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WILDCAT/027: Ausgabe 92 - Frühjahr 2012


Wildcat 92 - Frühjahr 2012




Inhalt:

- Heimatschutz: Unsere StaatsNazis
- Ägypten: Schritt für Schritt
- Ägyptens Textilfabriken [bb]
- Die arabische Revolution? [bb]
- Migrantinnen: Kämpfe in den Golfstaaten
- Land - Konflikt, Politik, Profit [bb]
- Krise in Europa - Rückkehr des Klassenkampfs
- Griechenland:
   Fortgesetzte Angriffe, Riots und Streiks
   Streik im Stahlwerk
- China: Das war das Jahr des Hasen
- Indien: Kampf bei Maruti Suzuki
- Libyen [bb]
- Die Commons-Debatte:
   Nadel im Heuhaufen
   Geile alternative Halbinseln [bb]
- Kasachstan: Frühling in der Steppe
- "Notfälle" - Proteste in Rumänien
- Geschlafen wird am Monatsende [bb]
- Totalschaden [bb]
- ArbeiterInnen gegen die Krise? [bb]
- Gegen die Arbeit [bb]
- [bb]: Buchbesprechung


Die Materialien der Zukunft

Heute (am 28. Februar) wurde Occupy London an der St. Pauls Cathedral geräumt: die durch würdevolles Bitten gewonnene Geduld der Behörden ist zuende. Aber vorher richtete dieser besäufnisfreie Ort erst noch seine eigene Variante der staatlichen Einrichtungen zur "Behandlung" von gesellschaftlichen Abweichlern (Obdachlosen, Süchtigen usw.) ein und veröffentlichte drei Forderungen in der Financial Times: wirksamere Besteuerung von Konzernen, Umleitung des im Rahmen der "quantitativen Lockerung" gedruckten Gelds in den Wohnungsbau als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, und gesetzliche Lohnsenkungen für Topmanager (kein Wort über das "leistungsbasierte" Entlohnungssystem, mit dem in allen Einkommensstufen die Arbeitsgeschwindigkeit beschleunigt wird).

Der in dieser Ausgabe beschriebene weltweite Kampfzyklus hängt (zwangsläufig wie alles, was in "Echtzeit" gelebt wird) zwischen zwei einander widersprechenden Möglichkeiten: entweder ein würdevoller Tod durch die Hand einer geduldigen Obrigkeit oder die schamlose Aneignung der Gegenwart, der Vergangenheit und der Materialien der Zukunft.

Ein andere Seite der Kampfzyklen ist das Schauspiel, wie das Kapital sich scheinbar selbst dem Erdboden gleichmacht oder tote Arbeit sich zersetzt. Aber obwohl "ineffiziente" Firmen und Nationalstaaten zugrunde gehen, kann kein Zweifel daran bestehen, dass jedes Kapital, das noch auf den Beinen steht, den Abriss gnadenlos dazu nutzen wird, die Ausbeutung unter den billigsten, brutalsten Bedingungen wieder in Gang zu bringen. Ein einzelner Akt von Inbesitznahme wird nicht ausreichen, um den allgemeinen Abriss ein für alle Mal zuende zu bringen, aber jedes bettelnde Work-In trägt dazu bei, dass aus dem Abriss eine Gelegenheit für das Kapital wird.

*

Untote und Woerter des Jahres

Im April 2006 war der IWF voll des Lobes: Ein ganzes Feuerwerk von Neuerungen habe das weltweite Finanzsystem flexibler, sicherer und stabiler gemacht. "Das ist inzwischen allgemein anerkannt. Das rasante Wachstum von Instrumenten zum Transfer von Kreditrisiken bat Banken in die Lage versetzt, Kreditrisiken aktiver zu managen." (Financial Stability Outlook; zit. nach Die Zeit vom 20.10.2011)

Gut, so ein malenki bisschen haben sie diesbezüglich in der Zwischenzeit ihre Meinung geändert...

Es war übrigens Lukas Papademos in seiner damaligen Funktion als Vizechef der EZB, der diesen IWF-Bericht am 1. Juni 2006 in Frankfurt der Presse vorstellte! Dieselben Bratschniks, gestern Banker, heute Regierungschef, oder gestern Ministerin, heute IWF-Chefin, schreiben den Leuten in Griechenland, Italien, Portugal, Spanien... vor, was sie tun müssen, um weitere "Rettungspakete" zu bekommen... - vom aktuellen für Griechenland geht übrigens je ein Fünftel nach Griechenland, an griechische Banken und an die EZB, und 40 Prozent an Banken außerhalb Griechenlands - ... und verzapfen morgen im Globovision dann wieder einen anderen Tschipoke.

Heute vor 141 Jahren, am 18. März 1871, begann der Aufstand der Pariser Kommune. Vor 164 Jahren kam es im Rahmen der Märzrevolution in Berlin zum Barrikadenaufstand. Aber auch schreckliche Dinge sind am 18.‍ ‍März passiert: 1921 wurde der Kronstädter Matrosenaufstand zusammengeschossen, 1990 wurde die CDU bei den Wahlen zur Volkskammer in der DDR mit Abstand stärkste Partei. Die weitere Entwicklung in der BRD belegen die jeweiligen Unwörter des Jahres: 1991 ausländerfrei; 1992‍ ‍ethnische Säuberung; 1993 Überfremdung; 2000 national befreite Zone; 2011 Dönermorde - übrigens eine ganz tolle Leistung der Kommission, dass sie das bereits Ende 2011 als "Unwort" erkannten! Für manchen immer noch zu schnell: Am 13. November sagte Innenminister Friedrich in der Tagesschau "Dönermorde" - neun Tage zuvor war das "Zwickauer Trio" aufgeflogen.

Zu diesem Fall von staatlich gelenktem Naziterror machen wir uns im Heft ein paar Gedanken. Dabei ziehen wir einen Vergleich zur Strategie der Spannung in Italien von 1969 bis 1980. Es wären durchaus aktuellere Bezüge möglich gewesen. Kurz bevor wir in Druck gehen, schreibt uns der Genosse aus Griechenland als Einleitung zu seinem Artikel: "Im Vorfeld der Wahlen üben sich Regierung und die zwei großen Parteien in Bürgerkriegs-Rhetorik. Demos, Proteste, linke Parteien, Aktionen... verhinderten nur die Rettung der Heimat und förderten die Kriminalität. Manche Politiker stacheln rassistische und autoritäre Entwicklungen an. Sie rufen zur bewaffneten Selbstjustiz gegen Räuber auf, wollen das Demonstrationsrecht einschränken, und Samaras, der nationalistische Chef von Nea Dimokratia und kommender Premierminister, bezeichnete sarkozy-mäßig vermummte Demonstranten als Abschaum. Umfragen sollen suggerieren, dass bei den Wahlen die faschistische Partei Chrisi Avgi ins Parlament einziehen wird. Diese habe in enger Zusammenarbeit mit Mafia, Bullen und Geheimdiensten auch Anschläge gemacht (und übrigens förderte Pasok unter der Hand oft solche rechtsradikalen Gruppierungen, um der Nea Dimokratia Wahlstimmen abzunehmen). Ich halte es für völlig unwahrscheinlich, dass sie tatsächlich so viele Stimmen kriegen. Aber wenn die Wut auf der Straße unkontrollierter und heftiger wird, gibt es ja immer noch Steigerungen in einer Strategie der Spannung (Bomben in der U-Bahn...)."

Mit "Umfrageergebnissen" lässt sich kraschnig Politik machen. Warum finden EU-Umfragen in der BRD immer zwei Drittel Zustimmung zu Europa und zum Euro raus, das CDU-nahe Allensbach-Institut aber zwei Drittel Ablehnung? - Als jemand der Sache auf den Grund ging, präsentierte Allensbach folgende Erklärung: In den 90er Jahren habe man gefragt, ob das Vertrauen in die EU "sehr groß", "groß", "weniger" oder "gering/kein" sei. Da fast niemand "sehr groß" antwortete, habe man die erste Möglichkeit irgendwann weggelassen. Damit hatte man eine ungerade Anzahl von Fragen. Wie Meinungsforscher wissen, kreuzen dann die meisten das mittlere an - dieses war aber nicht "mittel", sondern "weniger", und ergab zusammen mit "kein" immer die gewünschten "Ergebnisse" - mit denen Merkel uns dann tollschockt!

Zum alten Horrorschau-Suchspiel Was ist real, was ist Medienwelt?' hier eine Grafik zur Auflagenentwicklung der Bild-Zeitung während ihrer Griechenland-Kampagne - sie hat in der Zeit fast eine viertel Million verkaufte Auflage verloren! Deshalb dann die Kampagne gegen die Droogs von Wulff. Die leider böse ausgegangen ist: ab 18. März 2012‍ ‍haben wir jetzt den Charlie Gauck als neuen Tschasso. Hauptsache, die Auflage der Regierungsgazetta stimmt wieder!

Democracy. Du wirst mir keine Tollschocks mehr geben! ... Besten, wir reden nicht mehr!

In seinem Kommentar zum Jahreswechsel hielt Wallerstein 2011 für "ein gutes Jahr für die weltweite Linke". "Eine weltweite Revolte gegen die extrem ungleiche Verteilung von Reichtum, korrupte und undemokratische Regierungen" sei zwar bisher nicht siegreich gewesen, sie habe aber die weltweiten Debatten wieder auf die wichtigen Dinge gelenkt. Auch die "Revolutionen" von 1848 in Europa und 1968 weltweit waren nicht siegreich, aber erfolgreich in dem Sinn, dass sie die Welt grundlegend veränderten - das könne man bereits jetzt über die Bewegungen von 2011 sagen.

Nachdem 20 Jahre lang Straßenproteste als genauso wirkungsvoll erschienen wie die Kavallerie Mitte des 20. Jahrhunderts, habe sich die Straße 2011 wieder zur historischen Kraft gemacht: von Tunis über Alexandria und Kairo; vom Persischen Golf bis zum Atlantik; in Madrid, Athen, London und Tel Aviv; in Mexiko, Indien und Chile, schließlich in New York... Das schrieb das Magazin Time in der Coverstory vom 14. Dezember zu seiner Wahl der "Person des Jahres" für 2011: der "Protestler". Der weltweite Protest sei "Vorspiel zu Revolutionen". Denn, wie Wallerstein resümierte: "Zum ersten Mal seit langer Zeit diskutieren ganz gewöhnliche Menschen wieder über die Systemfrage, sie halten das System, in dem sie leben müssen, nicht mehr länger für gegeben."

GenossInnen aus den USA haben ganz unterschiedliche Erfahrungen in der Occupy-Bewegung im letzten Herbst gemacht: Es gab rasante kollektive Lernprozesse, Radikalisierung, Offenheit für Diskussionen. Gleichzeitig gab es aber auch viel Ignoranz und Naivität im Umgang mit Institutionen und Gewerkschaften. In manchen Städten verschwand die Bewegungsdynamik schnell, und die Kontrolle wurde an die Demokratische Partei abgegeben. Die wichtigsten Vorstöße waren sicherlich die Blockaden von Westcoast-Häfen am 12. Dezember durch die Occupy-Bewegung zusammen mit Hafenarbeitern in Oakland, Portland, Longview und Seattle...

Danach ist die Dynamik erstmal abgeebbt. Es gibt Aufrufe für einen "Globalen Frühling" und einen Generalstreik am 1. Mai. Läuft sich das Ganze in Kampagnenpolitik und letztlich Institutionalisierung aus, wie viele der Verlautbarungen nahe legen? Oder gehen Prozesse an der Basis weiter, etwa indem sich praktischer Widerstand gegen Zwangsräumungen ausweitet, was Grundlage für eine neue Dynamik und Radikalisierung sein könnte... Darauf wollen wir im nächsten Heft genauer eingehen.


Diesmal im Heft:

* Commons-Debatte ...
In der Anmoderation in der Wildcat 88 (Winter 2010) haben wir die Frage gestellt "Biedermeier oder Vormärz?" - 2011 hat diese Frage entschieden. In unseren Interviews und Gesprächen mit der Szene konnten wir aber kaum über gesamtgesellschaftliche Entwicklungen diskutieren. Meist steht das Überleben des eigenen Projekts im Vordergrund. Ein Strang, an dem wir dennoch dranbleiben werden, weil sich auch für uns ständig aufs Neue die Frage stellt, wie politische Organisierung, soziale Reproduktion und weltweite Tendenz zur Revolution zueinander gehören.

* China ...
Die Konjunktur in China schwächt sich ab, Export- und Importwachstum sind gesunken, die Eigenheimpreise fallen, die Investitionen in die Infrastruktur gehen zurück. Anderswo in Asien sieht es kaum besser aus: Die Volkswirtschaft von Singapur schrumpft. In Indien wird 2012 das niedrigste Wachstum seit 2009 erwartet. Taiwan ist im vierten Quartal 2011 in die Rezession gerutscht, Südkorea stagniert, das japanische BIP ist um 2,3 Prozent gesunken... Wir gucken uns aber diesmal nicht die wirtschaftliche Entwicklung in Asien an, sondern werfen einen Blick auf das dichte Netz an Arbeiterkämpfen, das sich in China vor diesem Hintergrund entwickelt.

* MigrantInnen in den Golfstaaten ...
Die auf Schuldknechtschaft beruhende "Zirkularmigration" in die Golfstaaten gilt manchen als leuchtendes Vorbild. Aber die enormen Kämpfe der meist asiatischen WanderarbeiterInnen in diesen Staaten haben dieses Modell bereits ausrangiert.

Aktuell schickt das Bundesverteidigungsministerium "einsatzerfahrene Soldaten" "im Rahmen der Grenzsicherung" nach Saudi Arabien; sie sollen dort Soldaten an aus Deutschland gelieferten Drohnen ausbilden, vor allem zur Abwehr der Hunderttausenden im Armenhaus Jemen festsitzenden MigrantInnen.

* ... außerdem updates zu den Kämpfen in Ägypten und Indien, sowie Artikel zum Ölarbeiterstreik in Kasachstan und den Straßenprotesten in Rumänien

* ... sowie jede Menge Buchbesprechungen!


Bettwaerts ist das Beste jetzt! Drum heimwaerts und dann ein bisschen Spatschka. Right Right? ... Right Right!

Korova-Milchbar, 18. März 2012
(Wer lange nicht in Uhrwerk Orange war, kann auf Wikipedia seine Nadsat-Kenntnisse ein bisschen auffrischen.)

Raute

Heimatschutz: Unsere StaatsNazis

Als im November 2011 die Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds" an die Öffentlichkeit kam, sahen bürgerliche Kommentare darin "die größte Schande der Republik seit ihrem Bestehen" (Minkmar, s.u.); einige linke Zeitschriften wie ak und AIB sahen ein "Versagen" der Geheimdienste. Wir wollen im folgenden erklären, warum wir die bürgerliche Interpretation radikaler finden (sie sieht die Verantwortung bei Regierung und Staat) und machen uns ein paar Gedanken, wie die hilflose linke Kritik zu überwinden wäre, die einerseits den Geheimdienst "demokratisieren" oder sogar abschaffen will - andererseits aber auf staatliches Durchgreifen gegen Nazis setzt.(1)

Pannen? ...

Die Mordserie war nur mit behördlicher Deckung möglich. Laut offizieller polizeilicher Kriminalstatistik liegt die Aufklärungsquote bei Mord in der BRD bei über 95 Prozent. Statistisch hegt die Wahrscheinlichkeit, dass zehn Morde nacheinander nicht aufgeklärt werden, bei 0,00 ... und dann kommen nochmal zehn Nullen - dabei ist noch nicht eingerechnet, dass mehr als ein Dutzend Banküberfälle und einige Sprengstoffanschläge ebenfalls glatt liefen!

Es ist auch eine Lüge, dass niemand den inhaltlichen Zusammenhang der Mordserie verstanden hätte. Die Nazis haben ihn im Song Döner-Killer selber ganz öffentlich herausgegröhlt. Angehörige haben Trauerdemos organisiert, nach dem neunten Mord mit dem Leittranspi "kein 10. Opfer!" Und drittens gab es sogar einige wenige Polizeibeamte, die in Richtung Nazis ermitteln wollten; Profiler hatten schon nach den ersten Morden auf rechtsradikale Serienmörder geschlossen. Einige wurden rausgemobbt, andere psychiatrisiert. Und immer wieder wurde stereotyp verlautbart, es gäbe definitiv keinen ausländerfeindlichen Hintergrund. Zur Nagelbombe im Juni 2004 in Köln erklärte der damalige Innenminister Schily schon am Tag darauf es gäbe Hinweise auf ein "kriminelles Milieu". Im Sommer 2004‍ ‍lief gerade die Hetze über die Gefährlichkeit des Islam - Schily damals: "Wer den Tod liebt, der kann ihn haben!" - da musste alles getan werden, um den Zusammenhang zwischen Regierungshetze und Faschoterror nicht publik werden zu lassen.

... abgetaucht? ...

Offiziell hatte der Verfassungsschutz die drei Thüringer Nazis seit Mitte der 90er Jahre auf dem Schirm und wusste seit Herbst 1997, dass sie Bomben bauten. (Sehr wahrscheinlich waren sie die Urheber eines gescheiterten Bombenanschlags auf portugiesische Arbeiter in der Nähe von Jena im November 1997.) Am 26. Januar 1998 rückte das LKA mit Durchsuchungsbeschluss für drei Garagen an. Der Professorensohn Uwe Böhnhardt war auf freiem Fuß, obwohl mehrfach rechtskräftig verurteilt, er wartete das Öffnen der ersten Garage ab und fuhr dann mit dem Auto weg. In der dritten Garage wurden kurz danach vier Rohrbomben und 1,4 kg TNT gefunden, die höchstwahrscheinlich zu den 38 kg TNT gehören, die 1991 aus einem Bundeswehr-Depot nahe dem thüringischen Großeutersdorf geklaut worden waren (das gleiche TNT wurde beim Nagelbombenanschlag in Köln 2004 verwendet). Danach blieben die drei fast vierzehn Jahre lang angeblich unauffindbar. 2003 stellte die Staatsanwaltschaft Gera die Ermittlungen wegen Verjährung ein!

Nils Minkmar schrieb in einem lesenswerten Artikel in der FAZ vom 20.11.2011 zum angeblichen "Abtauchen" des angeblichen "Trios": "Sie tauchten nicht besonders tief. Es war mehr so ein Schnorcheln, ein Untertauchen in der Badewanne: Sie pflegten ein soziales Lehen in Zwickau, unterhielten Kontakte zu einem weiten Unterstützerkreis und besuchten Demonstrationen, Konzerte und Veranstaltungen. Viele wussten, wo die drei waren. Und wenn die rechte Szene in Deutschland ein Problem hat, dann sicher nicht jenes, allzu opak und abgeschottet zu agieren, sondern in hohem Maße von V-Leuten durchsetzt zu sein." Unter anderem sollen die drei 2009 auf einer Nazi-Veranstaltung in Erftstadt bei Köln aufgetreten sein; 2011 besuchte Zschäpe mit falschen Papieren einen Prozess gegen Rocker in Erfurt...

Das Trio agierte in einem terroristischen Netzwerk, das an Auswahl, Vorbereitung und Durchführung der Morde beteiligt war. Die im ausgebrannten Haus gefundenen Namenslisten waren offensichtlich breit recherchiert, auch staatliche Daten waren eingeflossen. Ob lokale Nazigruppen die Opfer ausspähten und nachher die Killer anreisten, ob der "NSU" Know how, Waffen und Technik zur Verfügung stellte und die örtlichen Nazis die Anschläge selber durchführten, oder ob man je nach taktischen Gegebenheiten mal so mal so vorging, ist bis jetzt nicht bekannt.

... Doppelselbstmord?

