Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


VORWÄRTS/1482: "Wir Frauen* werden nie wieder in die Unterwerfung zurückkehren!"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 19/20 vom 14. Juni 2019

"Wir Frauen* werden nie wieder in die Unterwerfung zurückkehren!"

Interview mit Yirley Rodríguez Naranjo von Fabian Perlini


Die Venezolanerin Yirley Rodríguez Naranjo ist Aktivistin im Kollektiv Cimarrón, das sich für die bolivarische Revolution und für Feminismus einsetzt. Sie erzählt von den erkämpften Rechten für Mütter und Hausfrauen* sowie von der Zusammenarbeit mit vertriebenen Kolumbianer*innen und landlosen Brasilianer*innen im Kampf für ein würdevolles Leben.


vorwärts: Genossin Yirley, du bist Aktivistin im Kollektiv "Cimarrón" (sinngemäss "entlaufene Sklaven"). Bitte berichte uns von eurer Arbeit!

Yirley Rodríguez: Cimarrón ist eine soziale Organisation von Frauen* und Männern* hier in Venezuela. Sie entstand in der Hitze der bolivarischen Revolution aus den Kämpfen der Universitätsstudent*innen für den Aufbau eines kommunalen Staates. Wir bestehen aus jungen Menschen, die sich organisieren, um Kommunen und kommunale Räte aufzubauen um die Gemeinschaften politisch zu schulen und kulturelle Aktionen zu veranstalten. Entstanden sind wir 2005 in der Stadt Maracaibo im Grenzgebiet zu Kolumbien. Und dieses Territorium prägt den Kampf des Kollektivs: Die Belagerung durch das kolumbianische Paramilitär, die Vertreibung der kolumbianischen Bevölkerung durch den Krieg, die Konfrontation mit Guerillakriegen, all dies hat unsere Arbeit geprägt. Es entstand ein gemeinsamer Kampf der Geschwistervölker von Kolumbien und Venezuela. Und seit den 13 Jahren ihres Bestehens befruchtet die Basisarbeit von Cimarrón die kulturelle, die feministische sowie die sozialistische Revolution.


vorwärts: Diese enge Zusammenarbeit von Venezolaner*innen und Kolumbianer*innen ist eine höchst interessante Sache, denn in unseren grossen Medien werden die beiden Länder und ihre Völker meist als verfeindet dargestellt.

Yirley Rodríguez: Das Volk von Kolumbien und Venezuela teilt sich eine Vergangenheit, die geprägt ist von der Eroberung und Vertreibung indigener Völker. Diese haben ihren Widerstandskampf zusammengeschlossen und sich schliesslich der Befreiungsarmee von Simón Bolívar angeschlossen, um sich von der spanischen Kolonialmacht zu befreien. Heute teilen sich Venezuela und Kolumbien ein 2219 Kilometer langes, dünn besiedeltes Grenzland, dominiert von Konflikten um Land und Ressourcen sowie vom kolumbianischen Drogenhandel. In Kolumbien leiden die Bauern* und Bäuerinnen*, die Indigenen und die ursprünglich aus Afrika stammenden Familien unter der Vertreibung aus ihren Territorien. Verantwortet wird diese durch den Bergbau transnationaler Konzerne, die natürliche Ressourcen beschlagnahmen, sowie durch halbstaatliche Streitkräfte. Die Paramilitärs bestehen aus Armeen von mordenden Söldnern, die das Bauernvolk schikanieren, das um Land, gegen den Monsanto-Konzern und allgemein gegen den Kapitalismus kämpft. Heute leben 5,6 Millionen Kolumbianer*innen legal in Venezuela. Das sind 25 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die kolumbianischen Migrant*innen haben hier würdige Lebensbedingungen und Hoffnung gefunden, die es in Kolumbien nicht für sie gibt. Im Gegenzug bereichern sie die Kultur und den Handel.


vorwärts: Ihr habt euch auch mit landlosen Arbeiter*innen aus Brasilien zusammengeschlossen. Wie kam es dazu?

