nachdem der Richter im Sinne des Jugendamts entschieden hat, ist es nahezu zwangsläufig, dass das Kind zur Adoption freigegeben wird. Eigentlich steht im Kinderschutzgesetz eindeutig, dass alles dafür getan werden soll, dass Mutter und Kind zusammen bleiben. Aber die Praxis sieht anders aus."


Was steckt dahinter?

In Grossbritannien sind rund dreissigtausend SozialarbeiterInnen in der Kinderfürsorge beschäftigt. Einer von ihnen ist Alan Kannea. Er sagt: "Wenn du einen Fehler machst und ein Kind seinen Eltern wegnimmst, obwohl es nicht nötig war, produziert das keine Schlagzeilen. Aber wenn du ein Kind bei problematischen Eltern lässt und es stirbt, dann taucht dein Name überall in der Sensationspresse auf." In dem Beruf gibt es viele Menschen, die sehr motiviert arbeiten, meint Alan Kannea. "Aber es gibt auch einige, denen die Einzelschicksale egal sind. Und es gibt diejenigen, die keine Ahnung haben, wo sie da rein geraten sind. Aber sie machen weiter, weil sie ihre Kreditraten und ihre Miete bezahlen müssen." Die junge Mutter hatte nie das Gefühl, dass die Sozialdienste ihr helfen wollten. "Sie waren von Anfang an nur daran interessiert, Gründe zu finden, um mich von meiner Tochter zu trennen. Sie gaben mir das Gefühl, eine Kriminelle zu sein. Ich fühlte mich schuldig. In so einer Situation wirst du paranoid und stellst dich selbst in Frage. Das ist schlimm, die schlimmste Einschüchterung, die man sich vorstellen kann."

Wie konnte es so weit kommen, dass sich die Behörden so häufig gegen die leiblichen Eltern stellen? Die junge Mutter hat einen Verdacht: "Es gibt so viele Fälle. Da muss doch etwas dahinter stecken. In meinem Fall glaube ich, dass sie in meiner Tochter vor allem das hübsche, blauäugige, blonde, gesunde Baby gesehen haben, mit Eltern ohne Drogenprobleme. Solche Kinder sind besonders attraktiv für Organisationen, die Adoptionen vermitteln." In den vergangenen fünfzehn Jahren hat jede Regierung in London das Ziel propagiert, öffentliche Dienstleistungen zu beschränken, um privaten Unternehmen mehr Möglichkeiten einzuräumen, diese Aufgaben zu übernehmen. Diese Privatisierungspolitik wird in Bereichen wie dem Strafvollzug, der öffentlichen Sicherheit, den Gesundheitsdienstleistungen und der Bildung umgesetzt. Im Kinderschutz ist diese Entwicklung zu weit gegangen, meint Warren: "Es mag sich wie eine Verschwörungstheorie anhören. Aber du kannst dich im ganzen Land umschauen und wirst sehen: Überall passiert dasselbe, vor jedem Famiiengericht. Es gibt Mütter, die nur ein wenig Schutz und Unterstützung bräuchten, aber sie nicht bekommen. Wenn ihr Kind attraktiv ist für eine Adoption, dann wird die Mutter oder der Vater diffamiert und das Kind wird weggenommen."


Nur der Profit zählt

Interviewanfragen bei öffentlichen Behörden zu dieser Thematik laufen meist ins Leere, obwohl ihre MitarbeiterInnen zu den ersten Leidtragenden der Entwicklung gehören. Im Jahr 2006 hat die britische Regierung die finanzielle Ausstattung der öffentlichen Sozialämter enorm reduziert. Seither muss das verbliebene Personal andere Einkommensquellen auftun. Auch deshalb kommt es häufig zu einer Kooperation mit privaten Agenturen für Pflegefamilien und Adoptionen. Statistisch gesehen nehmen die britischen Sozialdienste alle zwanzig Minuten ein Kind aus seiner Familie. Sie arbeiten mit privaten Firmen zusammen, deren AktionärInnen Profit machen wollen. Alan Kennea sieht einen Zusammenhang zwischen der Privatisierung der Dienstleistungen im Bereich des Kinderschutzes und der wachsenden Zahl der Zwangsadoptionen: (Die Organisationen müssen ihre Infrastruktur auslasten. Wenn du zehn Betten hast und nur fünf belegt sind, dann machst du Verluste. Du musst sicher stellen, dass mindestens acht Betten belegt sind."

Warren weiss aus Erfahrung, dass es wirklich Eltern gibt, die ihre Kinder misshandeln und nicht ausreichend versorgen. Doch er hat nur zu oft erlebt, dass die Sozialdienste gerade diesen Eltern ihre Kinder oft nicht wegnehmen: "In meiner Arbeit habe ich immer wieder mit Familien zu tun, die Drogen- und Alkoholprobleme haben. Wenn ich dann die Behörden kontaktiere, wird mir mitgeteilt, der Fall gehöre nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Da fragst du dich natürlich, wie das möglich ist." Die junge Mutter hält die Situation nur deshalb aus, weil sie ihre Tochter nicht aufgeben kann: "Es geht nicht um mich, sondern um meine Tochter. Sie gibt mir die Kraft, weiter zu machen. Niemand tut etwas, weil die Leute nicht glauben können, dass so etwas passiert. Sie können sich nicht vorstellen, dass der britische Staat einfach Kinder wegnimmt. Früher hätte ich wahrscheinlich ähnlich gedacht."

Der Psychologe Warren sieht den Schmerz der Eltern, die allein gelassen werden, ihre Wut. "Wir haben Selbsthilfegruppen aufgebaut, lokal und national. Es geht darum, die Betroffen zu vernetzen, auch über das Internet, damit sie Beratung bekommen können. Sie brauchen Informationen über die Prozedur und die Gesetze."

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 03/04/2017 - 73. Jahrgang - 3. Februar 2017 S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. März 2017

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