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VORWÄRTS/1509: Linke Räume sind nicht immer frei von Diskriminierung


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.29/30 vom 20. September 2019

Linke Räume sind nicht immer frei von Diskriminierung

von Sabine Hunziker


Um Kämpfe gegen Sexismus in der kapitalistischen Gesellschaft im Frauen*streikjahr führen zu können, müssen Aktivist*innen sich zuerst mit dem Sexismus in den eigenen Reihen auseinandersetzen. Es geht hier weniger um Anklage, sondern darum, gemeinsam Handlungsstrategie zu entwerfen.


Immer wieder wird es erwähnt: Sexismus und Diskriminierung findet auch in den eigenen Reihen in der linken Szene statt. Gerade wenn sich jetzt 2019 Gruppen, Organisationen oder Netzwerke treffen, um Aktionen für das Jahr vorzubereiten, ist eine Sensibilisierung dazu hilfreich. Es gibt einen offenen Sexismus, der in Form von Beleidigungen oder körperlicher Übergriffe auftritt. Schwieriger ist es, mit dem versteckten Sexismus richtig umzugehen. Einige (Cis-)Männer zeigen in politischen Gruppen bestimmte Verhaltensmuster und sie anerkennen - bewusst oder unbewusst - Frau* und Mann* nicht als gleichwertiges Gegenüber an. Nicht selten trauen sich Frauen* und Männer* nicht, Probleme und Fehler der Organisationen/Gruppen offen anzusprechen. Nur permanente Bewusstseinsarbeit kann Verbesserung bringen. Doch was bedeutet das?


Solidarisch sein, heisst solidarisch handeln

Das Kollektiv Lieber Glitzer machte eine hilfreiche Broschüre, um sexistische Verhaltensweisen in Gruppen erkennen und Situationen verändern zu können. Die Idee dahinter ist, es nicht beim "satt haben" zu belassen, sondern zu überlegen, was konkret gemacht werden kann, um Macht- und Mackerstrukturen in uns zu verändern. Im Rahmen von Workshops mit Aktivist*innen wurden im Vorfeld Probleme diskutiert und Lösungsansätze festgehalten. Aus dieser Zeit ist eine Sammlung von Ideen und Handlungsstrategien in Form der Broschüre "Was, Sexismus ir Szenä?!" entstanden, die als Baukasten für mögliche Alternativen gebraucht werden kann. Der vorwärts sprach mit dem Kollektiv Lieber Glitzer darüber:


vorwärts: Welche Reaktionen bekamt ihr schon bezüglich der Broschüre? Wie wurde sie bei der Arbeit in Kollektiven eingesetzt?

Kollektiv Lieber Glitzer: Unsere Erfahrung ist, dass die Thematik viele Personen, die sich in linken Kreisen bewegen, beschäftigt. Insbesondere dem Bedürfnis nach konkreten Handlungsmöglichkeiten konnte die Broschüre nachkommen. Wir erhielten Lob, aber auch Kritik und Anregungen. Dies motiviert uns zum Weiterdenken und es ergaben sich spannende Diskussionen. Wir wurden von einigen Personen und Gruppen direkt mit der Bitte kontaktiert, ihnen die Broschüren zu schicken. Einige Kollektive lasen die Broschüre zusammen und nutzten sie als Basis für Reflexionen zum Thema. Zudem kriegten wir mit, dass Workshops mit der Hilfe der Broschüre in unterschiedlichen Städten stattgefunden hatten.


vorwärts: Einer eurer Kernsätze heisst: Solidarisch sein, heisst solidarisch handeln. Welcher Gedanke steckt hinter diesem Satz und warum habt ihr ihn gewählt?

Kollektiv Lieber Glitzer: Viele Menschen und Gruppen in der Linken vertreten Grundsätze, die wir voll und ganz teilen. Bekanntlich ist das Formulieren von Grundsätzen aber jeweils leichter, als diese umzusetzen. Da nehmen wir uns auch gar nicht aus. Oft wird - mehr oder weniger bewusst - anders gelebt, als mensch dies eigentlich anstreben würde. Uns ist es wichtig, dass mensch sich immer wieder damit auseinandersetzt, nach welchen Grundsätzen Menschen leben und handeln möchten, und ob dies mit den eigenen tatsächlichen Handlungen übereinstimmt oder eben nicht. Mit diesem Kernsatz sprechen wir diese Thematik an. Wir machen klar, dass es nicht ausreicht, sich nur mit einem Thema zu beschäftigen (zum Beispiel Rassismus, Sexismus), es muss eine Veränderung im eigenen Handeln und im Umgang miteinander stattfinden. Wir wollen das Nachdenken und "sich mit sich selbst auseinandersetzen" nicht klein reden, sind aber klar der Meinung, dass der Prozess dort nicht endet, sondern dass das erst der erste Schritt ist.


vorwärts: Ihr trugt eine grosse Sammlung von Situationen und hilfreichen Handlungsmöglichkeiten zusammen. Wie seid ihr da genau vorgegangen, um so eine tolle Sammlung zu erstellen?

