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VORWÄRTS/1506: Dänemarks vergessener Kolonialismus


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 27/28 vom 6. September 2019

Dänemarks vergessener Kolonialismus

von Florian Sieber


Wegen Trumps Kaufangebot geriet Grönland in den Fokus der Öffentlichkeit. Was die Grönländer*innen dazu sagen, war kaum zu hören. Auch heute noch wird die Bevölkerung an den Rand gedrängt: Suizide, Alkoholismus und wirtschaftliche Perspektivlosigkeit prägen die Insel. Zu den historischen Hintergründen des dänischen Kolonialismus.


Als Donald Trump laut darüber nachdachte, Grönland von Dänemark zu kaufen, war das für die internationale Presse Grund für Schlagzeilen. Zu Wort kamen dort dann vor allem die dänische Premierministerin Mette Frederiksen, die das Angebot ablehnte und Trump selbst. Was für viele wie ein schlechter Scherz oder einfach eine neuer geistiger Hüftschuss des US-Präsidenten klang, ist dabei Ausdruck handfester ökonomischer Interessen: Es wird damit gerechnet, dass die globale Erwärmung riesige Vorräte wertvoller Ressourcen unter dem grönländischen Inlandeis freilegen wird. Dazu kommt die Bedeutung der Insel für die nordatlantischen Schifffahrtsrouten. Und auch geopolitische Interessen spielen eine Rolle. Die USA betreibt mit der Thule-Airbase in Nordgrönland seit dem Kalten Krieg einen Militärstützpunkt. Weniger Nachhall fanden die Stimmen der etwa 70000 Inuit, die in Grönland und auf dem dänischen Festland leben. Ein Umstand, der die beinahe dreihundertjährige Kolonialgeschichte der grössten Insel der Welt recht gut illustriert.


Im Zeitalter der Kolonien

Es wird weder dem Pfarrer selber noch den Inuit rund um die heutige Hauptstadt Nuuk klar gewesen sein, was für ein Ausmass dieses Ereignis haben würde, als der norwegisch-dänische Pfarrer Hans Egede am 3. Juli 1721 im Auftrag des dänischen Königs in Grönland an Land ging. Egede sollte die Einheimischen Inuit konvertieren und damit das Fundament für eine Kolonialisierung des Landes legen. Als Grönland Teil des kleinen dänischen Kolonialreichs wurde, tobte ein globaler Kampf zwischen den europäischen Grossmächten um die einträglichsten Landstriche. Es hatte sich bereits ein globales Handelsnetz etabliert, dass die Kapitalisten auf der Suche nach neuen Märkten, neuen Ressourcen, neuen Profiten noch weiter um den Erdball trieb. Und die Produkte, die aus den Kolonien nach Europa strömten, befeuerten die Entwicklung von industriellen Verarbeitungsbetrieben. Fabriken entstanden, Städte wuchsen und mit dem urbanen Bürgertum strebte eine aufsteigende Klasse zur Macht. Im Kapital beschreibt Marx diese Prozesse im Abschnitt zu ursprünglicher Akkumulation im Detail.


Elend und Armut

Grönland war ein Land in der Peripherie dieser Entwicklung des Kapitalismus. Dennoch kamen mit den Missionaren auch die dänischen Händler. Sie öffneten den Handel für Kopenhagen und verwehrten Kaufleuten aus anderen Staaten den Zugang zum Markt. Mit der Handelsgesellschaft Den Kongelige Grønlandske Handel (KGH) erlangte der dänische Staat 1774 das Handelsmonopol auf Grönland, wobei die Handelskompanie auch die zivile Verwaltung übernahm. Mit ihrem Vorgehen handelte Dänemark gleich wie die Niederlande in Indonesien oder die Briten in Indien. Während Schusswaffen, Stahl und Kohle ins Land gebracht wurden, kaufte die KGH den Inuitjägern Felle und Blubber von Walen und Robben ab. Tran, der aus dem Blubber ausgekocht wurde, stellte damals den am meisten verbreiteten Flüssigbrennstoff dar und hatte als Lampenöl eine steigende Nachfrage.


