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VORWÄRTS/1490: "Lasst uns nicht alleine" - Mexiko zwischen Migrationskrise und Trump


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 21/22 vom 27. Juni 2019

"Lasst uns nicht alleine": Mexiko zwischen Migrationskrise und Trump

von Philipp Gerber


Mexiko atmete auf, als der mexikanische Außenminister Marcelo Ebrard Anfang Juni ein Migrationsabkommen mit den USA erreichte. Die Drohung Donald Trumps, Strafzölle auf alle Produkte aus dem Nachbarland zu verhängen, wurde in letzter Minute abgewendet. Doch bald darauf zeigte sich, wie hoch der politische Preis für die (vorläufige) Verhinderung eines durch die USA angedrohten Wirtschaftskriegs ist.


Als neu gewählter Präsident versprach Andrés Manuel López Obrador, kurz AMLO, den Migrant*innen einen völlig neuen, humanitären Umgang. Nach seinem Amtsantritt im Dezember 2018 erhielten alle Geflüchteten unbeschränkte humanitäre Aufnahme und ein temporäres Arbeitsvisum. So finden sich im staatlichen "Plan zur Betreuung der Migrantenkarawanen mit einer humanitaren Vision", veröffentlicht im Januar 2019, die Vorgaben, dass bei der Einreise "sofortige medizinische Betreuung, Ernährung, Flüssigkeitszufuhr und Information" erfolgten, sowie Registrierung der Ausländer*innen und ein Armband, das ihren legalen Status bestätigen soll.

Dieses Versprechen eines schlicht menschenrechtskonformen Umgangs mit Ein- und Durchreisenden scheint viele Menschen vor allem in Zentralamerika zum Aufbruch in Richtung USA motiviert zu haben. Mexiko war zuvor bekannt als Hölle für Migran*innen: Behördenwillkür, Überfälle, Entführungen waren Alltag. Frauen* nahmen die sogenannte "Anti-Mexiko"-Spritze, ein Verhütungsmittel, um bei einer Vergewaltigung zumindest nicht schwanger zu werden. Gemäss Zahlen von Amnesty International von 2015 waren 70 Prozent der 45.000 zentralamerikanischen Migrant*innen in Mexiko sexueller Gewalt ausgesetzt.


Militär gegen Migrant*innen

Doch, konnte der neue, linksgerichtete mexikanische Präsident seine Versprechen einhalten? Die Berichte der Geflüchteten und Besuche vor Ort sprechen von einer diametral entgegengesetzten Realität. Eine Beobachtungsmission von zwei Dutzend Nichtregierungsorganisationen besuchte die Südgrenze Ende Mai, kurz vor der Drohung von Trump, und erhob schwerste Vorwürfe. So kritisiert sie die Situation für tausende Geflohene aus Zentralamerika und der Karibik. Schon im Mai wurde auch das Militär gegen Migrant*innen eingesetzt, und die Organisationen unter der Ägide des grössten Menschenrechtsnetzwerks RedTDT konstantierten ein "militarisiertes Sicherheitsdispositiv gegen die Migrant*innen."

Zudem seien legitime Rechtsansprüche der Geflüchteten, wie beispielsweise Asylanträge, absichtlich in einem Ausmass bürokratisiert, das die Migrant*innen entmutigen soll. Auch sind gemäss der Mission die Verhaftungen brutaler geworden und "erlangen Formen von psychischer und physischer Folter". Besonders besorgniserregend sei das Auseinanderreissen von Familien bei Massenverhaftungen oder im Zuge von Rückführungen sowie die Verwahrung von Kindern in geschlossenen und überfüllten Lagern.


Überfüllte Lager

Dies waren die Zustände vor den neusten Drohungen Trumps, und seither verschärft sich die Politik gegen Migrant*innen weiter. So wurde am 5. Juni eine Karawane nach dem Grenzübertritt von der Militärpolizei verhaftet und die 400 Geflohenen in das geschlossene Migrant*innenlager Siglo XXI in Tapachula, Chiapas verfrachtet. Dieses ist das grösste Lager, gebaut für 960 Insassen, wo jedoch inzwischen weit über tausend Personen ausharren, auch nach einem Massenausbruch von 600 im April. Am selben Tag verhafteten Beamte zwei bekannte Aktivist*innen, die sich für die Migrant*innen einsetzten. Doch die beiden Verhafteten, Irineo Mujica, Direktor von "Pueblo Sin Fronteras" sowie der Ethnologiestudent Cristóbal Sánchez wurden Tage später vom Haftrichter wieder freigelassen, ihnen konnte nicht nachgewiesen werden, dass sie von den Migrant*innen für den Transport durch Mexiko Geld verlangten.


48 Beamte für 60.000 Anträge

Seit Beginn des Jahres haben sowohl die US-Behörden als auch Mexiko rekordverdächtig hohe Zahlen an abgewiesenen Migrant*innen registriert. Die USA wiesen nach eigenen Angaben bisher 492.302 Personen aus, alleine im Mai wurden 144.278 von der Grenzpatrouille verhaftet oder abgewiesen. Mexiko verhaftete im selben Monat 22.694 Migrant*innen und deportierte 15.654.

