vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 39/40 vom 23. November 2017
Märchen "Made in Europe"
von Tarek Idri
Die Bekleidungsindustrie ist ein wichtiger Wirtschaftssektor in vielen Ländern Osteuropas. Die Arbeitsrechte sind schlecht, die Mindestlöhne tief. Die ArbeiterInnen, meist Frauen, leiden unter den schlechten Bedingungen.
"Es gibt Zeiten, in denen unsere Familie nichts zu Essen hat.
Allein für Strom und Wasser zahlen wir jeden Monat 86 Euro; das ist
fast so viel wie der offizielle Mindestlohn", berichtet eine
Textilarbeiterin aus der Ukraine. Zwischen 2010 und 2017 sind die
Energiepreise in der Ukraine um mehr als 450 Prozent gestiegen. Die
Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitenden Osteuropas sind
allgemein miserabel. Eine Studie der Kampagne für Saubere Kleidung
(CCC) hat gezeigt, dass ein "dramatischer" Unterschied besteht
zwischen den Löhnen und den tatsächlichen Lebenskosten für
ArbeiterInnen der Bekleidungsindustrie in Osteuropa. Die Arbeitsrechte
werden nicht eingehalten oder existieren nicht, was einen negativen
Einfluss auf das Leben der ArbeiterInnen hat.
In der Kleidungs- und Schuhindustrie in Osteuropa arbeiten mehr als 1,7 Million Personen, wobei die Mehrheit davon Frauen sind. Die Berichte der CCC zeigen, dass die miserablen Arbeitsbedingungen für ArbeiterInnen nicht auf Asien beschränkt sind. Durch die höhere Aufmerksamkeit und vermehrte Berichterstattung der Medien zur Kleidungsindustrie in Asien haben verschiedene Marken begonnen, Kleider und Schuhe gezielt als "Made in Europe" zu bewerben. Die KonsumentInnen werden mit Versprechen von höheren Qualitätsstandards und sozialer Verantwortung angelockt. Der europäische Produktionsort wird dabei einfach mit Fairness und guten Arbeitsbedingungen gleichgesetzt - was ein Märchen ist.
Untersucht wurden 14 Länder Ost- und Südosteuropas von Polen über Albanien, von Tschechien bis Georgien. In den meisten Ländern ist die Bekleidungs- und Schuhindustrie einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Beschäftigungs- und Exportsektor. Die Region ist zu einem strategischen Knotenpunkt der Produktion geworden, besonders für Arbeitsbekleidung, schnelle und kleinere Aufträge sowie für qualitativ hochstehende Produktion von Luxusmarken. Die Transportzeit beträgt aus Ost- nach Zentraleuropa ein bis zwei Tage, während sie aus Asien bis zu einem Monat dauern kann.
In allen untersuchten Ländern ist die Kleidungsindustrie die am schlechtesten zahlende Arbeitgeberin. Wie in der gesamten Arbeitswelt gibt es auch hier Lohnunterschiede und eine Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Es ist schwierig, abzuschätzen, wie viel weniger Frauen in der Bekleidungsindustrie verdienen. Nach offiziellen Statistiken liegt der Lohnunterschied in der Gesamtindustrie in diesen Ländern zwischen 18 und 27 Prozent. In der Slowakei bekommen Frauen in der Leder- und Schuhindustrie aber beispielsweise beinahe 50 Prozent weniger als Männer. Die weiblichen Arbeiterinnen tragen häufig eine dreifache Bürde: Sie tragen Verantwortung für die Familien durch ihre bezahlte Arbeit - viele Arbeiterinnen sind die Hauptverdienenden. Sie leisten Care-Arbeit und arbeiten im Haushalt für die Familie (einschliesslich für die Älteren und Kinder). Sie betreiben zusätzlich Subsistenzwirtschaft, um ihre tiefen Löhne aufzubessern.
Besonders schlechte Arbeitsbedingungen herrschen in Georgien, wo es keine Arbeitsgesetze, keine Kontrollen und keine obligatorischen Sozialversicherungen gibt. Von der EU wird dieser Zustand gelobt. Einige der ärmsten Länder Europas wie Serbien gewähren multinationalen Grossunternehmen direkt und indirekt Privilegien und Vorteile. Darunter fallen die extrem tiefen Mindestlöhne, die Gesetzgebung, die die Wirtschaft bevorteilt und Gewerkschaftsarbeit einschränkt, sowie finanzielle Garantien für Marken, wenn diese Produktionsstätten im Land eröffnen. All dies läuft natürlich auf Kosten der ArbeiterInnen.
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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 39/40 - 73. Jahrgang - 23. November 2017, S. 5
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Dezember 2017
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