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VORWÄRTS/1590: Das kapitalistische Patriarchat


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 17/18 vom 22. Mai 2020

Das kapitalistische Patriarchat

von Damian Bugmann


Neandertaler, Germanen, Russen und Moslems werden als finstere Machos dargestellt, die westliche Gesellschaft dagegen als weitgehend patriarchatsfreier Raum. Dabei werden eigene Patriarchatsprobleme, direkte und strukturelle Gewalt ignoriert und in der Familie privatisiert und endgelagert.


Machos, Kinderschänder und Frauenzüchtiger betrachtet die bürgerliche Ideologie als Ausländer und als charakterschwache, geistesgestörte einheimische Ausnahmefälle. Das ernst zu nehmende gesellschaftliche Problem wird privatisiert und auf andere abgeschoben, die man als minderwertig betrachtet. TV-Dokumentationen mit anschaulichen Spielfilmsequenzen behaupten breitbeinig wider besseres Wissen der Ethnologie und Archäologie, die Neandertaler seien streng patrilineal (männliche Erbfolge) und patriarchal organisiert gewesen. Mainstreamige Archäologiesendungen ignorieren Darstellungen und Symbole der wichtigen weiblichen Einflüsse auf das öffentliche Leben und projizieren patriarchale Strukturen in matrizentrische antike Hochkulturen wie Kreta, Troja und Etrurien.

Je älter die Kultur, desto barbarischer und patriarchalischer soll sie gewesen sein. Die patriarchalen griechischen und römischen Kulturen barbarisierten in ihren Propagandaschriften die Kelten und Germanen, da diese Konkurrent*innen von Rom und Athen waren. Diese widersetzten sich der Unterwerfung und hatten in Wirklichkeit eine feinere, sanftere und differenziertere Kultur und Spiritualität als sie selbst, sie behielten effektiv mehr matrizentrische Elemente bei.


Teile und herrsche

Weibliche spirituelle Figuren und das Mysterium der Geburt standen im Zentrum des gesellschaftlichen und spirituellen Lebens der vorpatriarchalen, matrizentrischen Gesellschaften. Sexuell und spirituell, wirtschaftlich und sozial waren Geschlechter und sexuelle Orientierungen gleichberechtigt, die Bereiche gehörten ganzheitlich zusammen. Wo die Männer wie in den poly- und monotheistischen Kulturen Mythen fälschen und männliche Gottheiten über weibliche setzen, die Frauen aus wichtigen kultischen Funktionen verdrängen und zu Tempelprostituierten degradieren, hat die patriarchalische Teile-und-herrsche-Trennung bereits stattgefunden.

In vorpatriarchalen, matrizentrischen Gesellschaften gab es keine Prüderie, keine Hierarchien, keine Fixierung auf Familie und Zweierbeziehung. Die Menschen lebten überall auf der Welt, wenn sie nicht in handlichen Zelten unterwegs waren, meist in grossen Gemeinschaftshäusern, alles war Kollektivbesitz. Das wirtschaftliche und soziale Leben, die Sexualität waren durch Partizipation aller freiheitlich, klar und sozialverträglich geregelt. Elternschaft und Vorstellungen von ehelicher Treue interessierten gar nicht, alle zusammen nahmen die Verantwortung für Wohlergehen und Entwicklung der Kinder wahr. Diese Verantwortung blieb nicht an den einzelnen Müttern und Vätern hängen, es kam nicht zu Stress und diskriminierenden Rollenzuschreibungen.


Kampf, Konkurrenz, Geld

Wo Männer die Frauen und andere Menschengruppen, die Dritte Welt und die Natur mit List und Gewalt zu Macht- und Profitzwecken instrumentalisieren, ist Patriarchat. Und da, wo der Hollywood-Einzelkämpfer aufbricht zu neuen Ufern und sein Ziel gegen alle Widersacher mit viel Gewalt und unter Missachtung der Regeln erreicht. Dabei geht es immer um idealistisch verschleierte, egoistische Ziele wie Bereicherung, Vorteile und Privilegien, Ausbeutung und Herrschaft.

Der gesellschaftlich integrierte moderne Mann arbeitet hart und ohne Rücksicht auf seine Gesundheit, meist ausser Haus. Dazu kommen noch Pflichten in der Familie, aktiver Freizeitstress und die Befriedigung kleiner und grosser Laster als Kompensation. Der Patriarch zieht in den Krieg, in den Kampf um einen Platz in der Arbeitswelt, um Marktanteile, Einschaltquoten, beruflichen Aufstieg, Beute. Die Familie und die aufopfernde, wirtschaftlich abhängige Frau (meist doppelt belastet), idealisiert er, kokettiert damit, im Grund ein Familienmensch zu sein.

Heilig ist aber heute die Unternehmung, die oft liebevoll als Familie bezeichnet wird und einseitigen Gewinninteressen dient. Die durch wirtschaftliche, gesellschaftliche und religiöse Bedingungen im 19. Jahrhundert entstandene patriarchale Kleinfamilie ist längst tot, zerrissen durch die auseinander strebenden Interessen der vereinzelten Kämpfer*innen im verschärften kapitalistisch-patriarchalischen Wettbewerb.


Schönes neues Patriarchat

Patriarchatsprobleme werden ignoriert und in der Familie privatisiert. Die isolierte Zweigenerationen-Kleinfamilie wird durch Wettbewerb, ungleiche Machtverteilung und Rollenfixierungen überstresst und meist emotional überfrachtet. Es entstehen gefährliche Ungleichgewichte, oft Neurosen und Gewalt, mässigende Einflüsse wie in grösseren, gleichberechtigten Gemeinschaften fallen weg. Die Ehefrau ist die Tankstation für den grossen Kämpfer und den Kämpfer*innen-Nachwuchs und muss in der Familie wichtige logistische, psychologische, emotionale und gegenüber dem Mann sexuelle Funktionen übernehmen. Ist genug Geld da, kann sie einen Teil der Arbeit an Externe wie Seelenklempner, Haushalt- und Kinderhütepersonal delegieren und hat Raum für kreative Hobbys und Erwerbsarbeit. Ist wenig Geld da, muss sie zusätzlich arbeiten gehen und die Kinder mindestens teilweise vernachlässigen.

Ein paar wenige Frauen* schaffen es mit grössten Anstrengungen, List und Intrige, in Männerdomänen einzudringen und in der Machowelt mitzuhalten. Die männliche Elite beweist damit ihre Offenheit und Toleranz, die tüchtigen, privilegierten Frauen gehören dazu, werden bewundert und angefeindet. Sie finden eine individuelle Lösung für das gesellschaftliche Problem Geschlechterrollen und Diskriminierung, das Bestehen bleibt. Laut den liberalen Ideolog*innen garantiert der «freie» Wettbewerb mit seinen patriarchalen Regeln Chancengleichheit und gleiche Rechte. Der Mainstream-Diskurs lehnt die alten Formen des Patriarchats ab und schafft neue, die dem Kapitalismus dienen und den Schein von Emanzipation, Gewaltfreiheit und Gleichberechtigung verbreiten.


BÜCHER ZUM THEMA:

- Carola Meier-Seethaler:
Ursprünge und Befreiungen, Eine dissidente Kulturtheorie,
Opus Magnum 1988/2017, 548 Seiten

- Christa Wolf:
Kassandra, Erzählung, Suhrkamp 1983/2009, 178 Seiten

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 17/18 - 76. Jahrgang - 22. Mai 2020, S. 11
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2020

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