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VORWÄRTS/1418: Massive Verlustängste des Bürgertums


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 37/38 vom 15. November 2018

Massive Verlustängste des Bürgertums

von Damian Bugmann


Der Generalstreik in der Schweiz im November 1918 und die gleichzeitige Novemberrevolution in Deutschland nutzten den politischen Massenstreik im Kampf gegen das Ancien Régime. In der Eidgenossenschaft strebte die ArbeiterInnenbewegung Reformen an, im Reich war sie gespalten zwischen Reform und Revolution.


Im auslaufenden Deutschen Reich und im schweizerischen freisinnig dominierten Staat ging es um die Disziplinierung der selbstbewussten, antikapialistischen und radikaldemokratischen Arbeiterschaft. In Deutschland stützten die Führungen von Sozialdemokratie und Gewerkschaften den feudalen Militarismus und die liberalen Wirtschaftsmächtigen gegen die revolutionären Soldaten und ArbeiterInnen. In der Schweiz forderte die Arbeiter-Innenbewegung den bürgerlichen Staat und die Armeeführung heraus, die während des Krieges starke Präsenz und Dominanz in Staat und Gesellschaft zeigte. Der Forderungskatalog des Oltener Komitees verlangte Proporz-Wahlrecht (das Majorzsystem sorgte dafür, dass der Freisinn über- und die Sozialdemokratie unterrepräsentiert war), Frauenstimmrecht, 48-Stunden-Woche, AHV, bessere Lebensmittelversorgung, Tilgung der Staatsschulden durch die Besitzenden und die Armee als Volksheer ohne Soldatenschinderei und Einsätze gegen ArbeiterInnen. Das war den Herrschenden schon Bolschewismus und Revolution genug.

Das Bürgertum in der Schweiz hatte Angst vor einem massiven Verlust von Einfluss und Umsatz. Hohe Offiziere waren alarmiert und schockiert, dass in Deutschland und Österreich die ArbeiterInnenhorden Erfolge feierten, die MonarchInnen zum Abdanken und zum Beenden des Kriegs gezwungen hatten und demokratische Partizipation, Bildung, Gesundheit und genug zu Essen für alle und Frieden verlangten. In Russland ein Jahr zuvor waren sie sogar erfolgreich gewesen. Und jetzt begehrten auch noch die hiesigen ArbeiterInnen auf, man befürchtete Kontrollverlust und beschwor das Schreckgespenst des Bolschewismus, dem Pöbel sollten keine Zugeständnisse gemacht werden und der Streik mit entschlossenem und brutalem Vorgehen im Keim erstickt werden.

Die meisten der russischen, deutschen und österreichischen ArbeiterInnen kamen von der Front, waren Überlebende eines noch nie dagewesenen brutalen Kriegs und hatten die Nase gestrichen voll von Tod, Hunger und Elend. Sie wollten den verhassten Kaiser stürzen, demokratische Verhältnisse ohne Vorherrschaft von Adel und Bürgertum, ohne preussischen Drill und Kadavergehorsam einrichten. In der deutschen Novemberrevolution wollten viele die sozialistische Revolution, und Adel und Bürgertum mussten zu Beginn der Revolution tatenlos zusehen: Die Soldaten, die das Massengemetzel 1914 bis 1918 überlebt hatten, waren für die Elite nicht mehr verfügbar, der Kaiser brachte keine Truppe zusammen, um die «Novemberverbrecher» zusammenzuschiessen.


Hunger und Mietwucher

Die schweizerischen ArbeiterInnen waren unbewaffnet, hatten nicht derartig traumatische Kriegserlebnisse und suchten keine bewaffnete Auseinandersetzung um die Macht. Sie hatten nicht die Wut und den Willen zur Revolution. Die Armee war nicht am Boden zerstört, sondern hatte die Kriegsjahre abgesehen von der Grippeepidemie am Schluss mit relativ guter Versorgung, langweiligem Herumsitzen an der Grenze, Kriegsübungen und Kompanieabenden überlebt. Die proletarische Bevölkerung aber spürte den Mangel am meisten. Erwerbsersatz für Soldaten gab es nicht, die Lebensmittelversorgung war schlecht, die Wohnungsverhältnisse waren miserabel und äusserst eng, dafür die Mieten unverschämt und die Gewinne der SpekulantInnen üppig. Die hohen Offiziere wollten ihre Macht zeigen, die grossbürgerliche Vorherrschaft in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erhalten und Herrenmenschentum, Drill und Disziplin nach preussischem Vorbild in Armee und Gesellschaft bewahren, bevor die Armee nach Kriegsende wieder in den Kasernen verschwinden musste.


Sozialismus im Liberalismus

Die Kader der Gewerkschaften und SozialdemokratInnen in der Schweiz drückten sich viel stärker als unsere heutigen marxistisch aus und wollten überfällige Reformen auf liberaldemokratischem Weg und auch mal mit Streiks erreichen, aber ohne Revolution zum Sozialismus kommen. Auch in Deutschland sprachen die Parteikader Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann mit marxistischem Vokabular und hatten den Horror vor einer Revolution, schlugen sich auf die Seite von Bürgertum und Reichswehr, liessen Massenstreiks und Räterepubliken brutal niederschlagen. Auch sie stellten sich naiv vor, den Sozialismus durch Reformen innerhalb von Kapitalismus und Liberalismus zusammen mit dem Bürgertum langsam und friedlich zu entwickeln. Ebert wollte nicht einmal den Kaiser stürzen, Scheidemann rief hinter seinem Rücken eiligst die bürgerliche Republik aus, um Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts sozialistische Republik zu verhindern.


Lenin und Grimm

In der Schweiz waren die SozialdemokratInnen an den Burgfrieden gebunden und arbeiteten in den Parlamenten konstruktiv mit, sie stellten (noch) keine Regierungsmitglieder. Es gab hier nur wenige revolutionäre SozialistInnen wie Fritz Platten, der Lenin 1917 nach der Februarrevolution nach Russland begleitete. SP-Nationalrat Robert Grimm, Organisator der internationalen sozialistischen Kongresse von Zimmerwald (1915) und Kiental (1916), später Präsident des den landesweiten Streik organisierenden Oltener Komitees und noch später bernischer Regierungsrat, betonte gegenüber Lenin die besonderen Verhältnisse in der Schweiz. Lenin, seit 1914 erneut in der Schweiz im Exil, verlangte von Grimm vergeblich die bewaffnete revolutionäre Erhebung. Das politische, wirtschaftliche und soziale Ziel der beiden war dasselbe, über den Weg dahin waren sie sich nicht einig.

Die Linke in der Schweiz wollte den bürgerlichen Staat erneuern, Stück für Stück sozialer machen und darin Verantwortung übernehmen, das Ancien Régime der Freisinnigen und Katholisch-Konservativen beenden. Dies gelang mehr oder weniger, doch das Endziel Sozialismus rückte mit der Einbindung von Sozialdemokratie und Gewerkschaften in Arbeitsfrieden, Gesamtarbeitsverträge und Landesverteidigung in weite Ferne. In der Schweiz wurden viele Streikforderungen in den folgenden Jahrzehnten umgesetzt. In Deutschland war die Sozialdemokratie treibende Kraft für die Schaffung einer modernen bürgerlichen Republik (die sie noch heute verteidigt), die Bürgerlichen und ihre UnternehmerInnen waren zufrieden und entzückt.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38 - 74. Jahrgang - 15. November 2018, S. 10
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. November 2018

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