Was ist im Herbst 2011 aus dem Ruder gelaufen? Die offizielle Version vom Doppelselbstmord am 4. November ist wenig glaubhaft. Es könnte auch sein, dass eine Zelle ausgeschaltet wurde, um die zweite Reihe zu schützen und deren Weiterarbeit in der Zukunft zu ermöglichen. Das Verhalten von Zschäpe in den Tagen danach deutet drauf hin, dass sie das ebenfalls so einschätzte. U.a. verschickte sie sofort das "Bekenner-Video" an zwölf Adressen, darunter die Moschee in Völklingen und die Kommunistische Arbeiterzeitung und verhinderte damit, dass die Geschichte unter den Teppich gekehrt wurde. Parallel zur Recherchearbeit von einigen Antifa-Gruppen und wenigen Journalisten lief dann von Staatsseite ein Film namens Wir tun mal so, als klärten wir auf; Namen von Verdächtigen wurden Tage vor ihrer Festnahme öffentlich bekanntgegeben, so dass in Ruhe das Umfeld gewarnt und Beweise vernichtet werden konnten.

Spektakuläre Fakten kamen ans Licht. Zum Beispiel war ein hessischer Verfassungsschützer mit dem Spitznamen "Kleiner Adolf" im April 2006 beim Mord in Kassel anwesend. Bei einer darauffolgenden Hausdurchsuchung waren bei ihm illegale Munition und Nazi-Propaganda gefunden worden. Trotzdem wurde das Verfahren gegen ihn schon im Januar 2007 eingestellt. Er arbeitet weiterhin für den Staat, inzwischen beim Regierungspräsidium in Kassel.

Der VS Thüringen hat das "Zwickauer Trio" mit Geld versorgt. Während einer Sitzung der Parlamentarischen Kontrollkommission am 8. Dezember 2011‍ ‍in Erfurt wurde z.B. bekannt, dass er ihnen über einen Mittelsmann 2000 Mark zukommen lassen wollte, damit sie sich falsche Papiere machen können.

Mindestens einer der drei hatte "legale, illegale Papiere", wie sie Geheimdienste für verdeckte Ermittler ausstellen. Auch der MAD hatte V-Leute rings um die drei "abgetauchten" Thüringer. Verteidigungsminister de Maizière gab im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sogar zu, dass ein MAD-V-Mann den Aufenthaltsort der Drei kannte.

Es gibt keine erfolgreiche Terrorgruppe ohne staatliche Unterstützung; "verfolgt man die Spur des Terrors nur lange genug, endet man vor einem geheimen Dienstgebäude. Rein kann man nur während einer Revolution." (Nils Minkmar in seinem bereits zitierten Artikel). In ihrer Gesamtheit führen die Spuren ins Innenministerium bzw. ins Bundeskanzleramt, das die Geheimdienste koordiniert; Albrecht Müller, Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt von 1973 bis 1982: "Es ist nicht vorstellbar, dass der Chef des Bundeskanzleramtes, der Regierungssprecher oder ein anderer der 10-15 Teilnehmer [der täglichen Lagebesprechung] nicht spätesrens nach der Ermordung des fünften Türken mit der gleichen Pistole hätte wissen wollen, was da vorgeht. ... Das Abwiegeln war das Ergebnis behördlicher Tätigkeit." Chefs des Bundeskanzleramts waren von 1999 bis 2009 zunächst Steinmeier, dann de Maizière.

Information = Desinformation?

Schon das Tempo, mit dem ab Mitte November neue Fakten bekannt wurden, beweist, dass hier jahrelang unterschlagene Akten und gesicherte Spuren selektiv in die Öffentlichkeit gestreut wurden. Es ist schwer, die Desinformation aus den vielen Informationen auszufiltern. Eine kleine Auswahl der (vorgefertigten?) Enthüllungen: Das LKA Thüringen hatte versucht, den drei Staatsnazis Geld zukommen zu lassen. - Das LKA Thüringen wollte die drei festnehmen, wurde aber kurz vorm Zugriff von oben zurückgepfiffen. - Zschäpe hatte auch nach dem sogenannten "Untertauchen" immer wieder Kontakt zu V-Leuten des Thüringer VS. - Dieser soll ein Observationsfoto der drei vom 15. Mai 2000 besitzen, die Staatsanwaltschaft Erfurt ermittelt deshalb wegen "Strafvereitelung im Amt". - Telefonate der Bande wurden abgehört. - Der niedersächsische Verfassungsschutz hatte einen der weiteren verhafteten Nazis bereits 1999 observiert, Erkenntnisse über dessen Zusammenarbeit mit dem "NSU" aber nicht gespeichert... usw. usw. - Die heißesten Spuren legt die Meldung, US-Geheimdienstler und Verfassungsschützer hätten am 25. April 2007 den Mord an der Polizistin Kiesewetter auf der Theresienwiese in Heilbronn beobachtet. Diese vier Jahre später den Medien zugespielte top secret-Meldung liest sich wie aus einem Spionage-Thriller: Demnach hätten US-Militärgeheimdienstler von der Defense Intelligence Agency und Verfassungsschützer Mevlüt Kar observiert, während er Bankgeschäfte in Millionenhöhe tätigte. Kar war V-Mann des türkischen Geheimdienstes MIT und der CIA. US- und deutsche Behörden hatten ihn an der Schnittstelle zwischen organisiertem Verbrechen und islamistischen (Möchtegern-?)Terroristen platziert. Er hatte der "Sauerland-Gruppe" Zünder geliefert und soll heute unter staatlichem Schutz in der Türkei leben (angesichts der Enthüllungen rund um die Staatsnazis sollte man auch nochmal die Geschichte dieser angeblichen islamistischen Terrorzelle recherchieren, die im September 2007 unter großem Aufwand ausgehoben wurde!). Während die US-Agenten auf der Lauer lagen, beobachteten sie laut ihrem Bericht eine Schießerei zwischen Streifenpolizisten, Nazis und Verfassungsschützern (!) und mussten ihre eigene Aktion deswegen abbrechen. Sollte das stimmen, wären sämtliche "Ermittlungen" zum Tod von Kiesewetter Ablenkungsmanöver gewesen. Die ganzen Spekulationen über "das Phantom", das an 40 Tatorten DNA-Spuren hinterlassen hatte, wurden Ende März 2009 in nichts aufgelöst durch die Meldung, die DNA-Spuren stammten von in der Produktion verunreinigten Wattestäbchen. Aber auch der Nazisong gröhlt vom "Phantom" - wenn es Täterwissen ist: warum rühmen sie sich dann mit einem Polizistenmord? Nach Kiesewetters Tod haben die direkten Mordanschläge jedenfalls aufgehört - die Brandanschläge im August 2007 in Völklingen zeigen aber, dass sie offensichtlich mit anderen Aktionsformen weitergemacht haben.

Eine Hand wäscht die andere

Thüringen ist auch nicht der Einzelfall, als den verschiedene Medien es hinstellen wollten. Wie überall sonst in der Landespolitik gibt es dort seit 20 Jahren Schmiergeld- und Rotlichtaffären, Datenskandale und erzwungene Rücktritte; und wie überall im Osten: miese und teilweise vorbestrafte Westimporte sowohl in den Ministerien wie in den Behörden. Vielleicht zwei Dinge stechen hervor: erstens die enge Freundschaft zwischen dem SPD-Mann von der Saar Dewes, von 1994 bis 1999‍ ‍thüringischer Innenminister, und dem Faschisten Roewer, von 1994 bis 2000 Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes; zweitens die sehr inkompetenten CDU-Innenminister danach, von denen einige sich offensichtlich wenig um Gesetze scherten.

Roewer musste im Sommer 2000 zurücktreten, als der NPD-Mann Grube und der Thüringer Nazi Dienel als V-Leute aufflogen. Er hatte nicht nur ihnen große Summen zukommen lassen, sondern zudem über eine Tarnfirma staatliche Gelder für eine bis heute unbekannte Quelle abgezweigt. Der jetzige VS-Chef Sippel "schließt nicht aus", dass sein Vorgänger Informanten auf eigene Rechnung führte. Die Thüringer Nazi-Szene wäre jedenfalls ohne den Verfassungsschutz ziemlich bedeutungslos. Roewer selbst hat einmal von 1,5 Millionen DM gesprochen, die der Thüringer VS in die rechte Szene gepumpt hat. Sowohl Tino Brandt, der Chef des "Thüringer Heimatschutz" und somit Ziehvater des "Zwickauer Trios", als auch der Anführer der verbotenen Organisation Blood&Honour waren V-Leute. Brandt soll etwa 200.000 DM erhalten haben. Diese Fakten sind seit über zehn Jahren bekannt. Was nun über den "Nationalsozialistischen Untergrund" ans Licht kam, verbindet sie zu einer Linie. Christian Schlüter stellte am Ende seines Artikels in der FR vom 22.11.2011 die Frage: "Was hindert uns noch daran, von Staatsterrorismus zu sprechen?"

Eine Untersuchung der gesamten staatlichen Strukturen ist an dieser Stelle nicht zu leisten. Wir beschränken uns auf die Gladiostrukturen im Rahmen der NATO und den Verfassungsschutz, ohne dessen finanzielle, logistische und geheimdienstliche Unterstützung der "NSU" nicht denkbar wäre.

Geheimdienst als Erziehungshelfer

Die meisten Staaten haben eine Verfassung, einen Auslands- und einen Inlands-Geheimdienst; letzterer soll feindliche Spione abfangen. Die BRD hat nur ein "Grundgesetz", dafür aber einen "Verfassungsschutz", der vor allem die ökonomischen und politischen Verhältnisse, die sogenannte FdGO ("freiheitlich-demokratische Grundordnung"), gegen die "Verfassungsfeinde" in der eigenen Bevölkerung schützt. Er bereitet sich nicht nur auf zukünftige Umsturzsituationen vor, sondern nimmt auch Einfluss auf gegenwärtige politische Entwicklungen. Dazu setzt er nicht nur geheimdienstliche Mittel ein, sondern spielt auch eine politisch-propagandistische Rolle (z.B. mit dem jährlichen Verfassungsschutzbericht). Der VS verkörpert und exekutiert den Gründungsmythos der BRD, wonach die Weimarer Republik zwischen den Extremen von links und rechts zerrieben worden sei. Wer die Fiktion der ideologiefreien, politischen Mitte kritisiert, ist "Extremist" und Verfassungsfeind. Der VS ist gesetzlich kaum geregelt und steht faktisch über den Parlamenten (wie gerade wieder anhand der Beobachtung der PDL deutlich wurde); er ist selber schon eine "Grauzone".

Die Anfänge

1949‍ ‍erlaubten die Alliierten im Westen Deutschlands eine Stelle zur Sammlung von Auskünften über "umstürzlerische Tätigkeiten". Daraus wurde 1950 das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und die entsprechenden Länderbehörden. Das BfV war massiv durchsetzt mit früheren SS-Leuten und NS-Geheimdienstlern. Diese finanzierten ihre alten Kampfgefährten als "V-Männer", zum Beispiel den Vorsitzender der Sozialistischen Reichspartei, einer Nachfolgepartei der NSDAP Ein weiteres Beispiel ist der SS-Hauptscharführer Hallmayer, den die USA als Kriegsverbrecher und die französischen Behörden wegen Mord und Folter an ResistancekämpferInnen suchten. 1951 wurde er einer der ersten baden-württembergischen VSler mit Spezialgebiet Bekämpfung linker Gruppen; für seine Rente ab 1970 wurde ihm seine Tätigkeit ab 1932‍ ‍angerechnet. Ein drittes Beispiel ist Hubert Schrübbers, ein Nazi-Jurist, der von 1955 bis 1972 Präsident des BfV war.

Unter SPD-Regierungen

Unter Schrübbers unterstützte der VS Mitte der 50er Jahre eifrig das Verbot der KPD, arbeitete in den 60er Jahren mit geheimdienstlichen Mitteln und Agents Provocateurs gegen die Jugendbewegung, setzte Anfang der 70er-Jahre die Berufsverbote der Brandtregierung um (3,5 Millionen BewerberInnen für den öffentlichen Dienst wurden durchleuchtet; das führte u.a. zu 11.000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, zu Disziplinarverfahren und Entlassungen).

Die Zusammenarbeit mit faschistischen Gruppierungen ging auch unter Schrübbers' Nachfolgern weiter. Nur ein paar Beispiele:

1972‍ ‍sagte der VS-Agent Helmut Krahberg als Kronzeuge gegen die faschistische "Europäische Befreiungsfront" aus: Er hatte sie mitbegründet und war im Vorstand gewesen. Als Agent provocateur blieb er straffrei.

1977‍ ‍stand der V-Mann Hans-Dieter Lepzin vor Gericht. Er war "Sicherheitsexperte" der verbotenen NSDAP/AO gewesen und hatte eigenhändig die Bomben gebaut, die am 2. September und 3. Oktober 1977 vor Justizgebäuden in Flensburg und Hannover explodierten - und zunächst der linken Szene angelastet worden waren. Lepzien wurde zu dreieinhalb Jahren verurteilt, musste seine Strafe jedoch nicht verbüßen.

1983‍ ‍stellte sich in Berlin der V-Mann Werner Lock der Polizei. Er berichtete von einem konspirativen Treffen am 17. Juni 1977, bei dem Nazi-Terroristen der "Wehrsportgruppe Hoffmann" und der "Deutschen Aktionsgruppen" des Manfred Roeder in Anwesenheit von V-Männern Absprachen für Anschläge und Überfälle getroffen hatten. (Aus diesem Umfeld kam das Oktoberfest-Attentat 1980, der mit 13 Toten und 200 Schwerverletzten schlimmste Anschlag in der Geschichte der BRD).

Keine Wende

Nach dem Zerfall des Ostblocks und der Wiedervereinigung konnte der Verfassungsschutz eventuellen Debatten um seine Existenzberechtigung insbesondere durch Verweis auf die Entwicklung rechtsextremer Strukturen im Osten aus dem Weg gehen. Von Beginn an sponserten die aus Westimporten installierten Landesämter für Verfassungsschutz im Osten V-Leute, die hierüber ihre faschistischen Organisationen finanzierten. Es wurden fast nie Spitzel in die Strukturen geschleust, sondern etablierte Nazis finanziell unterstützt. Zum Beispiel kündigte im März 1999 der Brandenburger VS an, die rechte Szene noch stärker mit V-Leuten "zu unterwandern". Noch im selben Jahr wurde einer dieser V-Männer, Carsten Szczepanski, wegen versuchten Mordes zu acht Jahren Haft verurteilt; das Gericht sah in ihm den "Führer der Meute".

Es gibt eine Kontinuität im VS vom Kampf gegen die KPD in den 50er Jahren, über den Kampf gegen die linken Bewegungen in den 70er und 80er Jahren, bis hin zu den Kampagnen gegen "Asylmissbrauch" und den Islam heute: die soziale Revolution fernhalten, aufmüpfige Linke aus dem Staatsapparat draußen halten, die ethnische Entmischung vorantreiben - eine Kontinuität, die vor Mord nicht zurückschreckt. Im November 2011 wurde das ein Stück weit sichtbar.

Standby oder in Betrieb?

Während des Kalten Kriegs wurden in allen NATO-Staaten paramilitärische Strukturen aufgebaut (Gladio), die - angeblich für den Fall einer russischen Invasion - Sabotage und Terror vorbereiteten. Die Mitglieder wurden aus militärischen Spezialeinheiten, Geheimdiensten und faschistischen Organisationen rekrutiert. Italien ist der bekannteste Fall dafür, wie dieses Netzwerk mit Terroranschlägen in die Klassenkämpfe eingriff. Mit einer "Strategie der Spannung" sollten Ängste verbreitet und autoritäre, staatliche Maßnahmen gerechtfertigt werden. Beim Anschlag auf der Piazza Fontana in Mailand starben im Dezember 1969 17 Menschen, beim Bombenanschlag auf den Bahnhof in Bologna am 2. August 1980 starben 85 Menschen, mehr als 200 wurden verletzt. Heute ist bewiesen, dass die Anschläge durch faschistische Gruppen wie Ordine Nuovo in Verbindung mit der Geheimloge P2, welche bis in höchste staatliche Stellen reichte, geplant und durchgeführt wurden.

Neuer Schub

Nach dem 11. September haben die Geheimdienste im War on Terror, ähnlich wie durch den Kalten Krieg, einen massiven Schub erhalten. In den USA wurde mit dem Patriot Act die "Heimatschutzstruktur" aufgebaut; in der BRD wurde 2004 das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum gegründet. Dort arbeiten das BKA, der BND, der VS und die LKAs gemeinsam. Das BKA-Gesetz von 2009 gibt diesem die Erlaubnis "zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus", die zuvor nur den Polizeibehörden der Länder zustanden (Mittel: Online-Durchsuchung, Rasterfahndung, Einsatz verdeckter Ermittler, akustische und optische Überwachung von Wohnungen und der Telekommunikation). Außerdem darf das BKA seither präventive Ermittlungen ohne konkreten Tatverdacht in eigener Leitung, also ohne Staatsanwalt, durchführen.

Das BKA scheint neben dem VS massiv in die staatliche Unterstützung des Naziterrors verwickelt zu sein. Warum hat es wohl im Dezember 2011 die Bundespolizei angewiesen, die Handydaten eines der festgenommenen Staatsnazis zu löschen? Der BKA-Chef Ziercke, seit 2004 im Amt, tritt auch nicht wie geplant Mitte 2012 zurück - offensichtlich wird er noch gebraucht, um die Aufklärung zu vertuschen (und dabei wird es sich um größere Kaliber als die vom BKA selber geschriebene Erklärung der mg oder die vom ChaosComputerClub aufgedeckte Nachladefunktion des Staatstrojaners handeln - diese beiden Skandale wurden sehr schnell wieder vergessen, ohne dass Ziercke sich überhaupt öffentlich äußern oder gar entschuldigen musste).

In diesen staatlichen Graubereichen ist vieles möglich, genau dafür wurden sie geschaffen und werden sie ausgeweitet. Der VS bezahlt mehr als 120 V-Leute in der NPD - was 2003 dazu führte, dass der Verbotsantrag scheiterte, weil das Bundesverfassungsgericht (BVG) feststellte, es ließe sich nicht unterscheiden, was ist NPD, was VS. Der damalige baden-württembergische Innenminister Heribert Rech im März 2009: "Wenn ich alle meine verdeckten Ermittler aus den NPD-Gremien abziehen würde, dann würde die NPD in sich zusammenfallen." (Mitte März 2012 wird darüber diskutiert, wie vom BVG gefordert, die Zusammenarbeit mit den ca. 15 V-Leuten aus der Führungsebene der NPD zu beenden.) Noch nach dem Massaker in Norwegen hatte Bundesinnenminister Friedrich öffentlich versichert, hierzulande gäbe es keine rechtsterroristischen Strukturen. - Sie haben es alle besser gewusst!

Der Staat ist die "Mitte der Gesellschaft"

Mitte Dezember 2011 lehnte das Oberlandesgericht Karlsruhe es ab, ein Verfahren gegen den Chef der örtlichen NPD-Jugend zu eröffnen. Bei ihm waren Baupläne, fertig gebastelte Zünder und kiloweise chemische Zutaten für eine Rohrbombe, sowie ein illegales Sturmgewehr nebst Munition gefunden worden. Der Verdacht der Vorbereitung eines Explosionsverbrechens sei nicht begründet, der Beschuldigte habe keine "bestimmte Tat geplant", es habe kein konkretes Ziel und keinen Angriffszeitpunkt gegeben. Diese Meldung ging aber unter im Skandal um die "Migrantenquote" in einem Norderstedter Kleingartenverein. Dort hatten im Oktober 70 Kleingärtner darüber abgestimmt, wie viele Migranten im Verein sein dürfen: 12,6 Prozent, also dem schleswig-holsteinischen Durchschnitt entsprechend, 27 Prozent wie im benachbarten Hamburg oder 19,6 Prozent wie im Bundesdurchschnitt. 41 von 70 entschieden sich für die schärfste Quote, elf Mitglieder lehnten den Antrag ab, einer war so empört, dass er das Protokoll der Versammlung fotografierte und in einem Schaukasten veröffentlichte. Die Medien und Norderstedts CDU-Oberbürgermeister reagierten "entsetzt": "Das ist für mich reiner Rassismus."