Yirley Rodríguez: Es ist wichtig, über die Grenzen hinaus grundlegende Arbeit und Ausbildung zu leisten. Durch die Erforschung der sozialen Bewegungen in unserem Amerika (Nuestramerica) lernten wir die MST Brasiliens kennen. MST steht für Movimiento de Trabajadores Rurales sin Tierra de Brasil, die Bewegung der landlosen Landarbeiter in Brasilien. Eine wichtige Rolle dabei spielte auch die internationalistische Brigade 'Apolonio de Carvalho'. De Carvalho war eine wichtige Figur in der brasilianischen Partei der Arbeit. Die nach ihm benannte internationalistische Brigade ist eine Gruppe von Aktivist*innen der MST, die sich der bolivarischen Revolution angeschlossen hat. Sie trägt bei zur politischen Bildung, zur Verbreitung agroökologischen Saatguts und zum Kampf gegen Kapitalismus, Patriarchat und Imperialismus. Gemeinsam haben wir die Idee einer Schule der marxistischen politischen Formation entworfen, in der die Methode des dialektischen historischen Materialismus entwickelt wird, wie sie vom brasilianischen Pädagogen Paulo Freire zur Bildung des Volks neu entworfen wurde. Eine Schule der sozialen Bewegungen für die sozialen Bewegungen. Seit 2018 ist es meine Aufgabe, die Schule zu koordinieren. Wir lassen diese Verantwortung rotieren, so dass verschiedene Aktivist*innen Methoden erlernen und Erfahrungen sammeln können.


vorwärts: Welche Bedeutung haben Frauen* generell in der aktuellen Situation in Venezuela?

Yirley Rodríguez: Im Zuge der bolivarischen Revolution haben sich die Arbeiterinnen* als historisches politisches Subjekt zu verstehen begonnen. Ihre Beteiligung an der Basis und an der Führung der bolivarischen Revolution erstarkte. In unserer Revolution geht es um soziale Gerechtigkeit für die unterdrückten und ausgebeuteten Menschen. Die Frauen* sehen darin die Möglichkeit für die endgültige Emanzipation von den Systemen der kapitalistischen, patriarchalischen, rassistischen und kolonialistischen Unterdrückung, in deren Zentrum stets Angriffe auf Frauen* stehen. So sehen sich die Frauen* als Chavista-Volk, d.h. als Aktivistinnen* und Kämpferinnen* zum Aufbau einer Volksmacht gegen die bürgerliche Macht und den Machismo. Organisiert sind wir in verschiedenen Strukturen: in der Partei, den Kommunalräten, den Gemeinden und in den Räten, die die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln organisiert, den CLAPS.


vorwärts: Wenn Du von 'der Partei' sprichst, meinst du die Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV), die von Maduro geleitet wird?

Yirley Rodríguez: Ja, die PSUV, die von Genosse Nicolás Maduro geleitet wird. Die PSUV hat eine eigene Vizepräsidentschaft für Frauen*. Diese ist beispielhaft für die politische Partizipation von und für Frauen*. Sie wurde geschaffen, um den feministischen Sozialismus zu stärken. Es ist die Pflicht dieses Gremiums, die Beteiligung von Frauen* an den Entscheidungen der Partei zu fördern, sodass sich die PSUV wie auch der Staat entpatriarchalisiert und die Befreiung der Frauen* aus aller Art von Unterdrückung vorangetrieben wird. Die Vizepräsidentschaft hat dafür in jedem Bundesland ein Frauen-Team.


vorwärts: Trotz ihrer Fortschrittlichkeit stehen die PSUV und die Maduro-Regierung stark unter Beschuss. Welchen Einfluss hat die US-Bedrohung auf die Bewegung der Frauen*?

Yirley Rodríguez: Die Chavista-Frauen* leisten entschieden Widerstand gegen die Einmischung der USA. Wir organisieren uns in Kampagnen zur Abwehr der unmoralischen Blockade, die die Vereinigten Staaten gegen Venezuela verhängt haben. Und wir haben uns versammelt, um die Grenze vor einer ausländischen Invasion zu schützen. Dies geschah zum Beispiel im Kampf der Brücken am 23. Februar 2019 an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze. Da haben Frauen* die Souveränität und die territoriale Integrität Venezuelas verteidigt. Sie stellten sich den kolumbianischen Paramilitärs und Polizist*innen zu Pferd entgegen. Diese wurden von Chavista-Frauen* konfrontiert, die bereit waren, ihr Leben zu geben zur Verteidigung der bereits erworbenen Rechte.


vorwärts: Was sind das für Rechte, die sich die Frauen* im Zuge der bolivarischen Revolution erkämpft haben?