Kollektiv Lieber Glitzer: Dies war ein langer Prozess. Wir haben Workshops und Diskussionen mit verschiedenen Menschen, die politisch aktiv sind, durchgeführt. Somit ist die Broschüre auch nicht einfach ein Produkt von Lieber Glitzer. Sie schliesst die Erfahrungen und Strategien von diversen Menschen ein, denen wir sehr dankbar sind für ihre Beteiligung. Nur so konnte der vielfältige Inhalt der Broschüre zusammengetragen werden.


vorwärts: Ihr skizziert den Begriff Mackerkultur in der Broschüre als eine Kultur, bei der sich "Männer" übertrieben männlich darstellen. Kann diese Kultur auch von Frauen*/FTIQ* getragen werden? Wenn ja, in welcher Form, oder welche Dominanz wird hier aufgebaut?

Kollektiv Lieber Glitzer: Absolut. Wir sehen Mackertum als ein nicht auf Männer* beschränktes Phänomen an. Solches Verhalten kann von allen Menschen gezeigt und getragen werden. Oft handelt es sich um über Jahre eingespielte Muster, die unbewusst gelebt und mitgetragen werden. Dies anzusprechen und sich für eine Veränderung einzusetzen, erfordert Mut und Energie. Hindernisse dabei können die Angst sein, sich bei anderen unbeliebt zu machen oder innerhalb der Gruppe Spaltungen zu provozieren. Deshalb ist es wichtig, dass eine offene "Selbstkritikkultur" vorherrscht. Dominanz hat viele Gesichter. Ein oft gehörtes und erlebtes Beispiel ist, dass die Redezeit und Häufigkeit von Wortmeldungen von verschiedenen Menschen in einer Gruppe starke Unterschiede aufweist. Wenige Personen dominieren die Diskussion. Weiter kann es sein, dass Menschen auf eine Art und mit bestimmten Begriffen sprechen, mit der sie (unbewusst) signalisieren, dass sie schon lange "in der Szene" sind und sich sehr gut auskennen. Diese Wissenshierarchie, oder die Angst davor, etwas Falsches zu sagen, kann andere hemmen, sich einzubringen. Weitere Beispiele für dominantes Verhalten sind in der Broschüre nachzulesen. Wie gesagt können diese nicht nur bei Männern* vorkommen. Jedoch machen wir die Erfahrung - auch aus den Erzählungen der Menschen, die zur Broschüre beigetragen haben -, dass solche Verhaltensweisen häufiger bei Cis-Männern beobachtet werden. Unsere Sozialisation (aufwachsen als "Mädchen" oder "Junge") und die Art und Weise, wie aufgrund der Zuordnung von Menschen zu einem bestimmten Geschlecht in der Gesellschaft mit uns umgegangen wird, prägen unsere Verhaltensweisen.


vorwärts: Bei den Sitzungen rund um das Frauen*streikjahr wird oft eine Pronomenrunde gemacht. Ein Erfolg! Auch auf den Flugblättern finden wir Gender-Sternchen. Was wünscht ihr euch - aus eurer Sicht - was 2019 bezüglich Antisexismus erreicht werden soll?

Kollektiv Lieber Glitzer: Da ist uns natürlich das solidarische Handeln wichtig. Es geht darum, dass (Selbst-)Kritik und (Selbst-)Reflexion nicht alleine auf der sprachlichen Ebene bleiben, sondern Konsequenzen im Handeln nach sich ziehen muss. Bedingung dafür ist die Bereitschaft, sich selbst zu verändern. Dies kann bedeuten, Privilegien zu nutzen, um etwas zu riskieren, was für andere nicht möglich ist. Auch ein grosses Anliegen ist es uns, die verschiedenen Kämpfe (gegen Sexismus, Patriarchat, Rassismus, Kapitalismus etc.), die alle wichtig sind und dringend geführt werden müssen, zu verbinden. Durch solidarisches Handeln und gegenseitige Unterstützung können wir stärker werden. Verschiedene Anliegen sollen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Spaltungen innerhalb der Linken gilt es unbedingt zu vermeiden. Um dies zu erreichen, müssen wir uns gegenseitig unterstützen und dürfen Diskriminierung innerhalb unserer Kollektive nicht tolerieren. Nur so können wir die Welt verändern!

Die Broschüre ist hier zu finden:
lieberglitzerblog.wordpress.com/

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 29/30 - 75. Jahrgang - 20. September 2019, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Oktober 2019

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