Kollision von Welten

Mit europäischem Handel und der Ankunft europäischer Siedler begann sich auch das Leben der ansässigen grönländischen Bevölkerung zu verändern. Zwar hatte man zu Beginn den Kontakt zwischen dänischen Siedler*innen und den grönländischen Inuit noch mit Verhaltensrichtlinien reguliert, um zu verhindern, dass die Inuit durch die Übernahme einer europäischeren Lebensweise ihre Fähigkeiten als Jäger verlieren, was wiederum Verluste für die KGH bedeutet hätte. Doch mit der Etablierung der Dänen auf Grönland hielten in Nuuk Elend und Armut Einzug. Mitte des 19. Jahrhunderts berichtet der Geologe Hinrich Johannes Rink, der für Untersuchungen des Inlandeises auf Grönland war, die Mehrheit der Inuit hätten ihre Identität unter dänischem Einfluss verloren.


Deckmantel der Wohltätigkeit

Eine langsame Dekolonialisierung begann in Grönland mit der Auflösung der Monopolrechte der KGH im Jahr 1950. Doch die Behandlung Grönlands in den Blütezeiten des nordischen Modells, das gerne als mustergültiges Beispiel sozialdemokratischer Politik präsentiert wird, blieb erschütternd. Da die Seehund- und Dorschbestände (durch das fast 200-jährige Monopol der KGH waren immer noch viele von Fischerei und Jagd abhängig) zurückgingen, plante man Grönland nach dänischem Vorbild zu urbanisieren.

Es kam zu Zwangsumsiedlungen. Die kleinen Küstenorte, die von der dänischen Regierung als "ungesund, unmodern und unprofitabel" angesehen wurden, wurden geräumt und die Bewohner in grösseren Siedlungen konzentriert. Besonders bezeichnend ist für diesen Prozess der 1966 errichtete Blok P. Der Wohnkomplex mit 320 Wohnungen soll zeitweise ein Prozent der gesamten grönländischen Wohnbevölkerung beherbergt haben. Galt aber, da er keinerlei Rücksicht auf die Bedürfnisse der Inuit nahm, bei der Bevölkerung als sehr unbeliebt. Die Wohnungen waren zu klein, als das Bewohner*innen ihre Ausrüstung vernünftig hätten lagern können. Der 200 Meter lange Komplex wurde Touristen als "so deprimierend, dass er schon eine Sehenswürdigkeit darstellt" präsentiert und fasst die Art und Weise, wie Dänemark mit Grönland umgeht, recht gut zusammen: Unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit werden Projekte gestartet, die vor allem Profitabilität steigern sollen, auf die einheimische Bevölkerung und ihre Bedürfnisse aber keinerlei Rücksicht nehmen.


Autonomiestatus, ausser...

Bis heute ist die eigene Kolonialgeschichte in Dänemark so gut wie nicht aufgearbeitet. Und wie auch bei anderen kolonial unterdrückten indigenen Völkern sind bei den Inuit die tragischen Auswirkungen des dänischen Imperialismus bis heute zu sehen. So ist die Suizidrate die höchste der Welt: doppelt so hoch wie beim Zweitplatzierten Litauen. Alkoholismus und Missbrauch sind weit verbreitete Probleme. 16,2 Prozent der Bevölkerung sind armutsbetroffen - im restlichen Dänemark sind es 5,2 Prozent. 1979 wurde ein erstes Autonomiereferendum angenommen. 2008 ein weiteres. Seither regiert sich Grönland selbst. Ausser eben bei Fragen, die die aussenpolitischen Beziehungen oder die Verteidigung des Landes betreffen. Aus diesem Grund war es an der dänischen Premierministerin, Trumps Angebot auszuschlagen, und nicht an jenen, die von einem Kauf am stärksten betroffen gewesen wären: der grönländischen Bevölkerung.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 27/28 - 75. Jahrgang - 6. September 2019, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2019

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