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VORWÄRTS/1581: Datenschutz in der Krise


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 13/14 vom 24. April 2020

Datenschutz in der Krise


REDAKTION. Amnesty International, die Digitale Gesellschaft und die Stiftung für Konsumentenschutz fordern, dass die Verhältnismässigkeit bei allen Eingriffen in die Grundrechte, wie die Beschränkung der Bewegungsfreiheit oder Überwachungsmassnahmen gewahrt bleibt. Weil dieser rechtsstaatliche Grundsatz auch in Krisenzeiten gelten muss.


Bundesrat und Kantonsregierungen können im derzeitigen Ausnahmezustand jede Massnahme beschliessen, die sie zur Eindämmung des Coronavirus für notwendig erachten. Eine Massnahme hat zu unterbleiben, falls ein geeigneter, milderer Eingriff möglich ist, und sie muss zudem transparent sein. Die ergriffenen Massnahmen müssen auf die Dauer der Krise beschränkt sein.

Im Kampf gegen das Coronavirus verfügte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) gegenüber Swisscom die Herausgabe von Daten zu Menschenansammlungen und Personenflüssen. Das BAG erklärte zur Massnahme, man erhalte von Swisscom keine Standortdaten, sondern "lediglich Analysen und Visualisierungen". Die Daten seien aggregiert beziehungsweise anonymisiert, so dass keine Personendaten vorliegen würden. Nachdem die Digitale Gesellschaft ein Verfahren gemäss Öffentlichkeitsgesetz (BGÖ) gegen das BAG eingeleitet hatte und auf Druck des Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (EDÖB) stellten Swisscom und das BAG nach anfänglicher Weigerung die Informationen zur Verfügung.


Contact Tracing

Grundrechtlich höchst problematisch wäre die Verwendung von Vorratsdaten aus der Handy-Massenüberwachung der gesamten Bevölkerung in der Schweiz für das Contact Tracing, wie dies von gewissen Kreisen gefordert wird. Die Datensammlung, mit der sechs Monate rückwirkend nachvollzogen werden kann, wer wann wo mit wem und wie lange kommuniziert hat, stellt einen massiven Eingriff in die Privatsphäre dar. Dennoch sind diese Daten zu ungenau, um physische Kontakte und eine mögliche Infektionskette des Coronavirus nachweisen zu können. Eine Funkzelle umfasst in städtischen Gebieten einige hundert Meter, kann auf dem Land aber auch mehrere Kilometer gross sein. Falls sich alle Personen in Quarantäne begeben müssten, die sich in den Tagen vor dem Bekanntwerden einer Ansteckung, in derselben Funkzelle befunden haben wie die infizierte Person, wäre das Land sofort lahmgelegt.

Für das Feststellen von möglichen Infektionsketten könnten hingegen Contact Tracing-Apps hilfreich sein. Dabei registriert das eigene Handy alle sich in der Nähe befindlichen Mobiltelefone über die Bluetooth-Funktion. Die Reichweite ist auf einige Meter beschränkt. Für eine datenschutzkonforme Contact-Tracing-Technik müssen alle Kontakt-Informationen sicher verschlüsselt und lokal auf dem Handy gespeichert werden. Sie dürfen erst beim Vorliegen einer Infektion anonym ausgewertet werden. Darüber hinaus gehende Überwachung, beispielsweise Location Tracking, darf nicht stattfinden. Bei der Entwicklung müssen offene Standards, Schnittstellen und Open Source-Software zum Einsatz kommen. Die Verwendung der App muss freiwillig sein.

Die Fähigkeiten für Contact Tracing, das datensparsam funktioniert und die Grundrechte gewährleistet, sind in Europa vorhanden. Ein Beispiel dafür ist die Pan-European Privacy Preserving Proximity Tracing-Initiative (PEPP-PT), ein Projekt, an dem auch Forschende aus der Schweiz (unter anderem ETH und EPFL) beteiligt sind. Äusserst problematisch wäre hingegen die Zusammenarbeit mit Big-Data-Unternehmen wie Palantir, eine US-amerikanische Firma, die international für Geheimdienste und Sicherheitsbehörden tätig ist und keine Transparenz gewährleistet.


Kameraüberwachung

Letzte Woche beschloss der Regierungsrat des Kantons Aargau, dass die Polizei auf bestehende Videokameras in Echtzeit - auch von Dritten - zugreifen und selber neue Kameras aufstellen darf. Wieso die bestehenden Massnahmen wie Verbote von Ansammlungen, Polizei-Patrouillen, Bussen und Absperren von Parkanlagen nicht ausreichen sollten, bleibt der Regierungsrat in seiner Stellungnahme schuldig. Solche "virtuellen Patrouillen" können nicht direkt einschreiten und führen in ihrer präventiven Wirkung höchstens dazu, dass sich die Menschen an einem anderen, nicht überwachten Ort treffen. Es besteht zudem die Gefahr, dass die Video-Echtzeitüberwachung auch nach Ende der Pandemie als "normale" Überwachungsmassnahme eingesetzt wird.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 13/14 - 76. Jahrgang - 24. April 2020, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2020

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