Auch die Asylverfahren nehmen in beiden Ländern Auch die Asylverfahren nehmen in beiden Ländern sprunghaft zu. Die mexikanische Asylbehörde Comar zählt gerade mal 48 Beamte in vier Büros und erwartet dieses Jahr mindestens 60.000 Anträge, mehr als doppelt soviele wie 2018, fünfmal soviele wie 2017. Mit dem Amtsantritt von AMLO gewärtigte die Comar erstmal eine Budgetkürzung. Nun soll das UN-Flüchtlingswerk UNHCR mit zusätzlichen Mitteln aushelfen.


Vergewaltigt und Lösegeld gefordert

Nach dem Deal mit Trump kommen noch rund 50.000 Geflüchteten hinzu, welche in den USA Asyl beantragten, nun aber über die Grenze abgeschoben werden, wo sie in Nordmexiko ihren Asylentscheid während Monaten oder Jahren abwarten müssen. Völlig ungeklärt ist, wo sie unterkommen und wie sie Schutz erhalten, denn die zentralamerikanischen Banden haben auch hier Ohren und Augen, und das mexikanische organisierte Verbrechen ist eine zusätzliche Gefahr.

Einen ersten Übergriff auf Asylbewerber*innen brachte nun El Diario de Chihuahua ans Licht: Eine Honduranerin, die in El Paso Asyl beantragte, wurde in deren Zwillingsstadt Ciudad Juárez auf mexikanischem Boden erst von Bundespolizisten entführt und nachher an eine Bande übergeben, die sie vergewaltigte und von ihrer Familie in den USA Lösegeld forderte. Nur durch glückliche Umstände wurde sie am 14. Juni von der Anti-Entführungseinheit der bundesstaatlichen Polizei befreit.


"Mexiko ist die Mauer für Trump"

Ein weiterer zentraler Teil des Abkommens mit Trump ist die massive Militarisierung der Südgrenze. 6.000 Nationalgardist*innen zur Migrationskontrolle versprachen die Mexikaner*innen den Gring@s, inzwischen beziehen über 10.000 in den südlichen Bundesstaaten Chiapas, Tabasco, Campeche, Oaxaca und Veracruz Stellung. Guatemala und Mexiko hatten seit jeher eine durchlässige, "grüne" Grenze, 956 Km lang. Nur an zwei, drei Orten kann man legal einreisen, mindestens 48 kleine Übertritte wurden bisher nicht überwacht. Unter der Brücke des grössten Übergangs bei Tapachula fahren die Boote mit Waren und Menschen hin und zurück, kontrollfrei.

Seit Mitte Juni werden nun die bloss mit einer Armbinde als vermeintlich zivile Nationalgardist*innen bezeichneten Soldat*innen auf die Flüchtenden angesetzt: "Die Trophäe für Trump: Wie Verbrecher*innen verhaftet die Guardia Nacional die Migranten an der Südgrenze, empört sich der Aktivist Ruben Figueroa. Die Gefahr von massiven Menschenrechtsverletzungen während dieser Jagd auf Migrant*innen ist eminent. Mitten in dieser Krise trat der Direktor der Migrationsbehörde, Tonatiuh Guillén López zurück. Er war ein ausgewiesener Experte auf dem Thema Migration. Präsident AMLO ersetzte ihn durch Francisco Gardufio Yafiez, bisher oberster Beamter des Strafvollzugs mit der Begründung des neuen Szenarios nach dem Abkommen mit den USA. Viele Beobachter*innen deuten dies als weiteres Zeichen, dass trotz der schönen Worte die harte Realität für die Flüchtenden weiter Richtung "Mexiko ist die Mauer für Trump" geht.


Vor einer Herkulesaufgabe

Momentan völlig in den Hintergrund geraten sind die Ursachen für die Fluchtbewegung. Aussenminister Marcelo Ebrard sprach diese nach den Verhandlungen in Washington klar an: Die politischen Krisen Zentralamerikas, die jahrelange Dürre als Folge des Klimawandels sowie der massiv gefallene Marktpreis des Kaffees, oft die einzige Einnahmequelle der Landbevölkerung. Auch der brutale Landraub durch transnationale Grossprojekte wie Palmölplantagen, Bergbau und Wasserkraft spielen eine Rolle.

Doch inzwischen machen sich auch Geflüchtete aus anderen Weltregionen auf den Weg in die USA: Mexiko registriert vermehrt Menschen aus Haiti, aus Kuba aber auch aus weit entfernten Ländern wie dem Kongo, Süd-Kamerun und Bangladesh. Die mexikanische Gesellschaft und Regierung stehen vor einer Herkulesaufgabe. Angesichts neuer Drohungen des unberechenbaren nördlichen Nachbarn und der inmensen Herausforderung im Land appellierte AMLO etwas hilflos an die internationale Öffentlichkeit mit den Worten: "Lasst uns nicht alleine".

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 21/22 - 75. Jahrgang - 27. Juni 2019, S. 9
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2019

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