Ganz auf dieser Linie lag die antideutsche Antifa: Am 28. Januar demonstrierten in Hamburg knapp 2000 Menschen gegen "Den Tod" als einen "Meister aus Deutschland". In einem der Demoaufrufe war zu lesen: "Das deutsche Kapital hat 2012 kein Interesse an Nazis; weniger noch: die Faschist_innen versauen ihm die Geschäfte." Über diese Analyse könnte man durchaus diskutieren, sie dient in diesem Fall allerdings nur als Vorlage, um sich selber auf die Seite des (vermeintlich) aufgeklärten, metropolitanen Bürgertums gegen die sinnbildliche Provinz "von Flensburg bis Rosenheim, von Saarbrücken bis Zwickau" zu stellen. Rassismus ist in dieser Vorstellung die Ideologie der Verlierer, das "postnazistisch und fremdenfeindlich aufgeladene Alltagsbewusstsein in der Bevölkerung". Auch als im Februar die rassistischen Schweinereien im offiziellen Kalender des bayerischen Landesverbandes der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) bekannt wurden, wurde das unter der Überschrift "Rassismus im Alltag" behandelt. Zur selben Zeit versuchte die Staatsanwaltschaft, den Prozess um Oury Jalloh abzuwürgen, der 2005 an Händen und Füßen gefesselt in einer Polizeizelle in Dessau verbrannte... Der Staatsrassismus ist mit Händen zu greifen, aber wo er in seiner brutalen Konsequenz einer staatlich gedeckten Mordserie offenkundig wird, bezeichnen Teile der Antifa das als "bewaffneten Rassismus". Sie verpassen die politische Dimension, dass nämlich der Staat die Rassisten benutzt und sie bei Bedarf sogar unterstützt.

"Der Rassismus, mit dem wir es heute zu tun haben, ist ein kühl kalkulierter Rassismus ... ein Erzeugnis des Staates. ... (er ist) vor allem eine staatliche Logik und keine Leidenschaft des Volkes. Diese Staatslogik wird in erster Linie nicht von irgendwelchen rückständigen sozialen Gruppen getragen, sondern zu einem Großteil von der intellektuellen Elite" (Jacques Rancière in einem Vortrag von 2010; siehe ak 555 vom 19. November 2010) In diesem sehr lesenswerten Beitrag kommt Rancière zum Schluss, dass die "linke" Kritik, indem sie von "derselben Spielanordnung" wie die Rechte ausgeht ("Rassismus sei eine Leidenschaft des Volkes", gegen die der Staat mit immer härteren Gesetzen durchgreifen muss), eine "neue Form des Rassismus" konstruiert: "Staatsrassismus und intellektueller 'linker' Rassismus".

Die größten Sarrazinhasser glauben genau wie er, dass sozial Benachteiligte Verlierer sind, die sich einfach nicht genug angestrengt haben. Wenn der Verlierer dann auch noch ein brutaler Nazi ist, ist er zweifach schuldig und der Staat sollte hart durchgreifen!

Diese elitäre Grundhaltung passt nahtlos zum Rutschen auf leitende Stellen in Universitäten, Gewerkschaften, Medien und Verwaltungsapparat. Den eigenen Arsch ins Trockene bringen und kollektive Utopien aufgeben, in dieser Anordnung fällt ehemaligen Linken gegen das Phänomen von durchgeknallten Gewalttätern nur mehr "Wegschließen" ein, gegen die Entsolidarisierung im Betrieb mehr "Gewerkschaft", gegen Bürgerinitiativen wegen Obdachlosenheimen mehr "Staat", und gegen Nazis "Verbot". Das Alltagsempfinden eigener Hilflosigkeit schlägt um in einen sozialen Rassismus, "Kritikmaximierung" gegen alles, was sich "unten zusammenrottet".

Die Nazimorde haben zweimal funktioniert.

Zunächst terrorisierte die Mordserie MigrantInnen und Polizei, Verfassungsschutz und Medien nannten sie "Döner-Morde" - die Polizei-SoKo hieß "SoKo Bosporus" - und drangsalierte die Angehörigen. Diese Niedertracht setzte politisch um, was die Staats-Nazis mit ihren Taten bezweckten: fremde Geschäftemacher und ausländische Mafias aus dem deutschen Volkskörper rausschneiden. Der Bruder des Rostocker Mordopfers wurde sechs Monate danach ganz legal von deutschen Behörden abgeschoben. Alle Opfer waren migrantische ArbeiterInnen - keine "Bonzen", keine "Bankster". Im Zusammenspiel mit den Faschos zieht ihnen der Staat genauso effektiv eventuelle systemfeindlichen Zähne, wie er das auf Seiten der Linken (allerdings mit viel mehr Geld) tut. Die Faschos funktionieren als zuverlässige Kettenhunde gegen Schwache, Linke, MigrantInnen und Minderheiten. Was wäre wohl passiert, wenn sie Josef Ackermann oder einen der Politiker auf ihrer Liste ermordet hätten? Innerhalb von drei Tage wären sie eingefahren oder auf der Flucht erschossen worden. Und das wussten sie auch und haben sich entsprechend verhalten.

Zuweilen lässt der Staat seinen Kettenhunden ziemlich viel Leine, zuweilen rasiert er sie. Während der Kampagne zur Abschaffung des Asylrechts 1991-93 wurden die pogromartigen Krawalle von Hoyerswerda und Rostock toleriert, oder besser: der Staat hat durch den Abtransport der Angegriffenen "Volkes Wille umgesetzt". - Danach wurden viele Nazistrukturen in einer breiten Verbotswelle abgeräumt. So etwas Ähnliches könnte aktuell wieder passieren; siehe Großrazzia gegen die Anti-Antifa in Rheinland-Pfalz, NRW Thüringen und Baden-Württemberg am 13. März mit 24 Haftbefehlen. Laut BKA waren im Januar 160 Nazis verschwunden, in den Untergrund gegangen oder ins Ausland verzogen; bis Mitte März wurden 46 davon festgenommen.

Als die Morde ans Licht kamen, funktionierten sie aber ein zweites Mal, Friedrich war schnell in der Lage, aus der Empörung über "Pannen" und "Versagen" die Forderung nach einer besseren Ausstattung der staatlichen Repressionsorgane zu machen: mehr Vorratsdatenspeicherung, mehr Zentralisierung, neue Lagestelle, noch stärkere Verschmelzung von polizeilichen, geheimdienstlichen und staatsanwaltlichen Funktionen.

Staatsterrorismus

Staat und Kapital betreiben nicht die faschistische "Machtergreifung"; die gemeinsame Schweigeminute von DBG und BDA am 23. Februar zeigt, was für den Standort Deutschland im Moment als passende Regierungsform gesehen wird. Aber wenn die sozialen Widersprüche und die Kämpfe zunehmen, werden andere Formen interessant. Die Notstandsregierungen in Griechenland und Italien, die Drohungen in Spanien, gegen streikende Fluglotsen mit Militär vorzugehen, sind dafür deutliche Zeichen. "Die Ökonomie hat den Rechtsstaat seit langem überrollt und zehrt ihn auf Die soziale Kontrolle dient zunehmend der Stabilität des ökonomischen Systems - weitgehend ohne Rechtsschutz für den Einzelnen." (Peter Alexis Albrecht, Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Uni Frankfurt am 16. Februar im Deutschlandradio) Bis Anfang 2013 soll der "Fiskalpakt" durch die Parlamente geboxt werden, sozialfeindliche Sparpolitik wird damit zum Gesetz, ein weiterer Schritt der autoritären Entwicklung in Europa.

Die Aufrüstung der Staatsapparate und die Zusammenarbeit mit "Standby-Strukturen" sind auf diesem Weg kein Widerspruch, sondern ergänzen sich, auch wenn Teile solcher Strukturen womöglich mit eigenen Zielsetzungen agieren. Sollten sie aus dem Ruder laufen, können staatliche Behörden sie jederzeit stoppen. In diesem Sinne war auch die "NSU"-Mordserie eine staatliche Strategie (Strategie der Spannung: "destabilisieren, um zu stabilisieren").

... muddling through

"Der Kapitalismus hat seine wohlfahrtliche, rechtliche und marktwirtschaftliche Legitimation verloren und ist an sein moralisches Ende gekommen." (Werner Rügemer)(2) Die Strategie, mit der sich die Herrschenden in der Krise und durch die Krise an der Macht halten, hat wenig von einem tollen Masterplan, gleicht eher einem "muddling through" (Durchwursteln, im Schlamm wühlen...), bei dem sich Machtpolitik, Korruption und Zerfallssymptome oft nicht mehr unterscheiden lassen. An Wulffs Affären war schön zu beobachten, wie massiv die Finanzindustrie sich die Regierungen zu Erfüllungsgehilfen gemacht hat (der Finanz-Unternehmer Maschmeyer hat nicht nur Wulff gesponsert, sondern auch Schröder mit einer Million Euro bestochen; die geschäftlichen Verbindungen des ehemaligen Arbeitsministers Riester und des "Wirtschaftsweisen" Rürup zu Maschmeyer sind laut Transparency International "sehr unanständige Verhaltensweise" und "politische Korruption"; usw.). Zudem wurde bei Wulff nochmal deutlich, wie stark Rotlichtmilieu, Immobilienspekulation und Geldwäsche per Korruption mit Kommunalverwaltungen und Landesregierungen verschmolzen sind - in Hannover, Thüringen, Sachsen, Berlin, Rheinland-Pfalz... Auch Gazprom, der jetzige Arbeitgeber von Schröder, ist ein global player der organisierten Kriminalität. Die BRD ist zum Geldwäscheparadies geworden. Laut OECD werden hier jährlich zwischen 43 und 57 Mrd. Euro schmutziges Geld gewaschen. Im Februar schrieb die Financial Times Deutschland, Geldwäsche sei hier so einfach wie in kaum einem anderen Industrieland. Außer Tschechien ist die BRD das einzige EU-Mitglied, das die UN-Konvention gegen Korruption nicht ratifiziert hat, und es fehle "der politische Wille", die organisierte Kriminalität zu bekämpfen. Diese konnte sich im Immobilienmarkt, im Bau- und Entsorgungssektor ungestört breit machen.

Immer wieder blubbern unanständige Details aus diesem Sumpf an die Öffentlichkeit; nur ein paar der bekanntesten Fälle: Bankenskandal in Berlin, Hessen (Koch, Bouffier: Polizeiskandal, Tankstellen-Connection, Flughafenausbau durch Bilfinger Berger usw.), der "SachseNSUmpf" unter Biedenkopf und de Maizière aus hohen Politikern, Richtern, Polizeibeamten und 'Ndrangheta (Drogenhandel, Geldwäsche, illegale Immobiliengeschäfte, Prostitution von Minderjährigen)... Wobei an Koch/Bouffier und Thüringen auffällt, dass aus diesem korrupten Milieu die härtesten Angriffe auf MigrantInnen gefahren werden, die sich in nichts von NPD-Positionen unterscheiden.

Wie geht's weiter

Einerseits mit erneuter Hetze. Ende Februar überließ das Bundesinnenministerium eine 764-seitige Studie zu "Lebenswelten junger Muslime in Deutschland" ausschließlich der Bild-Zeitung vorab zur Veröffentlichung. Diese schlug daraus 30 Zeilen Alarm ("Schock-Studie") unter der Überschrift: "Jeder fünfte Muslim in Deutschland will sich nicht integrieren". Dass Innenminister Friedrich genau das bezweckte, machte er am selben Tag mit seinem Kommentar deutlich: "Wer Freiheit und Demokratie bekämpft, wird hier keine Zukunft haben." Unnötig zu erwähnen, dass die Studie zu sehr viel differenzierteren Ergebnissen kam - es reicht ja, die Perspektive umzudrehen: 80 Prozent der jungen Muslime wollen sich integrieren.

Andererseits werden offensichtlich Nazistrukturen abgeräumt (Razzia am 13. März) und Vorbereitungen für ein NPD-Verbot getroffen - und wahrscheinlich werden auch wieder mehr staatliche Mittel für antirassistische Arbeit fließen. Auf jeden Fall aber wird der Ausbau der repressiven Staatsapparate weitergehen. Und das ist auch nötig, denn:

Drittens verschärft sich die soziale Ungleichheit. Die tiefe Spaltung in Garantierte, Prekäre und Migranten, die Anfang der 90er mit der Abschaffung des Asylrechts, der Freisetzung von Millionen Beschäftigten im Osten und den scharfen Angriffen auf die zentrale Arbeiterklasse durchgesetzt wurde, hat den egalitären Arbeiterkämpfen vor und nach der "Wende" die Spitze gebrochen und Flüchtlinge als dauerhaftes innenpolitisches "Problem" verankert. In den feigen Angriffen auf Zuwanderer konstituierte sich zehn Jahre vor HartzIV die Figur des HartzIV-Empfängers, wie sie Sarrazin heute zeichnet: schlecht gebildet, ernährt und frisiert, dumpf, tendenziell rechts.

Das Schröderregime hat diese Spaltung mit den Hartzgesetzen verlängert, der Antifa mit dem "Aufstand der Anständigen" die Butter vom Brot genommen und - wie wir jetzt wissen - gleichzeitig dafür gesorgt, dass Nazistrukturen im Untergrund weiterwirken konnten. Die Montagsdemos konnten diese Entwicklung nicht aufhalten, weil die DGB-Gewerkschaften Solidarität verweigerten und aktiv heim Durchsetzen der Hartzgesetze halfen - und weil linke Solidarisierung von unten schwach blieb, da sofort wieder der Faschismusvorwurf im Raume stand.

Inzwischen arbeitet fast ein Viertel aller Beschäftigten in der BRD im Niedriglohnbereich (die durchschnittlichen Stundenlöhne lagen dabei im Jahr 2010 mit 6,68 Euro in West- und 6,52 Euro in Ostdeutschland recht nah beieinander), mehr als 2,5 Millionen verdienen weniger als sechs Euro die Stunde. In einem Interview mit Thorsten Hild stellte Wolfgang Neskovic einen Zusammenhang zwischen diesem sozialen Elend und den Nazis her - einen Zusammenhang, den seiner Ansicht nach die Medienleute nicht verstehen:

"Das bundesrepublikanische Leben ist voller Armut, Wut und Verzweiflung. Die Lebensrealität von Millionen besteht darin, in einem Vollzeitarbeitsverhältnis mit Überstunden gerade den Betrag zu erringen, der sie von den Millionen anderen unterscheidet, die als arm gelten müssen. ... Viele erfolgreiche Medienmacher geben dieses Milieu der Lächerlichkeit preis oder meiden es. Andere leugnen es. Sie verwechseln ihr eigenes Leben zwischen Empfängen, Theaterbesuchen und Energieeffizienzhaus mit der mehrheitlichen bundesdeutschen Realität. ­... Mundlos kam aus einer Straße der Jenaer Nachwendezeit. Das Klima der Stadt war von den Entlassungswellen der Zeisswerke bestimmt. Mundlos verlor die Aussicht auf eine Lehrstelle bei Zeiss. Ich habe gelesen, dass er ein sehr begabter Programmierer war - bevor das Programm der Nazis ihn zum Mörder machte."(3) Unten arbeiten die Nazis und von oben der Staat, der immer wieder den Rassismus benutzt - nicht um von sozialen Fragen "abzulenken", sondern um Sozialpolitik zu simulieren, um soziale Inhalte zu erzeugen. Im Oktober 2010 schoben der damalige Innenminister de Maizière ("Integrationsverweigerer"), CSU-Seehofer ("wir dürfen nicht zum Sozialamt der Welt werden") und Merkel ("Multikulti ist total gescheitert") eine rassistische Kampagne gegen Menschen aus "fremden Kulturkreisen" an. Sie ist ein Beispiel dafür, wie Staatsrassismus als Sozialpolitik des Neoliberalismus eingesetzt wird. Der fürsorgende Landesvater schützt seine strebsamen Landsleute vor faulen Griechen und Konkurrenz aus dem Ausland. Nationalismus als scheinbare Sicherheit gegen die Verunsicherungen durch globale Standortkonkurrenz und Krise. Merkels damaliger Auftritt vor der Jungen Union ist gleichzeitig ein Beispiel dafür, wie Rassismus identitätsstiftend für die staatlichen Apparate ist.

Angesichts der aufgezeigten Zusammenhänge die Abschaffung des VS zu fordern, springt zu kurz. Vom Innenminister die Abschaffung eines Dienstes zu fordern, den er selber gepäppelt hat, hilft diesem nur bei der ohnehin begonnenen Umstrukturierung der staatlichen Repressionsorgane. Um das mörderische Zusammenspiel zwischen dem Staatsrassismus und seinen faschistischen Kettenhunden aufzubrechen, können wir weder an den Staat appellieren, noch mit political correctness argumentieren. Wir sollten stattdessen den Staat mehr und mehr zu einem Fremdkörper machen. Revolution ist nur von unten möglich! Und da sieht es nicht so schlecht aus, wie "Medienleute" und viele Linke vielleicht meinen. In einer im März veröffentlichten - und nicht von der Bild-Zeitung kommentierten - Studie gab die Bertelsmann-Stiftung bekannt, dass "nur etwas mehr als ein Viertel der Zeitarbeiter und etwa ein Fünftel der geringfügig Beschäftigten" "mit der Demokratie zufrieden" seien. Sie halten Gesellschaft und Wirtschaft für sehr ungerecht und gehen weniger zur Wahl als Vollzeitbeschäftigte, von denen die wählen gehen, stimmen 20 Prozent für linke Parteien. Auch die Bertelsmänner kriegen inzwischen Angst vor einer Entwicklung, die sie selber loszutreten geholfen haben.

Vielleicht hilft ein Blick nach Ägypten. Dort können wir beobachten, wie hilflos die Appelle der "Demokraten" sind, die Institutionen der Diktatur aufzulösen, um die Macht an eine zivile Regierung zu übergeben. Eine politische Reform, getrennt von sozialen Inhalten, denkt immer schon die neue Elite mit - was übrigens der Faschopropaganda Glaubwürdigkeit bei ihrem Anhang verleiht: ,die Linken und der Staat sind eins'! Ebenfalls in Ägypten können wir beobachten, dass soziale Kämpfe und der Kampf gegen Repressionsorgane zusammengehört: die Bewegungen "auf der Straße" stürmen auch Polizeistationen und Staatssicherheitszentralen.


Anmerkungen

(1)‍ ‍Der Artikel hat nicht zum Ziel, alle gesellschaftlichen Phänomene des Rassismus zu diskutieren, z.B. kann hier der Frage des Rassismus der Arbeiterklasse nicht systematisch nachgegangen werden. Nach wie vor hilfreiche Hinweise für eine solche Untersuchung finden sich z.B. in Die Rassismusfalle, Wildcat-Zirkular 14, auch online auf www.wildcatwww.de

"Neun mal hat er es jetzt schon getan / Die SoKo Bosporus, sie schlägt Alarm / Die Ermittler stehen unter Strom / Eine blutige Spur und keiner stoppt das Phantom (...) Schließlich am Dönerstand herrschen Angst und Schrecken / Kommt er vorbei, müssen sie verrecken"

(2)‍ ‍"Subvention, Korruption, Marktzerstörung" (Vortrag von Werner Rügemer am 24. September 2010 zur globalen Krise, Bankenrettung und Crony Capitalism).

(3)‍ ‍"Damals wie heute sind es Ausgrenzung und Abstiegsängste, welche die Menschen den Nazis in die Arme treiben." Interview mit Wolfgang Neskovic, Bundesrichter a. D. und Justiziar der PDL, für die er auch in Bundestag sitzt, am 15. Februar 2012 auf nachdenkseiten.de

Raute

Ägypten: Schritt für Schritt

Zum Jahreswechsel lag ein Generalstreik in der Luft, die Massenmilitanz auf der Straße schien den endgültigen Bruch mit der Militärregierung zu bedeuten. Die Streikwelle im September/Oktober, die militanten Proteste gegen das Massaker an koptischen Demonstranten, gegen die Räumung des Tahrirplatzes in Kairo und anderen Städten von Oktober bis Dezember hat bei vielen die Hoffnung auf eine "Zweite Revolution" genährt.

Dann ernüchterte der Wahlerfolg islamisch geprägter Parteien viele Beobachter.

Wer den Aufstand als "Demokratiebewegung" verstanden hat, muss zu allererst von der Wahlbeteiligung enttäuscht sein. 60 Prozent der 25 Mio. Wahlberechtigten nahmen an den Wahlen zum Unterhaus teil, zehn Prozent an denen zum Oberhaus. Die islamischen Parteien Freiheit und Gerechtigkeit (der Muslimbrüder) und Al Nour bekamen 60 Prozent und damit sechs bis sieben Millionen Wählerstimmen bei etwa 80-100 Mio. Einwohnern.

Dazu kommt, dass die Prozentzahlen für die eine oder andere Partei nicht viel über die Haltung der WählerInnen aussagen: Hossam al Hamalawy, linker Journalist und Mitglied der Revolutionären Sozialisten, beschreibt, dass viele sich als Linke bezeichnen, die tatsächlich (wirtschafts-)liberal eingestellt seien, und es unter den Liberalen viele gebe, die er als linksradikal bezeichnen würde.

Wichtiger als die Wahlen und charakteristisch für die Auseinandersetzungen der letzten Monate sind betriebliche Mobilisierungen und spontan ausbrechende Wut auf der Straße. Der Kampf gegen "das Regime" ist vor allem ein Kampf auf lokaler Ebene: gegen das korrupte Klientelsystem in den Betrieben, in der staatlichen Verwaltung besonders in der Provinz und in den verschiedenen Sicherheitsdiensten. Viele Menschen sind von der Armee enttäuscht, richten sich aber nicht gegen die Institution an sich, sondern gegen ihre Weigerung, einen Bruch mit den großen und kleinen Machthabern zu vollziehen.

In den Betrieben wird immer wieder gestreikt; im Dezember streikten 80.000 LehrerInnen, tausende Bahnangestellte, Arbeiter in Zuckerraffinerien und andere. Der Januar sah weniger Streiks in Großbetrieben und Fabriken, dafür Streiks und Blockaden von Transportarbeitern.

Die Blockade wichtiger Überlandverbindungen ist die wichtigste Kampfform von Transportarbeitern, Bauern und den Menschen in peripheren (Industrie-)Städten. Die ungeklärte und plötzliche Verteuerung von Kochgas und Sprit hat überall im Land eine Welle solcher Blockaden ausgelöst. Viele vermuten dahinter einen Test für die angekündigte Reduzierung der Energiesubventionen, die Regierung verteidigt sich mit einem Verweis auf Spekulanten im Geflecht der privatisierten Güterverteilung.

Die gegen den Militärrat gerichtete Demo am 18.11. und der auf einen Räumungsversuch der Armee folgende mehrwöchige Aufstand war vor allem der Wut über die repressive Gewalt des Militärs geschuldet: den Militärgerichtsverfahren und der öffentlichen Debatte um die Morde an weit über 100 Gefangenen in den fünf Hochsicherheitsknästen des Landes während der Revolte.

Das Massaker an Fans des Fußballvereins Al Ahly in Port Said am 31.‍ ‍Januar verlief nach dem gleichen Muster wie das an den Teilnehmern der koptischen Demo im Oktober - die Regierung verweist hilflos auf unbekannte Provokateure und die Demonstranten nehmen den Armeerat in die Verantwortung.

Die "Massen" kämpfen gegen das Regime, während verschiedene Gruppen der "Revolution" die Illusion von der Armee als Hüterin des "Gemeinwohls" durch die Illusion einer zivilen Regierung ersetzt haben. Sie versuchen, die Aufstände in ihrem Sinne zu funktionalisieren und sich in das politische Machtspiel einzubringen, indem sie sich möglichst schnell an die Spitze setzen und die Konkurrenz denunzieren:

Anhänger der Muslimbrüder schützen das Parlament vor "chaotischen" Demonstranten; Aktive der 6. April-Jugend und anderer Jugendgruppen wiederum klagen die Muslimbrüder an, während sie selbst versuchen, die wütende Menge vom Innenministerium zurück auf ihr Terrain zu lotsen - den Tahrirplatz; Gewerkschaftsaktivisten und - symphatisanten führen kurzerhand alle gerade stattfindenden Streiks auf ihren Generalstreikaufruf zurück und jede Lohnforderung auf ihre Forderung eines Mindestlohnes.

Aber keine der wichtigen Auseinandersetzungen der letzten Monate ist von den "revolutionären Gruppen" initiiert worden. Hamalawy betont als einer der wenigen Aktivisten, dass die Streiks und Proteste selbstständig organisiert wurden und linke Aktive in den Betrieben und den Stadtteilen zwar eine steigende, aber noch eine marginale Bedeutung haben.

Die herrschende Masse ist tief gespalten

Es gibt keine klar zu bestimmenden Machtblöcke, schon gar nicht ideologisch, etwa an der Frage der Religion. Der bis Juli 2011 amtierende Finanzminister des Militärrates, Samir Radwan, formulierte in einem Interview mit Al Ahram ziemlich klar das Programm der herrschenden Elite unter der Führung des Militärrates, aber auch ihr Dilemma. Man kann die Interessen des Militärrates nicht auf die Raffgier einiger Generäle verkürzen - allein Radals ehemaliger Berater des Vorstandes der International Labor Organisation (ILO) zeigt das. Die ägyptischen und globalen Eliten sind entschlossen, den neoliberalen Weg weiterzugehen, müssen dabei allerdings wenigstens einen Teil der Mittelschicht einbeziehen. Das scheint nicht durchgehend zu gelingen, denn die meisten Leute suchen eher Sicherheit und sind weit davon entfernt sich selbstständig zu machen. "Wir haben keine Unternehmer", jammert Radwan, "alle wollen beim Staat angestellt sein".

In dieser Situation muss der Militärrat wenigstens einen Rest an Legitimität bei den untersten Schichten der Gesellschaft sichern. Aber auch das stößt an Grenzen: Die junge Generation in den Slums artikuliert ihre Ansprüche zunehmend militant, die bisherige Oberschicht kämpft in der allgemeinen Unsicherheit umso verbissener um ihre Pfründe. Die in Massenhausbesetzungen gipfelnden Konflikte um die "korrekte" Vergabe von staatlich finanzierten Sozialwohnungen privater Investoren spiegeln z.T. diese Gemengelage wider, möglicherweise auch die Übergriffe gegen Demonstranten und Fußballfans. Aus diesem Grund schlingert der Militärrat hin und her.

Autoritarismus und Liberalismus gehen offensichtlich Hand in Hand, wie die Entwicklung auch bei uns immer deutlicher zeigt. Eine neue zivile Regierung wird nur mehr eine von der Armee nach oben und unten abgesicherte Technokratenregierung sein können - ob sie nun den Islam in ihrem Banner führt oder von allen "revolutionären Kräften" gebildet wird und "Regierung der Nationalen Rettung" heißt, wie der Vorstand der Egyptian Federation of Independent Trade Unions fordert.

Eine subjektiv "revolutionäre" Kraft gibt es in Ägypten momentan nicht. Das mag man als Außenstehender bedauern. Die vielen Kämpfe sind vielleicht tatsächlich "partikularistisch", da sie über den Moment hinaus keine allgemeine Vision formulieren. Andererseits ist das aber auch ihre Stärke. Es gelingt bisher keiner Schicht, ihre Vorstellungen durchzusetzen und sich auf Kosten der anderen an die Spitze zu setzen, und das kennzeichnet die Tiefe der Revolte, die bis in die vielen Kleinstädte des Landes reicht, in der die Mehrheit der Bevölkerung lebt. Sich auf dem Kairoer Tahrirplatz die Lufthoheit zu sichern, reicht nicht, wenn auf dem Land überall Straßen blockiert und Streiks geführt werden. Selbst der Ruf nach "Ruhe" wird immer wieder von erstaunlich zähen und entschlossenen Kämpfen durchbrochen.

Selbst die Anziehungskraft der Vision kapitalistischer Entwicklung schwindet. Bewegungen gegen Industrieansiedlungen haben trotz hoher Arbeitslosigkeit und materieller Not großen Rückhalt, die Menschen wissen, dass ihnen von Chemiefabriken und Atomkraftwerken nur der Dreck bleibt.

Es ist vor allem die Revolte "gegen" etwas, die nach vorne strebt.


Randnotizen:

"The egyptian revolution continues: an Interview with Hossam al Hamalawi", 10.12.2011, Europe Solidaire Sans Frontiere

Tycoons hinter den Massakern?
Drei Geschäftsleute und ehemalige NDP-Mitglieder werden mittlerweile hinter den tödlichen Übergriffen von Port Said vermutet: Mahmoud El-Minyawi, Stellvertretender Geschäftsführer von Telekom Egypt, El-Husseini Abu Qamar, ein Freund Gamal Mubaraks und Gamal Omar, ein lokaler Händler. Während der letzten Proteste wurde sein Warenhaus von einer wütenden Menge zerstört. "A city washed in sadness", Al Ahram, 16.02.2012

Auch die Angriffe gegen koptische Demonstranten im Oktober werden dem Umfeld der unter Gamal Mubarak reich gewordenen Geschäftsleute zugeschrieben, die damit ein Gesetz über den Ausschluss aller ehemaliger NDP-Mitglieder von politischen Posten verhindern wollten.

Mitte Januar wurde die Baustelle des ersten ägyptischen AKW in Dabaa an der westlichen Mittelmeerküste von hunderten Beduinen gestürmt, die vorher Rechte an dem Land hatten. Sie sprengten Gebäude der Nuklearbehörde in die Luft, bauten Häuser, verlegten ihren Viehmarkt dahin und stellten Platz für junge Menschen zur Verfügung, die keinen Platz zum Leben haben. Der Platz heißt nun "Neu-Dabaa".
In Damietta musste ein seit Jahren umstrittenes Düngemittelwerk nach militanten Protesten geschlossen werden.

Raute

Auf der Suche nach "Arbeiterkultur" in Ägyptens Textilfabriken

Samer S. Shehata: Shop Floor Culture and Politics in Egypt
Kairo: The American University in Cairo Press, 2010

"Der alte Mann stoppte in der Mitte der Fabrikhalle, warf seine Hände in die Luft und rief: ,Ich hab doch gar keine Kultur!'" Zum Glück hat Samer Shehata seine Suche nicht aufgegeben... "Shop Floor Culture and Politics in Egypt" ist seine Dokumentation einer neunmonatigen ethnographischen Recherche in zwei Textilfabriken in Alexandria im Jahr 1996. Der gebürtige Alexandriner wuchs in England und den USA auf Während seines Studiums kam er mit dem Marxismus in Berührung, vor allem in Form linker Industriesoziologie und "kulturalistischer" Sichtweisen auf den Prozess der Klassenbildung (E.P. Thompson). Als Spülmaschinenführer will er mittels teilnehmender Beobachtung ergründen, wie sich die Arbeiterklasse im Kern der ägyptischen Industrie und in den umliegenden Stadtvierteln konstituiert. Spannend ist die Lektüre seiner Untersuchung vor allem, weil sie im Ergebnis (auch) die sehr persönliche Auseinandersetzung mit seiner eigenen Herkunftsgesellschaft zeigt.

Ihm selbst war zu Anfang wohl nicht klar, wie gesellschaftserschütternd allein der Schritt eines Ägypto-Amerikaners aus respektabler Familie in die Fabrik sein würde: "Meine Anwesenheit in der Fabrik, als sich an der Maschine plagender "Arbeiter", zersetzte das Verständnis aller Beteiligten vom ägyptischen Klassensystem ganz grundlegend." Seine Erfahrung spiegelt sich am eindrucksvollsten in den vielen Alltagserlebnissen, skurrilen Anekdoten und der Darstellung seiner neu gewonnenen Freunde, die durch Fotos ergänzt wird. Sein kulturalistischer Blick hat vielleicht den Nachteil, dass er den Arbeitsprozess an sich wenig beachtet - Unterschiede werden betont, Gemeinsamkeiten mit der Fabrikarbeit bei uns treten in den Hintergrund. Er arbeitet jedoch viele andere Aspekt heraus, die das wettmachen.

Zwischen einer methodischen Einleitung ("Annäherungen an Soziale Klasse und Klassenstruktur") und dem resümierenden Schlusskapitel ("Ethnographie, Identität und die Produktion von Wissen") widmen sich vier Kapitel der Kultur und alltäglichen Klassenbildung, dem Arbeitsprozess, widerständigem Verhalten und Hierarchien in der Fabrik.

"Klasse" als soziale Kategorie stellt sich nicht aus sich selbst heraus her, sondern nur in der Auseinandersetzung, das ist seine wichtigste Erkenntnis. Dementsprechend handelt sein erstes Kapitel von der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Arbeiter und ihrem Verhältnis zu Angestellten und Management. Die Hierarchie ist eines seiner Hauptthemen; symbolisch trennt die Plastiksandale "den Arbeiter" kollektiv von den Angestellten: Shehatas Recherche wird von den Vorgesetzten nicht verstanden und immer wieder sabotiert. Aber sie akzeptieren ihn als einen der ihren, wenn auch kopfschüttelnd. Als er jedoch erwägt, sich wie die Arbeiter aus praktischen Gründen Plastiksandalen anzuziehen, bilden ausgerechnet sie die letzte Grenzlinie, die er nicht überschreiten darf.

Wie sich Arbeiter und Angestellte wahrnehmen, fußt auf der von oben gesetzten Ungleichbehandlung: Viele untere Angestellte verdienen nicht mehr als Arbeiter, aber sie werden im Alltag ganz anders behandelt. Sie arbeiten weniger Stunden, machen keine Schichtarbeit, werden mit Bussen gefahren und bekommen ihren Lohn auf ein Bankkonto überwiesen. So wird ihnen Respekt und Individualität vorgegaukelt, dabei ist ihre Einordnung in die Hierarchie viel persönlicher. Die Arbeiter werden als Kollektiv behandelt und haben sich unterzuordnen - die Angestellten werden als Einzelne gedemütigt und geben diese Demütigungen weiter.

Die Kollektivität in der Fabrikhalle zeigt sich besonders in der Gestaltung des Essens und der unabdingbaren Teepausen, die in einem chaotischen Zeremoniell zelebriert werden.

"Das eigentliche Ausgießen des Tees ist schwerlich ein organisierter oder systematischer Vorgang, [...] die gesamte Fabrikhalle versammelt sich und alle greifen zur selben Zeit nach Tee, Zucker und dem Löffel. Das ist wirklich eine Quelle des Spaßes, des Unfugs und Meiner Konflikte. Immer, wenn irgendwer Tee eingießen will, greift wer anders nach dem Löffel und beginnt, hektisch in allen bereits mit Tee und Zucker gefüllten Gläsern zu rühren".

Erst im Schlusskapitel wird deutlich, wie stark die Kollektivität der Arbeiter auf Identitäten beruht, die der Individualisierung des Neoliberalismus entgegengehalten werden. Religion ist eine der wichtigsten Identitäten, die über die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft entscheidet. Für Shehatas (wenn auch partielle) Akzeptanz unter den Arbeitern war sein "Outing" als Moslem und seine Teilnahme am gemeinsamen Gebet entscheidend. Er beobachtet zwar weder ernsthafte Konflikte um die Religionszugehörigkeit noch große Frömmigkeit. Aber sie bietet ein Wertesystem und setzt Normen - gegen das eigene Herrschaftsregime und seine Zerstörung des Zusammenhalts unter den Arbeitern. Und gegen das als Kolonialgewalt erfahrene Regime "des Westens", von dem sie sich abgrenzen, dessen (vermuteten) Lebensstandard und Freiheit sie aber gleichzeitig anstreben.

Außerdem hilft die Religion dabei, Konflikte zu regeln. Der Arbeitsalltag wird nicht durch tarifliche Arbeitspausen, sondern durch die regelmäßigen kollektiven Gebete strukturiert. Wann gebetet wird, bestimmt der Scheich, er ist das Bindeglied zwischen Arbeitern, Vorarbeitern und Schichtleitern. Er muss vor allem ein moralisch integerer Kollege sein; dass er sich mit dem Koran auskennt, ist nicht wesentlich. Die Angestellten, mit denen sich Shehata ab und an in der Cafeteria trifft, lachen über die Scheichs der Arbeiter: Für sie muss ein Scheich eine formale Qualifikation haben, eine Religionsschule besucht haben, den Koran und die Hadithen auswendig können.

Ein weiterer Aspekt der ägyptischen Klassenrealität ist die enge Verflechtung der Industriearbeit mit der informellen Wirtschaft. Fast alle Kollegen verdienen nebenbei Geld in oder außerhalb der Fabrik. Die Fabrikhalle ist ein großer Markt, in dem jeder Schuhe, schwarz kopierte Kassetten, Süßigkeiten und anderes verkauft. Nach der Arbeit gehen die meisten noch auf den Markt, um dort im Tagelohn Kisten zu schleppen. Shehatas Suche nach einer Wohnung in einem reinen Arbeiterviertel bleibt dementsprechend erfolglos: In Alexandria gibt es lediglich "popular districts", also Armeleuteviertel.

Shehata zeigt, dass die Organisationsstruktur der Fabrik und die des Staates sich entsprechen und dass beide institutionell und personell verbunden sind. Der bürokratische Zentralismus der "sozialistischen" Ära wurde mit der Liberalisierung durch ein System autoritären und korrupten Klientelismus ersetzt. Offiziell ging es um Effizienzsteigerung; tatsächlich hat sich lediglich die Machtbefugnis des Bashas enorm erweitert, da die meisten alten institutionellen und juristischen Einschränkungen abgeschafft wurden.

In der Fabrik ist der Basha der uneingeschränkte Herr im Haus, sein Daumen entscheidet über das Wohl und Wehe jedes Einzelnen. Dazu gehört auch körperliche Gewalt gegenüber Angestellten. Allmorgendlich erwartet ihn eine Menschenmenge, die versucht, einen Moment seiner Aufmerksamkeit zu erhaschen. Es gibt einen betrieblichen Sicherheitsdienst, zu dem neben dem offiziellen Werksschutz auch eine große "Public Relations"-Abteilung gehört, die im wesentlichen die firmeninterne Spitzelabteilung ist.

Die Hierarchie ist nicht formalisiert, sondern dadurch bestimmt, welches Verhältnis man zu denen "da oben" hat. Das mittlere Management versucht sich dennoch, über formale Qualifikation nach unten abzugrenzen, und steht zwischen der Angst vor dem "kollektiven Arbeiter" und den einzelnen kleinen Herrschern. Dieses Verhältnis bestimmt die ganze gesellschaftliche Struktur: jeder Aufstieg oder auch nur das Halten des Status Quo hängt von persönlichen Beziehungen ab - da kann es schon bedrohlich für einen Ingenieur sein, wenn er auf der Straße von einer Arbeiterin vertraulich angesprochen wird.

Die Arbeiter sind einerseits sozial und kollegial, andererseits gibt es auch bei ihnen Abgrenzung nach unten. Der unglaublichen Arroganz der Vorgesetzten gegenüber den Arbeitern entspricht die persönliche Häme eines Maschinenführers gegenüber einem Hilfsarbeiter, der auch mal eine Maschine fahren darf und zeigen will, was er drauf hat. Die Schilderung des daraus resultierenden Streits wirkt wie das Finale des Berichts - Shehata verlässt den Platz als unbeteiligter Beobachter und Forscher, mischt sich ein und ist auf einmal Teil der Auseinandersetzung. Er kann sie im nachhinein als klassischen Akkordkonflikt entschlüsseln, gemeinsam mit den anderen im Kollektiv auflösen kann er sie aber nicht. Er kann nur seine persönliche Autorität und sein Können als Maschinenführer in die Waagschale werfen.

Die Gewerkschaft mit ihrer obligatorischen Mitgliedschaft bietet keinen Kristallisationspunkt für Kollektivität; sie ist allein eine staatliche Institution und nur durch ihre Funktionäre präsent. Deren Autorität leitet sich entweder von Amtern in der Regierungspartei und als Parlamentsabgeordnete ab, oder aus der guten Zusammenarbeit mit dem Basha. Die Gewerkschaft hat keinen kollektiven Unterbau, im Gegenteil gehört sie zum betrieblichen Repressionsapparat, der auch mal Arbeiteraktivisten an die Staatssicherheit ausliefert.

Konflikte werden so durch Bestechung und Repression individualisiert. Shehata will daher nicht von einer "Einbindung" der Gewerkschaft sprechen, sie ist eigentlich gar keine Gewerkschaft. Ein "Agreement" zwischen Arbeitern und Unternehmern gehe es einzig in dem Sinne, dass alles mögliche geduldet wird: langsames, unproduktives Arbeiten, solange man die Autorität des Nächsthöheren nicht in Frage stellt.

Shehata gelingt es, die Kollektivität in der Fabrikhalle im Kontrast zur Angestelltenwelt schlüssig nachzuzeichnen. Seine Schilderungen des Alltags lassen aber erahnen, dass sich auch unter den Arbeitern die Individualisierung der neoliberalen Ära bemerkbar macht.

Wir können für unsere Wahrnehmung der ägyptischen Arbeiterkämpfe von Shehatas Untersuchung mindestens drei wichtige Punkte mitnehmen: Erstens den Zweifel, ob die neu gegründeten unabhängigen Gewerkschaften tatsächlich Ausdruck neuer Klassenstärke sind - auch sie haben keine Basisstrukturen - oder ob in ihnen nicht vielmehr neue Angestelltenschichten zur Macht drängen. Zweitens die Erkenntnis, dass eine riesige soziale Kluft zwischen der Realität der Klasse und auch den sehr engagierten und kenntnisreichen Beobachtern aus der Mittelschicht klafft. Wenige, wie etwa Hossam al Hamalawy, können das reflektieren. Und schließlich ein besseres Verständnis der widersprüchlichen und identitätsstiftenden Rolle der Religion. Identitäten schaffen Gemeinsamkeit, und schließen gleichzeitig aus. Der demonstrative Säkularismus der bürgerlichen modernistischen Opposition trägt auch ein individualistisches Moment in sich, das das Ringen der "Masse" um Kollektivität ignoriert. Das bedingt Entfremdungen zwischen beiden Gruppen.

Raute

Soziale Elemente

Schmid, Bernhard: Die arabische Revolution? Soziale Elemente und Jugendprotest in den nordafrikanischen Revolten.
Münster 2011 (edition assemblage) 120 Seiten | 12,80 Euro

Bernhard Schmid schrieb und schreibt regelmäßig über den "arabischen Frühling". Die Themen des Buches sind auch die Themen, zu denen er sich mit Artikeln in ak, jungle world und labournet an Diskussionen beteiligte und wichtige aktuelle Informationen und Einschätzungen liefert(e).

So setzt er gegen die Angst vor der Wiederholung einer islamistischen Konterrevolution die reale Bedeutung der islamistischen Parteien und Organisationen in den einzelnen Ländern mit ihrer jeweils unterschiedlichen sozialen Basis und unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtung. Der These, es handle sich bei den Aufständen um vom "Westen" gesteuerte und initiierte Bewegungen, begegnet er mit Beschreibungen des zum Teil konfusen Handelns des "Westens". Die Antworten der Regimes beschreibt er an konkreten Beispielen als "Zuckerbrot und Peitsche": institutionelle Reformen, Ölrente ausschütten und/oder Repression gegen die Bewegung. Die Regimes in Tunesien und Ägypten seien lediglich "enthauptet", die Strukturen bleiben weiterhin machtvoll. Die wirtschaftliche Situation erschwert eine Stabilisierung und Befriedung. Die gehypte Relevanz von neuen sozialen Medien relativiert er, vor allem mit den Hinweisen auf die damit mögliche Überwachung und dass die Revolte auch nach Blockierung des Internetzugangs in verschiedenen Ländern weiterging. Bei aller Freude über die Entwicklungen in Nordafrika weist Schmid zurecht daraufhin, dass die Kämpfe allein durch gegenseitige Bezugnahme und gemeinsame Parolen sich nicht vereinheitlichen.

All diese Punkte aus seinen Artikeln sind auch im Buch Thema.

Eine politische Einschätzung zur "arabischen Revolution", auf die man aufgrund des Fragezeichens im Titel wartet, steht nicht im Zentrum des Buches.

Ausführlicher wird diese Frage nur im zweiten Kapitel thematisiert, in dem es um "Soziale Bewegungen, Gewerkschaften, Arbeiterbewegung und Demokratieforderungen" geht. In Bezug auf Tunesien stellt er dort kurz fest, dass das "auslösende Element der Massenproteste (...) klar eine soziale Revolte" gewesen sei. Diese sei aber in eine "de facto klassenübergreifende, demokratische Massenbewegung" übergegangen (S. 11). Für "klassenübergreifend" nennt er dann als einzigen Beleg die Beteiligung von Anwälten bei den Protesten. Damit ist die Frage nach der Art der "Revolution" im Buch auch schon beantwortet.

Ob "die Interessen dieser tunesischen Bourgeoisie einerseits, jene der Jugend, des prekären Subproletariats im 'informellen Sektor' und der Arbeiterschaft andererseits (...) in naher Zukunft erheblich auseinanderdriften", wie er im express 01/11 noch fragte, wird im Buch nicht behandelt. Schmid hebt zwar die Stärke von Arbeiterkämpfen in verschiedenen Ländern und ihre Bedeutung für die Aufstände hervor und vergleicht unter dieser Fragestellung Tunesien, Ägypten, Libyen, Jemen und Bahrain - allerdings auf nur neun Seiten und fixiert auf die Neuordnung der Gewerkschaften.

Schmid bringt viele interessante Detailleinformationen, diskutiert ihre Bedeutung aber nur selten und lässt die "Fakten" oft nebeneinander stehen. Unklar bleibt dann, ob er eine These vertreten will oder ob es eine zufällige Anordnung ist.

Wenn er zum Beispiel auf die Erwähnung von Aufrufen zum Generalstreik in Ägypten für den 11. Februar den Hinweis bringt, dass Mubarak just an diesem Tag zurückgetreten ist (S. 15), entsteht der Eindruck, dass Schmid hier einen direkten Zusammenhang sieht. Welche Bedeutung aber ein Generalstreik noch haben kann, wenn sowieso schon von Mubaraks Regime eine Ausgangs-, Banken-, Internet-, Telefonsperre verfügt wurde, wird nicht hinterfragt.

Das Zusammentragen von Informationen über einen breiten geographischen Raum (Schmid behandelt im Gegensatz zu vielen anderen auch die Golfstaaten im Zusammenhang der arabischen Revolution) ist dennoch die Stärke des Buches. Wer Schmids Artikel allerdings kennt und nun auf eine Systematisierung und fundierte politische Thesen hoffte, wird enttäuscht.

Raute

natural born golfers...
Migrantinnen am Golf die größten Kämpfe in der Geschichte

Auf der Landkarte des Arabischen Frühlings werden die im Golfkooperationsrat (GCC) zusammengeschlossenen (Öl-)Staaten auf der arabischen Halbinsel als weiße Flecken wahrgenommen - mit Ausnahme des kleinen Stadtstaates Bahrain. Tatsächlich aber sind diese Staaten lange nicht so stabil, wie es scheint.

Richtig ist, dass lediglich in Bahrain eine "Demokratiebewegung" auftrat, die das politische System an den Rand des Zusammenbruches bringen konnte. Richtig ist aber auch, dass in fast allen dieser Staaten seit mehreren Jahren die breitesten und massivsten Arbeiterkämpfe toben, die der Persische Golf je erlebt hat - nur waren ihre Träger bis in die jüngste Vergangenheit asiatische Wanderarbeiter.(1)

Im Jahr 2011 gab es erstmalig Streiks von einheimischen Angestellten und andere Bekundungen sozialer Unruhe, die diese Gemengelage verändert haben.

Wir wollen im Folgenden die Gesellschaften der Golfstaaten skizzieren und die Entstehung einer "Klassenbewegung" ausloten, die die Trennung zwischen StaatsbürgerInnen und MigrantInnen aufheben könnte.

Die bisherige Stabilität der Golfstaaten hängt finanziell an den immensen Einkünften aus der Ölförderung und -verarbeitung und sozial an einer seit bald 40 Jahren andauernden und sich weiter verschärfenden rassistischen Gesellschaftsstruktur. Den Staatsbürgern wird bislang weitgehende materielle Sicherheit geboten, die von subventionierten Grundnahrungsmitteln, Wasser, Energie bis zum kostenlosen Gesundheits- und Bildungswesen und Jobgarantien im Staatsdienst reicht. Sie werden aber mittlerweile zur Randgruppe; die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung und erst recht der arbeitenden Bevölkerung sind vor allem asiatische Migranten. Es wird unhaltbar, dass diese Mehrheit auf den Status von Heloten gedrückt wird und ihre "Kontrolleure" ausschließlich dem Müßiggang frönen. Die Sicherheitsapparate der Staaten selbst bestehen zunehmend aus Migranten oder werden gleich von Blackwater gestellt. Die seit ungefähr sieben Jahren nicht abreißenden Streikwellen ausländischer Bauarbeiter haben diese Struktur stark ins Wanken gebracht. Die jeweiligen Regierungen haben mit dem Versuch reagiert, "ihre" Bevölkerung über Quotenregelungen ans Arbeiten zu kriegen. Das wiederum scheitert letztendlich u. a. an den Erwartungen der jüngeren Generation, von denen viele zwar den Goldenen Käfig satt haben und andere Perspektiven fordern - aber nicht zu Weltmarktbedingungen.

Die gesellschaftlichen Konflikte in den Golfstaaten drehen sich um vier Punkte und werden von vier Bevölkerungsschichten getragen:

• eine einheimische Mittelschicht fordert ökonomische Chancen und Möglichkeiten politischer Partizipation

• eine zunehmend marginalisierte Schicht einheimischer Bevölkerung kämpft gegen die Verschlechterung und Aushöhlung der Sozialsysteme,

• eine größer werdende Schicht von Staatenlosen (z. B. sogenannte Beduinen) und Illegalisierten fordert Staatsbürgerschaft und entsprechenden Zugang zu den Sozialsystemen und kämpft gegen ihre rechtliche und soziale Marginalisierung.

Wanderarbeiter kämpfen für eine Verbesserung ihrer Lohn- und Arbeitsbedingungen und ihres rechtlichen Status, insbesondere gegen das rigide Aufenthaltsrecht.

Eine entscheidende Frage wird sein, ob sich aus dieser sozialen Gemengelage eine Klasse herausbildet, die die Segmentierungen der Gesellschaft überwinden kann.(2)


Von wo kann eine politische Neuzusammensetzung der Klasse ausgehen?

Das mobile Proletariat, die multinationalen Wanderarbeiter auf den Baustellen? Sie haben zwar militante Kämpfe geführt, haben ihren Lebenszusammenhang aber nur bedingt in den Ländern, in denen sie temporär arbeiten.

Die langjährig in den Golfstaaten lebenden Dienstleistungsangestellten? Die in privaten Haushalten lebenden Hausangestellten sind sehr isoliert, ihnen war es in der Vergangenheit nicht möglich, kollektive Kämpfe zu führen.

Die einheimischen und ausländischen im öffentlichen Dienst Beschäftigten, etwa Lehrer und andere Staatsangestellte? Die Streiks von Technikern und Verwaltungsangestellten in Saudi-Arabien und Kuwait haben Tabus gebrochen und konnten faktisch Räume öffnen, in denen sich auch andere, in der Arbeitsteilung weniger durchsetzungsstarke Gruppen artikulieren konnten, so z. B. einheimische und ausländische Lehrerinnen, die öffentliche Sit-ins in Kuwait organisierten.

Diejenigen, die illegalisiert wurden und als wachsendes Subproletariat im informellen Sektor zusammen mit deklassierten Einheimischen arbeiten? Die Riots von jugendlichen Staatenlosen ("Beduinen") in den armen Außenbezirken Kuwait Citys im Februar und März letzten Jahres können dafür als ein Beispiel dienen.

Oder braucht es dafür eine Klasse von Industriearbeitern, die aber in den neuen Industriezonen erst im Entstehen begriffen ist? Wirklich gemeinsam gekämpft wurde bisher vor allem in den Industriezonen von Bahrain, Oman, aber auch abseits des Golfs in den Qualified Industrial Zones in Jordanien.

Während auf den Baustellen größtenteils Wanderarbeiter zu finden sind, erfordern gerade die kapitalintensiven Industrien, in die in den letzten Jahren viel investiert worden ist, eine ansässige Klasse. Das Konzept "Wanderarbeit" wird hier zunehmend obsolet.


KAPITAL
Der Golfplatz

Der Golfkooperationsrat besteht aus Saudi-Arabien (KSA = Kingdom of Saudi Arabia), Kuwait, Bahrain, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Oman. Insgesamt leben in diesen sechs Ländern etwas mehr als 45 Mio. Menschen; die "Wirtschaftskraft" ist recht unterschiedlich verteilt; an der Spitze steht das kleine Katar mit nicht einmal zwei Millionen Einwohnern, danach kommen Kuwait und die VAE.

Auf der Arabischen Halbinsel spielt der Jemen mit seinen 24 Millionen Einwohnern eine Sonderrolle; in seinen Wüsten wird kaum Öl gefördert stattdessen hat er lange als wichtiges Arbeitskräftereservoir gedient. Heute bietet er mittlerweile 200.000 Flüchtlingen und einer halben Million MigrantInnen aus Ostafrika einen ersten Sammelpunkt für den Schritt in andere Länder des Mittleren Ostens.

Gemeinsam ist diesen Ländern das weitgehende Fehlen einer traditionellen bäuerlichen Landbevölkerung; bis zum Ölboom ab den 30er Jahren war ein Großteil der Bevölkerung Nomaden, nur in den Oasen lebten einige sesshafte Bauern. An den Küsten des Persischen Golfes gab es Handels- / Piratenstädte. Dazu kam traditionelles Gewerbe, wie z. B. die Perlentaucherei in Oman. Die mittlerweile überkommene Struktur der "Stämme" spiegelt die traditionelle Gesellschaftsstruktur wider, dabei ging es weniger um Blutsverwandtschaft als um die soziale Organisation unterschiedlicher Schichten. Die Nachkommen afrikanischer Sklaven in Saudi-Arabien etwa gehören bestimmten Familien an, auch wenn ihre gemeinsame Herkunft eher mythischer Natur ist. Die "Familien" haben in diesem Fall u. a. den Zugang zu bestimmten Arbeiten wie der Perlentaucherei geregelt.

Das Staatsbürgerschaftskonzept steht den Stämmen entgegen, ohne sie allerdings gänzlich aufzulösen. Heute überlagern sich korrupte Klientelnetzwerke mit traditionellen Familienbeziehungen und rassistischen Stigmatisierungen. Vor dem Gesetz sind alle Staatsbürger gleich, aber gutbezahlte Stellen und Leitungsfunktionen werden nach Verwandtschaft und Familienzugehörigkeit vergeben.


Boom ab 2002 und Neuzusammensetzung des Kapitals

Der "Krieg gegen den Terror" (Afghanistan 2002 und Irak 2003) hat den Golfstaaten zu einem wirtschaftlichen Boom verholfen. Der Verzehnfachung der Ölpreise zwischen 1999 und Ende 2007 und die Ausweitung der Produktion um ein Fünftel brachten den sechs Ländern des GCC bis 2008 durchschnittlich 330 Mrd. Dollar jährlicher Einnahmen - doppelt so viel wie in den fünf Jahren zuvor. Die zu Beginn der Immobilienkrise dramatisch steigenden Rohstoffpreise von 2007 bis 2008 ließen die Einnahmen der Ölstaaten noch mal um 50 Prozent steigen.(3)

Dazu kam die massive Rückverlagerung "arabischen Kapitals" aus den USA in die Golfstaaten, allein für Dubai geschätzt 300 Mrd. Dollar.

Der Boom hat das kombinierte BIP der sechs Länder von 2002 auf 2008 verdreifacht. Allerdings verdeckt der ausschließliche Blick auf die - durch den Anstieg der Rohölpreise begründeten - staatlichen Einnahmen den wachsenden Industriesektor, der das geförderte Öl und Gas selber weiterverarbeitet. Dieser Sektor ist formal privatwirtschaftlich organisiert. Außerdem überstieg das Wachstum der "non-oil economy" das der Ölwirtschaft. Vor allem hier zeigt sich die massive Verflechtung des einheimischen mit dem globalen Kapital; wollten die klassischen "Entwicklungsdiktaturen" der 50er und 60er Jahre einen geschützten Raum für ihre eigene Industrieproduktion schaffen, drängen die Regierungen heute auf eine vollständige Öffnung und Deregulierung.(4)

Erstmals strömten ausländische Direktinvestitionen in die Golfländer, vor allem in den Energie- und Bausektor. Außerdem zog die Kombination aus billiger Energie und billigen ausländischen Arbeitskräften viel Kapital für den Ausbau von Grundstoff- und Petrochemieindustrien an.

Öleinnahmen, die nicht in die Geldmärkte gepumpt werden, fließen in die Sozialsysteme für die einheimische Bevölkerung. Aufgrund des steigenden Ölpreises konnten diese Ausgaben erhöht werden, gleichzeitig ist aber auch die Bevölkerung rapide gewachsen. Zudem werden nur die Gewinne aus dem Rohölverkauf abgeschöpft, während alle anderen Wirtschaftsbereiche privat betrieben und kaum besteuert werden. Damit machen sich die Staaten von den schwankenden Preisen für Rohöl abhängig: Kuwait schießt in dieser Hinsicht den Vogel ab; 85 Prozent seiner Öleinnahmen werden für die Löhne seiner fast 300.000 Angestellten aufgewendet - bei einer Staatsbürgerbevölkerung von 800.000.

Die staatlichen Ausgaben haben sich seit 2004 verdreifacht, die Lohnausgaben ungefähr im gleichen Maßstab. Sie können bei gleich bleibenden Fördermengen nur bei einem Ölpreis von mehr als 100 Dollar/Barrel gedeckt werden. Für Saudi-Arabien liegt dieser Wert momentan bei 70 Dollar, 2012 voraussichtlich bei 90 Dollar. Liegen die Ölpreise unter diesen Werten, muss auf die (allerdings immensen) Rücklagen zurückgegriffen werden, d. h. es muss zum Beispiel Kapital aus Investments abgezogen werden. Damit gelang es kurzfristig, den Einbruch der Ölpreise von seinen Höchstständen auf ein Fünfjahrestief im Winter 2008 abzufedern. In dieser Zeit brachen die Staatseinnahmen um ein Drittel ein. Ein Kollaps der aufgepumpten Immobilienbranche in Dubai konnte nur mühsam verhindert werden.

Heute hat der Boom fünf Säulen, nämlich eine gigantischen Ausbau in folgenden Bereichen:

Verkehrsinfrastruktur (Autobahnen, Häfen usw.),

Infrastruktur für neue Zentren des Finanzkapitals

repräsentative Touristen"magnete" wie Fußballstadien, Hotels, künstliche Inseln an den Küsten des Persischen Golfs,

allgemeine Infrastruktur wie Kraft- und Wasserwerke,

energie- und kapitalintensive Industrien.

Der Golf hat sich zu einem der global größten Standorte der Aluminiumschmelze entwickelt: Ein Viertel aller Industrieinvestitionen ist in den letzten Jahren in die Erweiterung der Kapazitäten geflossen; der Weltmarktanteil soll von vier auf 18 Prozent gesteigert werden.

Er ist außerdem der weltgrößte Petrochemie-Standort: 25 der 120 Millionen Tonnen der momentanen Weltproduktion von Polyethylen und Polypropylen werden in den Golfstaaten (inkl. Iran) erzeugt. Saudi-Arabien ist führend beim Übergang von der reinen Raffinierung von Rohöl hin zur "höherwertigeren" Weiterverarbeitung; hier entsteht der weltgrößte Petrochemiekomplex.

Der Investitionsboom wird noch weiter angefacht: Momentan sind Projekte über 2,5 Billionen (!) Dollar im Bau oder in Planung. Das beinhaltet einige der weltgrößten Einzelbauprojekte; allein für die Fußball-WM 2022 will Katar 50 Milliarden Dollar in Infrastruktur und Gebäude investieren.

Um Anlagekapital anziehen, müssen diese Investitionen profitabel werden - und das ist letzten Endes an niedrige Lohnkosten gebunden. Damit steigt der Druck auf die einfachen, meist migrantischen Arbeiter, aber auch auf die höher qualifizierten Einheimischen, die zumindest produktiv arbeiten sollen. Die Lohnkosten sind unter anderem an niedrige Lebenshaltungskosten gekoppelt; angesichts der nahezu vollständigen Abhängigkeit von Lebensmittelimporten sind die GCC-Staaten den Schwankungen der Weltmärkte ausgeliefert. So läuteten die Inflation der Lebensmittelpreise im Zyklus bis Mitte 2008, der Anstieg der Wohnungskosten durch den Bevölkerungszuwachs und schließlich der durch die Hypothekenkrise beschleunigte Verfall des Dollars (die Währung, in der die ausländischen Arbeiter bezahlt werden) ab etwa 2004 eine intensive Kampfphase der ausländischen Arbeiter ein, die als Erste von den Teuerungen betroffen waren. Die meisten Streiks dieser Jahre waren eine Reaktion auf die deutliche Entwertung der Löhne. Der Boom beförderte dazu noch die politische Unzufriedenheit unter den Einheimischen: Die jungen Uni-Absolventen verstehen nicht, dass ihr erlangtes Wissen in vielen Fällen nicht den Anforderungen multinationaler Unternehmen genügt. Zugleich wird die soziale Kluft innerhalb des Staatsbürgervolkes größer.


ARBEITER
Zusammensetzung der Arbeiterklasse

Seit den 50er Jahren hat sich die Bevölkerung mehr als verzehnfacht (in den sechs Ländern von vier Millionen 1950 auf offiziell heute 45 Millionen). In Katar und den Emiraten, den wichtigsten Wachstumsmotoren der GCC, ist der Bevölkerungszuwachs besonders drastisch: Die Einwohnerzahl hat sich dort von 2005 bis heute verdoppelt! Diese Entwicklung geht auf den Zuzug von Millionen Migranten zurück - die Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung ist seit den 80er Jahren deutlich zurückgegangen. Die Menschen leben heute zu über 90 Prozent in Städten und verteilen sich hauptsächlich auf die Agglomerationen an den Küsten.

Traditionell ist die Beschäftigungsrate der Einheimischen im weltweiten Vergleich sehr niedrig, bei Frauen extrem niedrig - gerade die der Letzteren hat in den letzten Jahren allerdings deutlich zugenommen. Das heißt erstmal, dass die "Arbeitslosigkeit" zurückgegangen ist. Dass sie dennoch verstärkt als politisches Problem auftaucht, liegt an mehreren Faktoren: Die Urbanisierung verstärkt die Notwendigkeit, außerhalb des Hauses / Familienbetriebes arbeiten zu gehen, weil die Familienreproduktion in den Städten entweder auf staatlichen Transferzahlungen oder auf formaler und informeller Lohnarbeit beruht. Zudem steigt der Qualifizierungsgrad, ohne dass es entsprechende Stellen gibt.

Die Löhne in der öffentlichen Verwaltung liegen geschätzt im Schnitt immer noch 40 Prozent über denen in der Privatwirtschaft, der Großteil der einheimischen Bevölkerung will dort arbeiten. Gleichwohl haben auch hier Lohnspreizung und Teilzeitarbeit zugenommen, die Arbeitsstellen nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt gehalten. Damit stehen viele vor der Alternative, sich weiter zu qualifizieren oder sich mit einem schlecht bezahlten Teilzeitjob zufriedenzugeben, den sie nach immer längerer Wartezeit ergattern können. Die Bewerbungen im Privatsektor bleiben trotz hoher Arbeitslosigkeit im Schnitt gering - in den meisten Ländern beträgt dort der Anteil der Einheimischen fünf bis 20 Prozent; Kuwait mit unter zwei und Oman mit 50‍ ‍Prozent sind die Ausreißer. Auf Stellen im Privatsektor bewerben sich oft die in Privatschulen und -unis gut ausgebildeten Kinder der Elite. Dort werden allerdings vielfach Expats bevorzugt, die produktiver arbeiten und weniger Ansprüche stellen. Die "arbeitslosen Akademiker" sind also weniger ein Zeichen für den Wunsch nach Selbstverwirklichung als für eine Krise des Arbeitsmarktes.

Die Herrschenden müssen langsam den Druck auf den relativ armen Teil des Staatsbürgervolkes erhöhen und durch Investitionen in zukunftsfähige Hochtechnologien der Elite Anreize bieten, sich anzustrengen und zu arbeiten. Verstärkt ab 2006 wurden in allen Ländern des GCC unter den Schlagworten "Saudization", "Omanization" usw. Quotenregelungen für die Beschäftigung von Einheimischen eingeführt. Die Garantien für Einheimische am unteren Ende der Pyramide werden herabgesetzt, die ausländischen Beschäftigten noch weiter ausgepresst, um die Arbeit für sie unattraktiv zu machen. Die Erfolge dieser Politik sind dürftig; Quoten im Privatsektor wurden entweder stillschweigend oder durch Illegalisierung tatsächlich ignoriert oder nach Protesten von Geschäftsleuten zurückgenommen.


Neuzusammensetzung der Klasse im Boom

Die öffentliche Verwaltung ist eine Domäne von nationals und zu einem kleinen Teil von Angehörigen anderer GCC-Staaten. Während hier in den letzten Jahren eine Million neuer Stellen geschaffen wurden, entstanden im Privatsektor sechs Millionen. Der wird von Ausländern dominiert.

Die migrantische Klasse besteht im Wesentlichen aus drei großen Gruppen:

• Mindestens fünf Millionen Migranten arbeiten in der
Bauindustrie.

• Die zweite große Gruppe sind Hausangestellte für die einheimische und ausländische Mittel- und Oberschicht (statistisch kommen auf jeden Kuwaiti 0,7 Dienstmädchen!).

• Die höher qualifizierten Migranten sind eine relativ kleine Gruppe. Sie bilden zusammen mit Händlern so etwas wie eine "migrantische Mittelschicht", die schwerer auszutauschen ist und deren politische Unterdrückung nicht so leicht durchgesetzt werden kann.


Migranten

Es gibt wenig zuverlässige Daten über die Demographie der migrantischen Arbeiter - schon ihre absolute Zahl ist umstritten. Sie ist von einer Million in den frühen 70er Jahren auf über 25 Mio. angewachsen. Es gibt aber einige Charakteristika:

• Man kann nicht von einem Arbeitsmarkt am Golf ausgehen; das Migrationsregime über Sponsoren oder staatliche Lizenzen hält die Arbeitsmärkte für die MigrantInnen nach Nationalitäten und Professionen getrennt.

• Arabische Migranten (aus dem Jemen, Ägypten, Syrien und Jordanien) leben in größerer Zahl nur noch in Saudi-Arabien und in Kuwait, die Golfstaaten haben sich seit den 80er Jahren der renitenten arabischen "Brüder" weitgehend entledigt.

• 75 Prozent der Migranten kommen aus Asien, vor allem aus Südasien: Indien, Pakistan, Bangladesch, Sri Lanka und Nepal. Allein 5,5 Millionen Inder, vier Millionen Pakistanis und drei Millionen Bangladeschis arbeiten im Mittleren Osten.

• Es gibt eine Feminisierung der Migration, die in erster Linie im Anwachsen der privaten Dienstleistungen begründet ist. Nach der Abschaffung der Sklaverei in den 60er Jahren waren die ersten Hausangestellten meist männliche Inder, die in den Haushalten als Köche arbeiteten. Ab Ende der 70er Jahre verdrängten philippinische Frauen die indischen Männer zunächst als Angestellte der Elite, da ihr Bildungsniveau im Schnitt recht hoch ist und sie Englisch sprechen. Sie waren Mitte der 80er Jahre die am höchsten bezahlten ausländischen Hausarbeiterinnen.

• Es gibt einen steigenden Anteil von "illegalen" MigrantInnen. In den VAE wird die Anzahl der Arbeiter, die von fiktiven Firmen "beschäftigt" werden, auf ein Drittel der gesamten Arbeitskraft geschätzt. Irreguläre Migration soll durchschnittlich mindestens 10 Prozent der Bevölkerung bzw. 15 Prozent der Arbeitskräfte ausmachen.

• Ein zunehmender Anteil der "ausländischen" Bevölkerung lebt dauerhaft in den Golfstaaten oder ist dort geboren; der Anteil der "nicht arbeitenden" MigrantInnen (Familienangehörige) steigt.


Das rechtliche System der Migration

Jeder ausländische Arbeiter benötigt in den Golfstaaten einen einheimischen Bürgen, meist den Unternehmer. Bei Höherqualifizierten kann grundsätzlich auch eine Institution, etwa ein Ministerium, als Bürge eintreten. Dieser Bürge oder Kefil verpflichtet sich, für das Visum und andere Formalitäten zu sorgen (für die Kosten muss die Arbeiterin aufkommen) und gegenüber dem Staat für das Wohlverhalten des Arbeiters - d. h., er kann jederzeit die Ausweisung wegen "Vertragsverletzung" in die Wege leiten. Daher zieht er in der Regel den Pass der Arbeiterin ein. Die Dauer eines solchen Arbeitsvertrags beträgt meist zwei bis fünf Jahre, nach Ablauf erfolgt entweder die Ausreise bzw. Abschiebung oder die Vertragsverlängerung.

Ein Wechsel des Arbeitsplatzes bedarf der Zustimmung des Kefil. Eines eigenständiges Aufenthaltsrecht oder gar die Staatsbürgerschaft sind kategorisch ausgeschlossen. Dieses System führt zur Verschuldung des Arbeiters schon vor Antritt der Reise. Er ist dem Bürgen ausgeliefert - selbst die Rückkehr in sein Heimatland ist ihm damit verwehrt. Wer vom Job abhaut ist damit illegal und arbeitet im wachsenden informellen Sektor.

In den Freihandelszonen läuft die Anwerbung ohne staatliche Sanktionierung oder Aufsicht, d.h. dass die Arbeiter von den Kontraktfirmen direkt in den Heimatländern angeworben werden. In den Emiraten arbeiten die meisten der 700.000 Bauarbeiter in den Free Zones. Die Arbeitsverträge sind in Arabisch, so dass viele der Arbeiter nicht verstehen, was sie unterschreiben, und sich beispielsweise verpflichten, bei Bedarf andere Tätigkeiten zu einem wesentlich geringeren Lohn auszuführen.


Die Arbeitsverhältnisse

Was von den einen beschönigend "Zirkularmigration" genannt wird, von anderen "Sklaverei", ist für die Masse der Arbeiter ein brutales Regime zur Ausbeutung der Arbeitskraft. Dazu gehört eine hohe Zahl an Arbeitsunfällen, Selbstmorde, Übergriffe durch den Arbeitgeber besonders auf vereinzelte Hausangestellte und die Drohung mit Knast, Abschiebung und Todesstrafe. Construction Week schätzte, dass knapp 880 ausländische Bauarbeiter allein in den VAE im Jahre 2004 starben.

Während Bauarbeiter oft kollektiven Widerstand organisieren, führt die Vereinzelung von Hausangestellten eher zu Verzweiflungstaten. Auf beide Arten von Widerstand haben die Regime mit einer drastischen Verschärfting der Strafen reagiert: In Saudi-Arabien sind zwischen 1985‍ ‍und 2008 nach Schätzungen von Amnesty International 1700 Menschen staatlicherseits ermordet worden. Im ersten Halbjahr 2011 sind in Saudi-Arabien 60 Menschen hingerichtet worden, mehr als doppelt so viele wie im ganzen Vorjahr.

In Bahrain wurde die Todesstrafe zwar nie abgeschafft, bis 2006 aber nicht mehr verhängt. Seither wurden wieder sechs Menschen zum Tode verurteilt, allesamt Migranten.

Während Deportationen von "Streikrädelsführern" meist keine diplomatischen Verstimmungen hervorrufen, lösen die barbarischen öffentlichen Hinrichtungen vor allem in den Herkunftsländern zunehmend Proteste von Angehörigen aus, die von den jeweiligen Regierungen nicht mehr zu ignorieren sind. Allein 2011 gab es mehrere außenpolitische Konflikte zwischen Saudi-Arabien und Indonesien und jüngst Bangladesch.


KÄMPFE
Streiks auf den Baustellen

Seit spätestens 2004 nahmen Streiks von Migranten in den Golfstaaten dramatisch zu, vor allem auf den Großbaustellen. Allein auf der Großbaustelle des Burj Khalifa (des höchsten Hauses der Welt in Dubai), auf der zweitweilig an die 20.000 Arbeiter schufteten, gab es über die Jahre drei große Riots, bei denen Arbeiter sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten, Bürocontainer und Baufahrzeuge anzündeteten. Über die Formen der Organisierung unter den Bauarbeitern ist kaum etwas bekannt. Zum Teil gibt es (Streik-) Versicherungen auf der Basis heimischer Dorfstrukturen, z.T. arbeiten dort indische Kader kommunistischer Organisationen.

Streiks und Proteste wurden zwischen verschiedenen Baustellen und Arbeitercamps zunehmend koordiniert. Ab etwa 2007 setzte eine Entwicklung ein, die die Zäune um die Baustellen und Arbeitercamps zu überwinden drohte:

• Die Streiks betrafen nicht mehr nur einzelne Baustellen, wie z. B. ein Streik von 40.000 Bauarbeitern der Firma Arabtec gegen Ende 2007 dokumentiert.

• Streiks betrafen erstmals auch Industriebetriebe: Im Juli musste die Armee in den VAE einen Streik in einer Gasverflüssigungsanlage beenden.

• In Industriebetrieben streikten erstmals auch einheimische und migrantische Arbeiter gemeinsam: Bahrainische, indische und srilankische Arbeiter führten im November 2007 den mit vier Wochen längsten Arbeitskampf in der Geschichte Bahrains in der Molkerei Almarai (der größten Milch verarbeitenden Firma des Mittleren Ostens) gemeinsam durch.

• Erstmals drohten auch einheimische Staatsangestellte mit Streik (Lehrer).

Die Regierungen sahen sich immerhin gezwungen, die Notwendigkeit von Reformen anzuerkennen und die Lage der migrantischen Arbeiter öffentlich anzusprechen. Gehandelt haben sie tatsächlich allerdings kaum. Die marginalen Zugeständnisse konnten - sofern sie denn umgesetzt wurden - eine weitere Ausbreitung der Streiks nicht verhindern; illegale Streiks und Proteste hätten in Saudi-Arabien über das ganze Jahr 2010 hinweg zugenommen, meldete Human Right Watch. Häufigster Grund war die Nichtauszahlung von Löhnen.


Das Protestjahr 2011

Das Protestjahr 2011 ist in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich verlaufen; die Protestbewegung wurde Anfang des Jahres durch die verlängerte Welle illegaler Streiks von ausländischen Arbeitern eingeleitet. Anfang und Mitte Januar streikten Zehntausende, vor allem wieder Bauarbeiter, in den VAE, in Bahrain und Saudi-Arabien.

In den reichen Golfstaaten Katar und den VAE gelang es den Herrschenden, durch verstärkte Repression gegen die Wanderarbeiter und weitreichende finanzielle Zusagen an Staatsbürger und (einheimische) Staatsangestellte, die Proteste präventiv zu isolieren. Offene politische Proteste sind dort weitgehend ausgeblieben.

In Kuwait entzündeten sich Konflikte hauptsächlich an der Frage der Staatsangehörigkeit: Staatenlose Beduinen revoltierten in den Vororten von Kuwait City im Februar und März und forderten Staatsbürgerrechte. Außerdem eskalierte die Auseinandersetzung um die seit längerem vorbereitete Privatisierung einiger Wirtschaftsbereiche, wie Raffinerien, Elektrizitätserzeugung, Wasserversorgung und Post. Trotz Streikdrohungen, Sit-ins und öffentlichen Protesten wurde im Mai ein umfassendes Privatisierungsgesetz verabschiedet.

In Oman, Saudi-Arabien und Bahrain gab es im Februar und März politische Unruhen wegen der Korruption der herrschenden Cliquen und der strukturellen Benachteiligung bestimmter einheimischer Bevölkerungsschichten. Sie kamen mit Streiks in vielen Bereichen zusammen: Muscat (Oman) sah seine erste nennenswerte Demonstration, nur drei Tage nachdem Ben Ali aus Tunesien geflohen war. Am ersten Freitag ohne Mubarak war der Wandel greifbar; das Regime traute sich zunächst nicht, gewaltsam gegen die Anti-Korruptions-Demos vorzugehen. Eine Woche später erschütterten massive Proteste die rapide wachsende Industriestadt Sohar und Salalah, den Haupthandelshafen an der Grenze zum Jemen. Tausende protestierten gegen niedrige Löhne, gegen die steigende Inflation und die Beschäftigung von Ausländern und Omanis aus der Hauptstadt Muscat. Sechs Menschen kamen bei Auseinandersetzungen mit der Polizei ums Leben. Der Sultan hatte vorsorglich den Mindestlohn von 316 auf 520 Dollar erhöht; die Protestierer wollten aber "nicht weniger als 1300", und dazu bessere Renten, freie Bildung für alle Omanis und den Sturz der Regierung.

Anfang März begannen Streiks bei omanischen Firmen und Institutionen - der Oman Air, der Oman Post und verschiedenen Banken. Mitte März folgten die ersten Ölarbeiter am Golf seit Ausbruch des "Arabischen Frühlings". 400 Arbeiter von verschiedenen Öl- und Gasfeldern demonstrierten vor der Zentrale der mehrheitlich staatlichen Firma Petroleum Development Oman in Muscat. Sie forderten eine Angleichung ihrer Löhne an die anderer Ölstaaten und beklagten, ihre seien regional die niedrigsten. Mitte März streikten 1000‍ ‍Angestellte im Industriegebiet Rusayl Industrial Estate, Standort von 150 "Manufaktureinheiten". Die Angestellten zogen durch alle Gewerbehallen und erzwangen die Unterbrechung der Arbeit. Danach besetzten sie die Zugänge zur Industriezone.

Die Niederschlagung der zeitgleichen Proteste in Bahrain stellte einen Wendepunkt auch für die umliegenden Länder dar; das Regime von Oman schaltete umgehend in eine härtere Gangart um; am 29.03.11 räumte die Armee die Protestcamps in Sohar und sicherte den Zugang zum Hafen. In den nächsten Wochen wurde die staatliche Ordnung Stück für Stück wieder hergestellt und am 12. Mai der letzte große Schauplatz des Protestes in Salalah aufgemischt.

Parallel zur Repression bombardierte das Regime die eigene Bevölkerung regelrecht mit Zugeständnissen: Ein Drittel des Kabinetts wurde entlassen, es wurden sofort 50.000 neue Stellen geschaffen (bei einer arbeitenden Bevölkerung von 300.000), der Mindestlohn wurde um ein Drittel erhöht.

Die Eskalation der politischen Proteste gegen das Herrscherhaus in Bahrain Ende März hatte aber auch noch eine andere Folge: sie führten zu einer Verschiebung der Streiks von den migrantischen Arbeitern in der Privatwirtschaft zu den Einheimischen im Öffentlichen Dienst. Das Regime schürte mit der rabiaten Niederschlagung der Proteste unter dem Einsatz "ausländischer" Polizeitruppen die Fremdenfeindlichkeit in der Bevölkerung; Ende März eskalierten Übergriffe gegen pakistanische Immigranten, bei denen mehrere Pakistani ermordet wurden.

In Saudi-Arabien setzten sich zu Beginn des Jahres die illegalen Streiks von Wanderarbeitern fort; im März griffen sie (wie in Bahrain und Oman) erstmals auf einheimische Angestellte über - im Gegensatz etwa zu Kuwait gibt es in Saudi-Arabien keine Tradition von Gewerkschaften, dementsprechend groß war die Verwunderung und das Erschrecken über diese neue Entwicklung. Die englische Ausgabe der libanesische Zeitung Al Akhbar titelte im Januar 2012, dass eine saudische Tradition von Arbeiterstreiks nach fünf Jahrzehnten wiedergeboren worden sei. Von den Medien wenig beachtet, seien die "Streiks, die in verschiedenen privaten und öffentlichen Institutionen stattgefunden haben, die bei weitem wichtigsten sozialen Aktionen in Saudi-Arabien" im letzten Jahr gewesen. Die "soziale Frage" stelle sich nicht mehr nur für die migrantischen Arbeiter, sondern nun auch für Teile der Einheimischen: Privatisierungen, Lohnsenkungen auch im Öffentlichen Sektor, Inflation und Arbeitslosigkeit.

Streiks von technischen Angestellten bspw. der Saudi Telecommunications Company (STC) und in den Kraftwerken der Saudi Electricity Company wurden relativ schnell durch Entgegenkommen der Regierung befriedet. Die Brisanz derartiger Kämpfe ist den Herrschenden wohl bewusst. Im Gegensatz dazu wurden Kämpfe etwa von Krankenhausangestellten ins Leere laufen gelassen.

Im Sommer schien in allen Golfstaaten der Spagat zwischen immensen sozialen Zugeständnissen für die Staatsbürgerbevölkerung zumindest auf dem Papier, differenzierter politischer Repression (vor allem gegen Migranten und eigene Randbevölkerungen) und vorsichtiger Öffnung für den "bürgerlichen" Teil der Bevölkerung zu funktionieren. Aber allein das Ausmaß der versprochenen Sozialleistungen verdeutlicht, dass sich die Staaten das nicht auf Dauer werden leisten können / wollen: Insgesamt wird das Extra-Volumen der Sozialausgaben (von Wohnungsbau über Lebensmittelkarten bis zusätzlichen Jobs im Öffentlichen Dienst) in den GCC-Staaten 2011 auf 150 Milliarden Dollar oder 13 Prozent ihres kombinierten BIP geschätzt.

In den Sozialprogrammen sind versteckte Versuche enthalten, den Druck auf Einheimische zu erhöhen. Die Einführung einer individuellen Arbeitslosenunterstützung in Saudi-Arabien und Oman ist grundsätzlich an die Bereitschaft gekoppelt, Arbeit anzunehmen. Noch ist es im Vergleich zu den einfacheren Jobs in der Privatwirtschaft zu hoch bemessen, um tatsächlich Druck zu erzeugen - eine Reibe von Transportfirmen in Saudi-Arabien musste in den letzten Monaten ihren Betrieb massiv einschränken, da sie die geforderte Quote von Saudis für schwere und anstrengende Fahrerjobs trotz relativ hoher Lohnangebote nicht erfüllen konnten.

Der erhöhte Druck auf MigrantInnen komplementiert die Durchsetzung eines Arbeitsregimes für die Staatsbürger; der Aufenthalt Ersterer soll auf maximal sechs Jahre begrenzt werden. Es wurden Anwerbestopps für Länder wie den Philippinen oder Nepal erlassen, mit denen es Streit und Verstimmungen um die Behandlung der Migrantinnen gegeben hatte. Schließlich zielt die beabsichtigte Abschaffung des Sponsorsystems und die Stärkung der staatlichen Regulierung auf die schlimmsten Auswüchse des Sklavenhandels.

Die verstärkte Repression gegen alle dissidenten Gruppen ist die Begleitmusik: In Saudi-Arabien wurden 60.000 neue Jobs im Sicherheitsapparat geschaffen, in Bahrain sollen ebenfalls zusätzlich 20.000 Menschen beim Innenministerium angestellt werden, und die VAE haben ehemalige Blackwaterbrigaden angeheuert. Gegen politische Aktivisten werden Prozesse geführt (Bahrain, KSA, Kuwait, Oman, ...) und einzelnen Aktivisten wird die Staatsbürgerschaft aberkannt (VAE). Ausländische "Streikführer" werden rigoros und teilweise zu mehreren hundert abgeschoben.

Ebenso wird die Repression gegen die Menschen, die nur mehr informelle Beschäftigung finden, verstärkt: In groß angelegten Razzien gegen vorgebliche Straßenhändler, Bettler, illegale Autowäscher oder Alkoholdealer werden jeweils hunderte Migranten, aber auch Angehörige einheimischer Randgruppen verhaftet - z.B. allein 1300 bei einer Razzia am 8.2.12 in Oman.

Ausgerechnet in Kuwait wurde das drohende Scheitern dieses oben geschilderten Spagats im Herbst offensichtlich.

Den Startschuss für eine Streikwelle gaben im September die Angestellten der Kuwait National Petroleum Co. - ihre Drohung mit Streiks (zu 70 Prozent Techniker) führte zu deutlichen Lohnerhöhungen. In den Kraftwerken und bei der Wasserversorgung wurde tatsächlich gestreikt. Als die Nachricht des erfolgreichen Arbeitskampfes bekannt wurde, schlossen sich Zollangestellte, Hafenarbeiter und Beschäftigte des Innen-, des Gesundheits- und des Arbeitsministeriums, der Börse und der Zentralbank mit massenhaften Demonstrationen an. Kaum waren diese Streiks zu Ende gegangen, streikten am 25.10.11 um die 4000 Angestellte von Kuwait Airways. Auch hier ging es um Erhöhung der Grundlöhne und Sonderzahlungen - und explizit gegen die Privatisierungspläne der Airline, die daraufhin zurückgestellt wurden. Interessant ist auch die Entwicklung einer Welle von Protesten an den Unis und den Schulen im Windschatten der Streiks der höheren Angestellten; in diesem relativ schlecht bezahlten, von Teilzeitarbeit geprägten und mehrheitlich von Frauen ausgefüllten Teil des Arbeitsmarktes kam es zum ersten Mal in Kuwait zu zumindest parallelen Aktionen von Beschäftigten unterschiedlicher Nationalität. Sowohl kuwaitische als auch bspw. syrische Lehrerinnen organisierten Sit-ins vor dem Erziehungsministerium. Interessanterweise vermischen sich gerade bei den ausländischen Angestellten verschiedene Motive: Neben Lohnerhöhungen ging es den Syrerinnen darum, den Nachzug ihrer Familien erlaubt zu bekommen.

Die Angst vor Privatisierungen und einer ungeschützten Konkurrenz zu ausländischen Billigarbeitern sowie das zunehmende Auseinanderdriften der Wohlstandsverteilung zugunsten einer als korrupt empfundenen Herrscherclique verstärkten Mitte November Proteste gegen Korruption. Sie gipfelten in Straßenschlachten und der Erstürmung des Parlamentes durch Demonstranten und führten zum Rückzug der Regierung. Träger dieser Proteste waren Teile der bürgerlichen Opposition.

Die Prozesse gegen Leute, die während der Riots im Februar verhaftet worden waren, mobilisierten um die Jahreswende noch einmal Slumbewohner auf die Straße. Außerdem gab es neue Streiks von ausländischen Bauarbeitern und einheimischen Flughafenangestellten in Oman, politische Proteste in Bahrain, Streiks in den VAE und Saudi-Arabien und gewaltsame Proteste in der Ostprovinz von Saudi-Arabien seit November, zu deren Niederschlagung die Regierung Soldaten (gegen Saudis!) einsetzt...


Ausblick...

Die Regierungen stehen vor dem Dilemma, entweder die bisherige Politik der weitgehend unproduktiven Alimentierung ihrer "eigenen" Bevölkerung fortzusetzen und diese angesichts der steigenden Ansprüche noch auszuweiten. Das heißt aber, den finanziellen Rahmen bei steigenden externen Kosten noch weiter auszudehnen. Zugleich stellt sich das Problem zunehmender politischer Konflikte um die Frage, wer zu diesem erlauchten Kreis gehören darf, d. h. um die staatenlosen Beduinen, um die Migranten der zweiten und dritten Generation und um die Kinder mit einem ausländischen Elternteil. Die Hauptarbeit müsste weiter von Wanderarbeitern gemacht werden, das hat aber Grenzen: Die Repression treibt viele in die Illegalität. Die Existenz eines großen informellen Sektors verhindert wiederum die Kapitalakkumulation, wie sich an den Auseinandersetzungen um illegale Müllsammler in Saudi-Arabien beobachten lässt technische Rationalisierungen würden hier den Menschen auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Pyramide die letzte Lebensgrundlage entziehen und stoßen deshalb auf erbitterten Widerstand.

Eine "Lösung" dieses Problems durch massenhafte Ausweisung der "Überschussbevölkerung" wird ohne kriegerische Konflikte nicht durchzusetzen sein. Der Widerstand der Wanderarbeiter nimmt zu und ihre Bereitschaft, sich dem brutalen Regime in den Golfstaaten zu unterwerfen, nimmt angesichts der boomenden Wirtschaft in anderen Ländern ab; langsam vermehren sich die Klagen, dass es schwieriger wird, in Indien Bauarbeiter zu rekrutieren, da dort die Löhne steigen und die Bereitschaft zur Emigration sinkt.

Die andere Alternative ist die Neudefinition sozialer Ungleichheit über das neoliberale Credo der "Leistungsfähigkeit" statt über die Staatsangehörigkeit. Das würde allerdings, konsequent durchgesetzt, einen Frontalangriff gegen einen großen Teil der eigenen Bevölkerung bedeuten. Davor scheuen die Regime noch zurück.

Woher eine Vereinheitlichung und damit Radikalisierung der bislang weitgehend parallellaufenden Bewegungen kommen kann, muss notgedrungen erst mal offen bleiben; es sollte aber deutlich geworden sein, dass die bestimmende Dynamik der Bewegung vor allem eine soziale ist eine allein politische Bewegung der unzufriedenen einheimischen Mittelklasse kann nur zur Reproduktion des herrschenden rassistischen Modells führen.


Anmerkungen:

(1)‍ ‍John Chalcraft: Assault on Consent: the rote of hegemonic breakdown in worker protest in Egypt and the Gulf states since 2005.
http://www.nottingham.ac.uk/shared/shared_cssgj/Documents/smp_papers/Chalcraft.pdf

(2)‍ ‍Class and Capitalism in the Gulf - The Political Economy of the GCC: Interview mit Adam Hanieh. New Left Project, 05.12.2011

(3)‍ ‍Adam Hanieh: Finance, oil and the arab uprisings: The global crisis and the gulf states, in: Socialist Register 2012 (Vol 48): The Crisis and the Left.

(4)‍ ‍Adam Hanieh meint, dass - wenn man die kaum überschaubaren Fonds staatseigener und privater Fonds der Eliten der Golfstaaten zusammennimmt - finanziell die "Petrodollars" einen wichtigeren Platz bei US-Anleihen besetzen als China. Das Vermögen der Sovereign Wealth Fonds, quasistaatliche Investmentfonds, wurde 2007 auf 2,1 Bio. US-Dollar geschützt.

Petrodollars
Zum einen Bezug auf die internationale Verrechnung der Ölgeschäfte in US-Dollar seit dem Zweiten Weltkrieg. Diese Stellung des Dollars erzeugte eine anhaltend große Nachfrage nach der US-Währung und hielt den Dollarkurs stabil - mit der Konsequenz billiger Importe und der praktisch unbegrenzten Möglichkeit der Kreditaufnahme für die US-Regierungen. Zweitens flossen die Einnahmen der Öl exportierenden Staaten mangels eigener Investitionsmöglichkeiten vermittelt über internationale Banken zum Teil in Investitionsprojekte in den Industrieländern, zum anderen Teil bis in die 80er Jahre in sog. Schwellenländer.

Raute

Buchbesprechung
Land - Konflikt, Politik, Profit

Land Grabbing tauchte Ende 2008 als neues Schlagwort in der Debatte über die "Landfrage" auf und ist schon zum Thema zahlreicher akademischer Forschungsarbeiten geworden. Die Peripherie greift es in einem ausführlichen "Stichwort" - eine Rubrik, die auf drei Seiten das Wichtigste zusammenfasst (Uwe Hoering) und Literaturhinweisegibt. Den Hauptteil des Heftes bilden vier je ca. 25-seitige Aufsätze mit unterschiedlichen theoretischen Herangehensweisen und Länderbeispielen.

Der erste Aufsatz Land Grabbing analysieren: Ansatzpunkt für eine politisch-ökologische Perspektive am Beispiel Äthiopiens (Bettina Engels & Christina Dietz) versucht "zentrale Leerstellen in der darauf bezogenen Forschung" zu verdeutlichen und mit Hilfe einer poststrukturalistisch bzw. feministisch orientierten Politischen Ökologie die "gegenwärtigen Transformationen im Bereich Landbesitz und Landnutzung" zu analysieren. Wenn man die Schlussfolgerungen liest, fragt man sich allerdings, was dieses Abarbeiten an zahlreichen Theorieansätzen an neuen Erkenntnissen zur Situation in Äthiopien gebracht hat.

Sehr lesenswert ist der Beitrag zur finanziellen Inwertsetzung des Waldes als CO2-Senke am Beispiel Ecuador (Markus Seiwald & Christian Zeller). Hier wird anschaulich erklärt, wie mit Hilfe von Emissionszertifikaten Waldflächen im Amazonas-Gebiet "in Wert gesetzt" werden (was den von Marx beschriebenen Aneignungsprozessen im Rahmen der "ursprünglichen Akkumulation" entspricht), um eine "Entwicklung" des Landes zu finanzieren, was zu Konflikten zwischen der Regierung und der dort ansässigen indigenen Bevölkerung führt.

Land Grabbing in Mexiko (Peter Clusing & Christina Goschenhofer) benennt den massiven Rückgang von landwirtschaftlicher Entwicklungshilfe seit den 1980er Jahren, die sich nun fast ausschließlich auf den Kauf oder die Pachtung von Land beschränkt. Er kritisiert die Positionen von Weltbank, FAO usw., die dem Land Grabbing eine potentielle "Win-win"-Situation zusprechen, weil es zu Investitionen führe. Am Beispiel Mexiko wird dargestellt, dass von der Weltbank durchgeführte Katasterprojekte, die Menschen mit Landbesitztiteln versehen, nichts ändern, wenn korrupte und ungerechte Herrschaftsverhältnisse unangetastet bleiben.

Ebenfalls Kritik an der Weltbank als wichtigem Akteur der Landnahme übt Andreas Exner (Die neue Landnahme an den Grenzen des fossilen Energieregimes. Tendenzen, Akteure und Konflikte am Beispiel Tansanias). Er untersucht, in welche langfristige Dynamik der globalen Kapitalakkumulation die Landnahme eingebettet ist. Die strategische Rolle der Landwirtschaft im kapitalistischen Weltsystem liege eher in den Gebrauchswerten, die sie produziert und die die Arbeiterklasse der kapitalistischen Zentren und Städte am Leben erhalten. Ihre fortlaufende Verbilligung diene der Produktion von relativem Mehrwert und der politischen Stabilisierung der kapitalistischen Produktionsweise. Da die Produktion von Lebensmittel und von Bioenergie auf landwirtschaftlichen Flächen kaum noch zu trennen ist, sei es sinnvoller, statt von einem food regime von einem Agrarregime zu sprechen. Angesichts der kapitalistischen Mehrfachkrise, die einen Epochenbruch einleite, in dem sich mit der Ressourcenbasis der Ökonomie auch ihre soziale Form umgestalten wird, hält Exner die Entwicklungsperspektive der Weltbank für illusorisch. Da den Verlauf dieser Umgestaltung noch nicht voraussehbare soziale Kämpfe wesentlich beeinflussen werden, gebe es keine Grundlage für die Formulierung einer auf der Proletarisierung der Landbevölkerung beruhenden Modernisierungsidee.

Ein Essay von Thomas Fatheuer über Staudämme am Amazonas und zwölf kluge Rezensionen einschlägiger Literatur beschließen den Band, der einen guten Überblick über die linke entwicklungspolitische Diskussion zum Thema gibt.


Land - Konflikt, Politik, Profit
Heft 124 von Peripherie, Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt
November 2011 Verlag Westfälisches Dampfboot Münster. | 10,50 Euro

Zum Thema Land Grabbing siehe auch unsere Artikel in Wildcat 89: Landflucht und Food Riots: keine Agrarrevolution in Sicht
Wildcat 90: Wem gehört das Land? Bauernkämpfe in Indonesien

Raute

Krise in Europa - Rückkehr des Klassenkampfs?

Die soziale und ökonomische Situation in Europa hat sich in den letzten zwei Jahren stark auseinander entwickelt. Während in der Peripherie die Krise(npolitik) massiv wütet, strotzen Bundesregierung und ihre Medien von Selbstbewusstsein: Deutschland sei stärker aus der Krise rausgekommen als reingegangen; "Europa spricht letzt Deutsch" sagte CDU-Generalsekretär Kauder. Mit diesem imperialistischen Gepolter wollen sie uns einreden, dass "Deutschland" davon kommt, in Wirklichkeit ist es eine Klassenfrage: für die Reichen, die Unternehmer und die Banken war der Krisenverlauf bisher tatsächlich V-förmig, für den Rest - auch in der BRD! - ist die Krise L-förmig: Grundnahrungsmittel und Energie sind stark im Preis gestiegen, kommunale Dienstleistungen werden gestrichen, immer mehr Leiharbeit, Tarifabschlüsse unter der offiziellen Inflationsrate, usw. Bis jetzt haben die Leute viel geschluckt, genau mit dem Argument "wir sind vergleichsweise gut davon gekommen". Die relativ hohen Forderungen in den aktuellen Tarifkampagnen der Gewerkschaft, vereinzelte selbstorganisierte Arbeitsniederlegungen, auch die große Wut z.B. in Mobilisierungen gegen Fluglärm, zeigen aber, dass sich einiger Druck im Kessel sammelt. Zudem hat auch in der BRD zumindest eine ökonomische Abkühlung begonnen.


Systemische Krise

Die 2007 ausgebrochene Krise ist die letzte Etappe in einer seit Mitte der 70er Jahre durch Ausweitung der Kredite und "Globalisierung" immer weiter rausgeschobenen Klemme in der Kapitalverwertung. Wir sind noch immer mitten drin in dieser ersten wirklich globalen Finanz-, Wirtschafts- und Gesellschaftskrise, die letztlich alle Teile des kapitalistischen Systems berührt und die Symbiose aus Exportüberschüssen (in China, Korea, Japan, der BRD) und schuldenfinanziertem Konsum (besonders in den USA) namens Chimerica zerbrochen hat. Die Exporterfolge der BRD im zurückliegenden Zwischenboom wirken gespenstisch, während Länder wie Griechenland, Irland, Italien, Großbritannien jetzt schon länger in einer tiefen Depression sind als in der Great Depression in den dreißiger Jahren.

Die Krise begann in den USA, ihr Zentrum verschob sich aber seit 2010 nach Europa. Vor allem in den letzten Monaten gab es eine schwache Erholung in den USA und eine weitere Zuspitzung in Europa. Womöglich wird sich in den nächsten Monaten die Situation in Europa etwas stabilisieren, und die Lage in den BRIC-Staaten (Brasilien, Indien und China, weniger in Russland) eskaliert. Dort hat sich die wirtschaftliche Entwicklung stark verlangsamt. Vielleicht rutscht aber Griechenland doch schneller in einen ungeordneten Staatsbankrott, oder Portugal braucht ein zweites "Hilfspaket", oder die Situation in Italien oder Spanien verschlimmert sich, dann wäre die Krise der EU in einer neuen Eskalationsstufe. Entscheidend sind aber nicht diese regionalen Auf- und Abschwünge, sondern dass sich in ihnen die langfristige und fundamentale Krisentendenz (sinkende Akkumularionsraten) keinesfalls umgedreht, sondern weiter verschärft hat.

Wann platzt die "Mutter aller Blasen"?

"Blasen sind ganz große Klasse - während sie entstehen... Unschön wird es natürlich, wenn die Luft entweicht. Aber das hält die Zentralbanker nicht davon ab, immer neue Blasen zu produzieren, auf dass wir uns für ein paar Jahre wohlfühlen können." (FTD 13.3.2012)

Seit dem Ende des Währungssystems von Bretton Woods Anfang der 70er Jahre gibt es keinen Geldanker mehr, das ist einzigartig in der Geschichte des Kapitalismus. Technisch gesehen gibt es somit keine Grenze bei der Ausweitung des Kredits. Nachdem das klassische geldpolitische Instrument zur Stimulierung der Konjunktur ausgereizt war (in den USA, in Europa und Japan liegen die Leitzinsen nominal nahe Null, real im negativen Bereich), kaufte die Federal Reservevon November 2008 bis Juni 2011 unter dem Titel "Quantitative Easing" (geldpolitische Lockerung) Wertpapiere im Volumen von 2300 Mrd. Dollar - darunter 900 Mrd. Dollar an US-Staatsanleihen - auf. Damit verhinderte sie den Kollaps des globalen Bankensystems und stabilisierte die Preise an den Wertpapiermärkten; vor allem machte sie die US-Regierung zum "sicheren Hafen", die USA können ihre gigantischen Staatsschulden seither zu extrem niedrigen Zinsen (re-)finanzieren.