Yirley Rodríguez: Ich spreche von Rechten wie der Anerkennung des wirtschaftlichen Werts der Hausarbeit, die Frauen* jahrhundertelang ohne Entschädigung, sondern als Sklavinnen* des Familienchefs, ausgeübt hatten. Artikel 88 der neuen Verfassung von Venezuela tritt dieser Ungerechtigkeit nun entgegen. Darin steht: Der Staat garantiert die Gleichstellung von Männern und Frauen bei der Ausübung des Rechts auf Arbeit. Der Staat erkennt die Hausarbeit als eine wirtschaftliche Tätigkeit an, die einen Mehrwert schafft und sozialen Wohlstand erzeugt. Hausfrauen haben nach dem Gesetz das Recht auf soziale Sicherheit. Hausfrauen* werden also ihr Ruhestand sowie alle anderen Rechte garantiert, die auch andere Arbeiter*innen haben. Viele weitere Errungenschaften gibt es im Arbeitsrecht. So haben Frauen heute das Recht auf vor- und nachgeburtliche Ruhepausen, die sie zu insgesamt 26 Wochen Mutterschaftsurlaub kombinieren können. Dazu kommt die Verkürzung der Arbeitstage mit dem gleichen Gehalt um Stillen zu können sowie Teilzeit-Urlaub während der ersten beiden Jahre nach der Geburt eines Kindes, sowohl für die Mutter als auch für den Vater. Diese Rechte wurden damals von Frauen* selbst entworfen: an den über 60 Versammlungen im Jahr 2011. Ich hatte damals die Ehre, daran teilnehmen zu können. Ich erinnere mich an ein Gespräch, in der eine Genossin sagte, dass die Chefs sich nun aufregen würden, weil wir nach der Geburt nur noch vier Stunden arbeiten. Darauf erinnerte eine andere Genossin daran, dass der Chef uns mehr braucht als wir ihn.


vorwärts: Das sind enorm frauenfreundliche und fortschrittliche Gesetze! Kannst du dieses 'Recht auf Stillen' genauer erklären?

Yirley Rodríguez: Im Jahr 2017 haben wir die Verabschiedung des Gesetzes zur Förderung, zum Schutz und zur Unterstützung des Stillens erreicht. Dies garantiert die Rechte berufstätiger Mütter während der Stillzeit, fördert ethische Praktiken bei der Vermarktung von Babynahrung und sieht Sanktionen bei Verstössen vor. Wir lehnen die Milchformeln der transnationalen Ernährungsunternehmen wie Nestlé ab, die unsere Kinder krank machen und Suchtverhalten erzeugen.


vorwärts: Die venezolanischen Frauen* von heute sind mutige Protagonistinnen der Geschichte, die nie wieder in die Unterwerfung zurückkehren werden. Stösst ihr damit auch auf Gegenwehr?

Yirley Rodríguez: Wir sind emanzipierte Frauen* und werden niemals zurückkehren in die Sklaverei der unvergüteten Hausarbeit. Einige Leute kritisieren, dass Frauen* für die Partei, im Gemeinderat, in der Arztpraxis oder für die Verteilung der CLAP-Pakete arbeiten. Durch ihren Einsatz würden sie ihre Familien vernachlässigen. Es wird uns auch nachgesagt, dass wir verliebt seien oder verrückt geworden sind und unsere Werte verloren hätten. Auf solche Kritik antworten wir damit, dass wir lediglich verrückt sind in unserer Liebe zum Volk. Und die verlorengegangenen 'Werte' sind lediglich jene des Rassismus, des Chauvinismus, des Gehorsams und der Unterwerfung. Andere Werte werden jedoch von uns gestärkt: der Respekt, die Solidarität und die sozialistische Arbeit.


vorwärts: Diese Werte teilen wir! Alles Gute für eure weiteren Kämpfe!

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 19/20 - 75. Jahrgang - 14. Juni 2019, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juli 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang