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VORWÄRTS/1457: Nicht im Interesse der Arbeiter*innen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 11/12 vom 4. April 2019

Nicht im Interesse der Arbeiter*innen

von Siro Torresan


Der Rahmenvertrag der Schweiz mit der EU ist in aller Munde. Für die einen ist er der Untergang der Eidgenossenschaft, für andere der einzige mögliche Weg, um nicht unter zu gehen. Doch mehr geht es darum, die Herrschaft der neoliberalen Politik durch den bilateralen Weg abzusichern.


Problematisch an der Diskussion ist, dass nur über den Rahmen debattiert wird, aber nicht über das, was sich innerhalb dieses Rahmens befindet, in etwa so, als würde man beim Kauf einer Weinflasche mehr über die Flasche als über den Wein reden. Doch: "Die Regeln des Rahmenvertrags ändern faktisch die fünf bestehenden Abkommen", wird die Europarechtsprofessorin Christa Tobler von der Universität Basel in der Neu Zürcher Zeitung vom 19. März zitiert. Sie fügt hinzu: "Deshalb ist es logisch, dass im Fall einer Kündigung des Rahmenvertrags die Guillotine auch die bestehenden Abkommen trifft." Das sind die Abkommen zu Personenfreizügigkeit, Landverkehr und Luftverkehr, Landwirtschaft sowie die gegenseitige Anerkennung von Produktzertifizierungen. Diese vier Abkommen bilden das so genannte "Bilaterale Abkommen 1". Welcher Sinn und Zweck verfolgen diese Abkommen mit der EU? Mit dieser Frage muss man sich beschäftigen, will man nicht an der Oberfläche der Diskussion rund um das Rahmenabkommen bleiben.


Die Guillotine-Klausel

Nach dem Nein des Schweizer Volks zum EWR-Beitritt im Jahr 1992 hat der Bundesrat den Weg der bilateralen Abkommen eingeschlagen. "Die Abkommen führen dazu, dass in der Schweiz EU-Recht auf der Grundlage der freien Marktwirtschaft und der uneingeschränkten Konkurrenz angewendet wird", hält die Partei der Arbeit der Schweiz (PdAS) in ihrer Resolution "Für neue Abkommen mit den europäischen Staaten" fest, die am Kongress im November 2017 in Neuenburg verabschiedet wurde.

In der Tat. Die bilateralen Verträge zielen vor allem darauf hin, die Schweiz in den europäischen Markt zu integrieren. Das heisst, dass Konkurrenz geschaffen wird zwischen schweizerischen und europäischen Unternehmen sowie zwischen schweizerischen und europäischen Arbeiter*innen. Wenig bekannt ist auch folgende Tatsache: Unter den genannten Abkommen muss nur jenes über die Personenfreizügigkeit zwingend zur Abstimmung vorgelegt werden und zwar dann, wenn es auf ein weiteres Land ausgedehnt wird. Weiter ist es so wie das Rahmenabkommen mit einer Guillotine-Klausel vorgesehen: Wird das Abkommen über die Personenfreizügigkeit hinfällig, fallen auch die drei weiteren ins Wasser. Aus diesem Grund konzentriert sich die öffentliche Debatte praktisch nur darauf.


Konflikte unter den Armen schüren

Die BefürworterInnen des "bilateralen Wegs" drohen konstant damit, dass die Infragestellung der Personenfreizügigkeit die Zerstörung der Schweizer Wirtschaft bedeuten würde. Natürlich halten die Verteidiger*innen der bilateralen Verträge nie fest, dass die Inhalte dieser Abkommen neoliberal sind und daher nicht den Interessen der Arbeiter*innen in der Schweiz und in Europa entsprechen.

Das Abkommen über die Personenfreizügigkeit führte zu einer restriktiven Migrationspolitik, basierend auf Kontingenten und einer Liberalisierung des Arbeitsmarktes. Die Missstände bei den Aufenthaltsbewilligungen bestehen nach wie vor und die Arbeitsbedingungen wurden nicht verbessert, sondern verschlechtert. Die verbreitete Konkurrenz zwischen den europäischen Arbeiter*innen hat zu einem starken Druck auf die Löhne geführt. So hat die Schweizer Bourgeoisie dank dem Abkommen die Lohnkosten reduzieren können, um im Streben nach dem höchstmöglichen Profit konkurrenzfähig zu bleiben.

Einige multinationale Betriebe, so zum Beispiel das weltweite Verteilzentrum von Gucci im Tessin, zahlen ihren Arbeiter*innen Löhne von 1.760 Franken im Monat. Die regierende Schweizer Bourgeoisie ist immer bereit, die Grenzgänger*innen und Ausländer*innen schlecht zu reden, um Konflikte unter den Armen zu schüren, profitiert aber von der Liberalisierung der Aufenthaltsbewilligungen in hohem Masse. Diese aktiv betriebene Liberalisierung ist einer der Hauptgründe, dass die Mitte-Rechts Parteien und economiesuisse, der Dachverband der Schweizer Wirtschaft, so vehemente Verfechter der Personenfreizügigkeit sind.


Käsemarkt komplett liberalisiert

Mit dem Abkommen über "Technische Handelshemmnisse" wurde der gegenseitige Marktzugang vereinfacht, indem die technischen Regelungen für 20 Produktionssektoren harmonisiert wurden. Es handelt sich ganz einfach um ein Freihandelsabkommen, von dem jene Schweizer Exportindustrie, die auf dem europäischen Markt bestehen kann (Chemie, Pharma, Elektroindustrie), am meisten profitiert. Das Prinzip dieses Abkommen besteht darin, dass die Qualität der Ware nicht durch das Interesse der Allgemeinheit definiert werden soll, sondern mit den Interessen der Partner der Schweizer Wirtschaft kompatibel sein muss. Dieselbe Logik findet man auch beim "Abkommen über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen", welches die Zollrechte und die nicht tarifäre Handelshemmnisse für eine ganze Reihe landwirtschaftlicher Produkte wie Käse, Obst und GemÜse, Gartenbauerzeugnisse und Fleisch aufgehoben hat. So wurde beispielsweise der Käsemarkt komplett liberalisiert.

Das Abkommen über bestimmte Aspekte des öffentlichen Beschaffungswesens liberalisiert diesen Bereich, der komplett der Marktlogik unterworfen wird. Die Abkommen über den Strassen- und Schienen- sowie über den Luftverkehr schaffen im schweizerischen und europäischen Transportmarkt gegenseitige Konkurrenz. Eine wesentliche Folge des Abkommens über den Strassenverkehr ist, dass täglich 20.000 Lastwagen (inklusive die 40-Tönner) die Schweizer Grenzen überqueren. Die vertraglichen Regelungen verunmöglichen eine selbstständige, ökologischere Politik der Schweiz. Selbst falls sie es wollten, könnten die eidgenössischen Räte keine Grundsatzentscheide fällen, wie zum Beispiel den Schienenverkehr dem Strassenverkehr vorziehen oder strengere Regelungen für Luftverkehrsgesellschaften zu erlassen.


Bildung der Marktlogik unterworfen

Das Abkommen über die wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit ermöglicht die gegenseitige Mitwirkung von Universitäten, Forschungsanstalten, Unternehmen und Einzelpersonen im Rahmen von Forschungsprojekten und -programmen. Das Abkommen regelt unter anderem die Rechte und Pflichten bezüglich des intellektuellen Eigentums sowie die Finanzierung der Zusammenarbeit zwischen den schweizerischen und europäischen Forschenden. Es handelt sich hier nur um die sichtbare Spitze des Eisbergs des neoliberalen Abgleitens der höheren Bildung und Forschung. Der Logik aller Verträge folgend werden mit diesem Abkommen die akademischen Institutionen in Konkurrenz gesetzt und die Schweiz soll dabei integriert werden. Dies geschieht mit desaströsen Konsequenzen für die Studierenden und die Forschung selbst: das kontinuierliche Fallenlassen der "nicht rentablen" Bildungszweige, die Stärkung von "Kompetenzzentren" sowie die Jagd auf neue Patente anstelle von Grundlagenforschung. Dies führt zu einer Verarmung der Bildungs- und Forschungsvielfalt. Die PdAS stellt sich bewusst gegen eine solche neoliberale Logik: "Wir verteidigen von den Primarschulstufen bis hin zu den Hochschulen eine qualitativ hochstehende, öffentliche, demokratische und kostenlose Bildung, welche auf das Wissen, die Kultur und das Wohlergehen der Gesellschaft ausgerichtet ist", hält die Partei in der Resolution fest. Sie fügt hinzu: "Diese Art von Bildung muss von jeglicher Profit- oder Marktlogik befreit werden. Die Forschung muss im Dienste der Gesellschaft stehen und nicht den Profitforderungen der Monopole dienen."


Keinen Spielraum offen

Das ganze EU-Gebilde, in das die Schweiz durch die bilateralen Verträge eingebunden ist, basiert auf freier Konkurrenz und Freihandel, auf den Neoliberalismus. Es lässt keine Hoffnung auf eine Entwicklung hin zu einem "sozialen Europa" zu. "In diesen Zeiten der Deregulierung und der Allmacht der Märkte, will die PdAS Trägerin eines klar anderen Programms sein", schreibt die Partei in ihrer Resolution. Eines Programms, das Regelungen für die Produktion und den Handel festhält, um Arbeiter*innen und Umwelt zu schützen. Die Schlüsselsektoren der Wirtschaft (Banken, Transportwesen, Energie, öffentlicher Verkehr, Grundbesitz) sind zu vergesellschaften. Sie sollen im Interesse aller verwaltet werden und nicht im Interesse einer Minderheit von Aktionär*innen, so wie es heute der Fall ist. (Ob diese aus der Schweiz oder aus Europa sind, spielt keine wesentliche Rolle.)

Die Schweiz befindet sich nicht ausserhalb der Welt. Abkommen mit unseren Nachbarn sind notwendig. Aber solange Freihandelsabkommen uns an die EU binden und die Volkswirtschaften in Konkurrenz setzen, sind alle progressiven Programme, so wie jenes der PdAS, aussichtslos: Die bilateralen Abkommen in ihrer heutigen Form, lassen einem Parlament keinen Spielraum, das mit dem Neoliberalismus brechen und andere soziale und ökonomische Regeln beschliessen will. Mit Blick auf zehn Jahre des Versagens muss die Linke, muss die Arbeiter*innenbewegung Bilanz ziehen und klar festhalten, dass die Gesamtheit der bilateralen Verträge, einschliesslich der Personenfreizügigkeit, nur den ArbeitgeberInnen genutzt hat, während die ArbeiterInnen in der Schweiz und in der EU harte Angriffe hinnehmen mussten. Die Ablehnung des Rahmenvertrags bedeutet nicht, sich der SVP anzuschliessen. "Viel mehr heisst es, sich von der Politik der europäischen Rechten zu distanzieren und jene Klassenpolitik zu beenden, die von den Arbeitgeber*innen geführt wird, um ihre Profite zu erhöhen", unterstreicht die Partei zum Schluss der Resolution.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 11/12/2019 - 75. Jahrgang - 4. April 2019, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. April 2019

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