Diese globale "Regierungsfinanzierungsblase" ist inzwischen über den Punkt hinaus aufgebläht, wo sie zu einer sanften Landung wieder abgelassen werden könnte. Sie ist die "Mutter aller Blasen" und das eigentliche Problem des "too big to fail" - während gleichzeitig durch die freiwillig/erzwungene Abschreibung auf griechische Staatsanleihen nun auch diese Anlageform für das nach Anlagemöglichkeiten suchende überakkumulierte Kapital unsicher wird. Die Notenbanken halten so gut es geht dagegen. Anfang des Jahres versicherte die Fed, den Leitzins bis mindestens Ende 2014 auf 0 bis 0,25 Prozent zu lassen. Er darf die nominale Verzinsung der Staatsanleihen nicht übersteigen, sonst droht ein Fire-Sale. Das wäre nicht nur katastrophal für den Staat, dessen Kreditkosten dann ins Unbezahlbare steigen, sondern auch das Ende des Bankensystems.

In der Eurozone hatten die Maastricht-Kriterien die Geldschöpfung an einen Quasi-Goldstandard gekettet. Genau aufgrund dieser strukturellen Diskrepanz tobte sich die globale Krise als "Eurokrise" aus - im Dezember hat nun die EZB den Stöpsel gezogen. Bereits seit Mai 2010 hatte sie Staatsanleihen hochverschuldeter Euro-Staaten aufgekauft und gab den Banken die Möglichkeit, Geld gegen Zinsen auf einem EZB-Konto zu parken. Seit Dezember 2011 ist die EZB nun vorneweg beim weiteren Aufpumpen der "Mutter aller Blasen": sie bot den Banken einen Kredit zu einem Prozent Zinsen mit drei Jahren Laufzeit an. Mehr als 500 Banken nutzten die Gelegenheit, um 490 Mrd. aufzunehmen. Einen Teil davon steckten sie in Staatsanleihen hoch verschuldeter Länder - diese Papiere konnten sie wiederum als Sicherheiten für den nächsten Dreijahrestender Ende Februar benutzen. (Diesmal schlug übrigens auch die VW-Bank Volkswagen Financial Services zu und krallte sich zwei Milliarden.) Insgesamt bekamen die europäischen Banken auf diese Weise 1 Billion Euro ganz ohne Bedingungen und konnten garantierte Gewinne ohne Risiko machen: Für dreijährige italienische Staatsanleihen kriegen sie z.B. 3,4 Prozent - auch wenn sie die Papiere als Pfand bei der EZB hinterlegen - und gleichzeitig bekommen sie darauf einen weiteren Dreijahreskredit zu wiederum einem Prozent Zinsen.

Zudem verbilligten die EZB, die Fed und vier weitere Notenbanken die Kosten für Dollar-Swap-Geschäfte. Diese Maßnahmen verhinderten den Kollaps südeuropäischer Banken, den viele in den ersten drei Monaten 2012‍ ‍erwartet hatten. Und wie gewünscht führten sie zur Senkung der Zinsen auf Staatsanleihen der europäischen Krisenländer - und zur nächsten Aktienblase; der Dax z.B. hat seit Jahresbeginn 21 Prozent zugelegt.

Die damit ausgelöste Entwicklung führt aber auch zu stark steigenden Rohstoffpreisen (siehe dazu unten "Ölpreisschock"), und sie verschärft den Abwertungswettlauf, wirft viele Milliarden auf den Markt, um den Yen zu schwächen, die Schweizer Notenbank drückt mit aller Kraft den Franken nach unten, seit neuestem versucht auch China wieder, die eigene Währung zu drücken. Der "Währungskrieg", vor dem der brasilianische Finanzminister Mantega bereits 2010 gewarnt hatte, und der bisher einigermaßen verhindert werden konnte, scheint Fahrt aufzunehmen.

Die EZB hatte keine Wahl, die Eurozone stand auf der Kippe, andere Möglichkeiten gab es keine. Die Krisendynamik ist so grundlegend, dass sie durch "politische Maßnahmen" nicht gebändigt werden kann, und sie ist so global, dass einzelne "Soft Landings" darin nicht mehr möglich sind (sollte China z.B. so was hinkriegen, würde es die Weltwirtschaft in die nächste Rezession reißen). Die Aktion der EZB hat den Zusammenbruch verhindert,aber die Banken verleihen nicht mehr Geld - wie auch, wenn es keine Nachfrage danach gibt? -, selbst die Geldmenge M1 schrumpft weiter (in Griechenland, Irland, Portugal und Italien in den letzten sechs Monaten um 8 bis 13 Prozent!). Der Präsident der EZB, Draghi, sagte, man habe mit den Liquiditätsspritzen "nur Zeit gekauft"; er meint damit: Zeit, in der "die Politik" nun handeln muss. Andere Kommentare erwiderten: "anstatt Zeit zu kaufen, handeln sie sich nur eine noch tiefergehende Krise ein" (Doug Noland, Credit Bubble Bulletin 6.1.2012), oder wie die FTD es formulierte: "die Rechnung für das billige Zentralbankgeld wird erneut hoch ausfallen." (13.3.2012, ebenda)


Die Krise in Europa

Die Liquiditätsspritzen haben die Kapitalmärkte aufgepumpt, aber an den realen Problemen nichts geändert: hohe Arbeitslosigkeit, zunehmende Entlassungsankündigungen, sinkende Einkommen, steigende Verschuldung, deshalb sinkender Konsum - das sieht auch die EZB, wenn sie zynisch feststellt: "Die Neigung der Bürger zu größeren Anschaffungen ist auf historisch niedrigem Niveau." Noch stärker rückläufig sind die Investitionen der Unternehmer.

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) aller EU-Staaten zusammen liegt noch 1,8 Prozent unterhalb der Marke vor der Krise, in einigen EU-Ländern deutlich mehr (Dänemark minus 5,4 Prozent, Griechenland minus 16 Prozent, Irland minus 12,1 Prozent, Italien minus 4,4 Prozent...). Die Länder der südeuropäischen Peripherie, die etwa ein Drittel des BIP des gesamten Euroraums ausmachen, versinken immer tiefer in dem Strudel aus Schuldenanstieg, Sparprogrammen, Rezession und steigender Arbeitslosigkeit. Die Krise zieht aber langsam auch ins Zentrum des Euroraums, wovon die nachlassende Wirtschaftsleistung in Frankreich zeugt.

Arbeitslosigkeit auf Rekordhoch
Laut Eurostat waren im Januar 2012 in der EU insgesamt 24,325 Millionen Menschen arbeitslos, davon 16,925 Millionen im Euro-Raum (Januar 2011 22,837 und 15,704 Millionen). Damit ist die Arbeitslosigkeit sowohl in der Gesamt-EU wie in der Eurozone seit März 2008‍ ‍um etwa 50 Prozent gestiegen - bei weiter zunehmender Tendenz. Obwohl die offizielle Arbeitslosigkeit in der BRD beträchtlich zurückgegangen ist, lagen die durchschnittlichen Arbeitslosenquoten in der EU bei 10,1 Prozent, im Euro-Raum bei 10,7 Prozent, dem höchsten Stand seit Beginn der Währungsunion. Die höchste Arbeitslosenquote von fast 23 Prozent hatte Spanien (mehr als 5 Millionen Erwerbslose), gefolgt von Griechenland, Irland und Portugal. Inzwischen hat die Arbeitslosenquote in Griechenland wahrscheinlich die in Spanien überholt; und das griechische Statistikamt korrigierte im Februar die Zahlen für November rückwirkend von Prozent und 40 Prozent bei Jugendlichen zwischen 15 und 29 Jahren 20,9 und 48,0 Prozent.

Dazu kommt, dass die Verbraucherpreise im Euro-Raum im Februar 2,7 Prozent höher waren als im Vorjahr und 7,3 Prozent als im Februar 2008.‍ ‍Kein Wunder geht der Konsum zurück. Die Autoneuzulassungen im Februar lagen in Frankreich und in Italien im Februar knapp 20 Prozent unter dem Vorjahreswert. Die Autoverkäufe in ganz Europa lagen sowohl im Januar wie im Februar etwa zehn Prozent unter dem Vorjahresniveau; Renault, Opel und PSA (Peugeot Citroen) verkauften zwischen 16 und 25 Prozent weniger. Nur die Bilanz der deutschen Automultis sieht nicht gar so schlecht aus (VW minus 2, BMW minus 3, Mercedes sogar plus 7). In Griechenland sehen all diese Zahlen natürlich noch viel krasser aus: die erteilten Baugenehmigungen sanken bereits 2011 im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 62 Prozent, der Verkauf von Neuwagen um 50 Prozent, usw.

- Griechenland
Kein Industrieland hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs so hart gespart wie Griechenland. Die meisten Leute haben heute ein Drittel weniger Geld zur Verfügung als vor dem Ausbruch der Krise. Im Privatsektor sind ausbleibende Lohnzahlungen längst die Regel, im öffentlichen Dienst beträgt der Gehaltsrückstand durchschnittlich zwei Monate (zu den Details siehe den folgenden Artikel). Das zweite "Rettungspaket" gibt als Ziel vor: 2020 sollen Griechenlands Schulden auf 120 Prozent vom BIP abgesenkt sein. Dermaßen drastische Sparmaßnahmen, um dann in acht Jahren immer noch eine unlösbare Verschuldung zu haben? Die einzige offene Frage ist nur noch, ob es knallt, bevor die "Firewall" hoch genug gezogen ist, so dass andere Länder wie Portugal mitgerissen werden. Oder ob das Szenario durchgesetzt wird, das Martin Wolf Mitte Februar in der Financial Times beschrieb: "Die Kosten eines griechischen Ausscheidens für den Rest der Eurozone sind geringer geworden, entsprechend ist die Wahrscheinlichkeit gestiegen, dass ... man diesen Fall eintreten lässt."

- Portugal
Das BIP wird dieses Jahr um sechs Prozent schrumpfen, das erste "Rettungspaket" wird nicht reichen. Im März sagte der Chef von Pimco (weltgrößter Anleihe-Investor) im Spiegel-Interview, Portugal werde noch in diesem Jahr zum "zweiten Griechenland". Die Glaubwürdigkeit der Notenbanken stehe auf dem Spiel; sie könnten nur "Brücken bauen", dann sei "die Politik" gefragt. "Brücken, die ins Nirgendwo gebaut werden, kollabieren irgendwann, das griechische Paket wird schnell auseinanderfallen."

- Italien
Italien ist in einer Rezession, zuvor war das BIP jahrelang stagniert. Staatsverschuldung stieg im Januar auf einen neuen Rekord. Die Arbeitslosigkeit ist auf dem höchsten Stand seit mehr als einem Jahrzehnt, Investitionen und Konsum gehen stark zurück; der Ausstoß lag im Januar fünf Prozent tiefer als vor einem Jahr, der Verbrauch von Essen, Getränken und Tabak fiel 2011 auf die niedrigsten Stände seit 30 Jahren. Ab März greifen die höheren Steuern, die das Technokratenregime von Monti verhängt hat und werden die Rezession verstärken.

- Spanien
Die Immobilienkrise verschärft sich, die Zahl der Hausverkäufe ging im Januar um 26 Prozent zurück, die sind im vierten Quartal um elf Prozent gefallen. Die Regierung verfehlt das Defizitziel. Manche halten Spanien aktuell für das größte Risiko in der EU, weil sich hier nach dem Platzen einer Immobilienblase eine gefährliche Mischung aus sich vertiefender Rezession plus staatlichem Defizitabbau plus privatem Schuldenabbau zusammenbraut. Die staatlichen Schulden sind rapide angestiegen, die "privaten" wurden kaum abgebaut (die Haushalte haben ihre gewaltigen Schulden seit 2008 gerade mal um sechs Prozentpunkte verringert), beide zusammenzählt, war Spanien im Jahr 2008‍ ‍mit 337 Prozent vom BIP verschuldet, Ende 2011 mit 363 Prozent.

Trotzdem musste Spanien Mitte März für neue Kredite deutlich weniger Zinsen zahlen. Also genau das, was die EZB bewirkt hat, bewirken konnte.

Angst vor einem neuen Ölpreisschock
Alle vier südeuropäischen Länder haben ein weiteres großes Problem. Erneut hat das Fluten der Finanzmärkte zu steigenden Lebensmittel- und Rohstoffpreisen geführt. Im Ölpreis sehen einige bereits die nächste Welle der Eurokrise.

Laut Internationaler Energieagentur stagniert die Erdölproduktion außerhalb der OPEC seit 2010. Die gestiegene Produktion aus kanadischen Teersanden, US-Schiefergestein und Tiefseeplattformen vor Brasilien konnten das Zusammentreffen aus dem Kollaps der Ölproduktion im Sudan, den Problemen in Libyen und der zunehmenden Erosion der Ölfelder in der Nordsee und vor Mexiko nicht ausgleichen. Saudi-Arabien fördert offensichtlich am Limit; Reservekapazität der OPEC lag vor einem Jahr bei schon niedrigen 3,7 Mio. Barrel pro Tag und ist heute auf 2,5 Mio. gefallen.

Trotzdem sind Analysten der Meinung, dass diese Fakten den enorm hohen Ölpreis nur teilweise erklären, dazu beigetragen haben die Kapitalströme, die in die Spekulation mit Rohstoffen und speziell mit Erdöl geflossen sind, einem Jahr war ein Barrel Rohöl der Nordsee-Sorte Brent mit 110 Dollar auf dem höchsten Stand seit über zwei Jahren, heute kostet es 126 Dollar. Umgerechnet macht das 97 Euro - so viel wie noch nie. Sprit und Heizöl sind EU-weit historisch teuer, die Energiepreise liegen fast zehn Prozent über dem Vorjahreswert. Die Lagerbestände an Erdöl in Europa sind sehr gering. Nach dem Inkrafttreten der Sanktionen gegen den Iran dürften die iranischen Ölexporte um 800.000 bis 1 Million Barrel pro Tag sinken. Das verschärft die Situation - vor allem wiederum in Südeuropa - zusätzlich.

Laut einer Analyse der Bank of America von Mitte März machen Energiekosten zur Zeit fast neun Prozent des weltweiten BIP aus - aus historischen Erfahrungen gelten zehn Prozent als Auslöser für die nächste Rezession. Die Weltwirtschaft könne einen weiteren Anstieg nicht verkraften, für die EU aber seien die Ölpreise bereits jetzt eine größere Belastung als 2008.


Was kommt nach dem Ende des Zwischenbooms der BRD?

Seit Einführung des Euro hat die BRD im Handel innerhalb der Eurozone Leisrungsbilanzüberschüsse von 770 Milliarden Euro angehäuft. Diese Entwicklung hat sich 2011 sogar verschärft. überschüssen entsprechen auf der anderen Seite Schulden, global summieren sich alle Leistungsbilanzüberschüsse und Defizite auf null; Exporterfolge und Schuldenkrise sind mithin zwei Seiten derselben Medaille. Die BRD müsste an Außerirdische verkaufen, wenn die Euroländer zu immer mehr Sparen gezwungen werden.

Seit Einführung des Euro hat die BRD ihre Industrieproduktion um 19,7 Prozent gesteigert (sie macht ein knappes Viertel des BIP aus), der Industrieausstoß in Portugal fiel im selben Zeitraum um 16,4, in Italien um 17,3, in Spanien um 16,4 und in Griechenland sogar um 29,9 Prozent - regelrechte De-Industrialisierungsprozesse. "Geschmiert" wurden diese Erfolge der deutschen Exportindustrie und die De-Industrialisierung in Südeuropa durch eine prekäre und periphere Re-Industrialisierung von Teilen Osteuropas (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien). Die Osterweiterung der EU war verbunden mit einem Versprechen namens "Transformation". Aber zwei Jahrzehnte später ist klar, dass die Transformation nirgendwohin führt, sie selber war der Zweck. Krasses Beispiel ist Nokia, das 2008 seine Handyfertigung von Bochum nach Rumänien verlagerte, dieses Werk 2011 bereits wieder schloss und die Produktion nach Vietnam verlagerte. Zuvor hatten bereits Nestlé, Colgate, Kraft Foods, Coca Cola und andere Konzerne ihre rumänischen Standorte dichtgemacht.

In Osteuropa beginnt sich eine "Enttäuschung über den Kapitalismus" breitzumachen. Vor allem in Rumänien und Kroatien entwickeln sich seit Anfang 2011 Proteste gegen die vom IWF verlangten Austeritätsprogramme - die sich im Januar 2012 in Rumänien ausgeweitet haben (siehe Artikel S. 69).

Die inneren Bestandteile des "Modells Deutschland"
Mitte März veröffentlichte das Institut für Arbeit und Qualifikation einen Forschungsbericht, demzufolge die Zahl der Niedriglohn-Beschäftigten in der BRD zwischen 1995 und 2010 um mehr als 2,3 Millionen gestiegen ist. 2010 arbeiteten knapp acht Millionen Menschen, 23,1 Prozent aller Beschäftigten, für einen Niedriglohn von weniger als 9,15 Euro brutto pro Stunde, die Hälfte von ihnen für weniger als sieben, und 1,4 Millionen für weniger als fünf Euro die Stunde.

Im Mittel sind die Reallöhne in Deutschland von 2000 bis 2010 um 4,2 Prozent gesunken, aber die Unterschiede zwischen den einzelnen Lohngruppen sind beträchtlich. Das obere Fünftel hat dazugewonnen, alle anderen haben verloren. Die Reallöhne der unteren drei Fünftel sanken bereits von 2000 bis 2005, das nächste Fünftel folgte erst in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts. Die Reallohneinbußen haben sich von unten nach oben durch das Lohngefüge gefressen. Die unteren 70 Prozent haben in den zehn Jahren durchschnittlich fast zehn Prozent Reallohn verloren.

Hartz IV gilt seit dem 1. Januar 2005, die Hartzgesetze traten zwischen 2003 und 2005 in Kraft. Sie haben also eine Entwicklung, die bereits in Gang war, beschleunigt; z.B. indem sie die Regelungen für Leiharbeit gelockert haben; die Zahl der LeiharbeiterInnen verdreifachte sich seither. In der Folge sind dann auch die Löhne von FacharbeiterInnen in der Exportindustrie (das zweitoberste Fünftel) gesunken - sie waren zum "Verzicht bereit", um ihre Arbeitsplätze zu halten und nicht auf Hartz IV abzurutschen.

Das deutsche Exportmodell beruht auf Industrieproduktion mit einer Arbeiterklasse, deren Löhne stark auseinanderdriften. Es ist angewiesen auf die Verschuldung der Länder, in die es exportiert. "Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt", meinte Gerhard Schröder im Januar 2005 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Aufgebaut! Denn natürlich gibt es keinen Markt für Niedriglohnjobs. "Niemand würde eine Bezahlung unterhalb des Existenzminimums akzeptieren, wenn nicht das Amt mit Hartz-Sanktionen drohte. Es ist ein künstlich geschaffenes Billigproletariat..." (der Freitag) Die ILO machte in ihrem letzten Bericht ausdrücklich das Lohndumping in der BRD für die Eurokrise verantwortlich! (Dem Markt muss nicht nur in der BRD immer wieder nachgeholfen werden: Die griechische Regierung hat ein Gesetz erlassen, das Lohnerhöhungen verbietet, bis die Arbeitslosigkeit auf zehn Prozent zurückgegangen ist.)

Warum ist die BRD so schnell aus der Krise rausgekommen?
2009‍ ‍war das BIP in der BRD um fünf Prozent eingebrochen. Dass die Kapitalisten trotzdem ohne größere Konflikte relativ schnell wieder aus der Krise kamen, beruhte auf mehreren Faktoren:

- die Arbeitszeitkonten der IndustriearbeiterInnen waren prall gefüllt und konnten monatelang abgebaut werden; dazu kam die staatliche Ausweitung der Kurzarbeitsprogramme;

- die Bundesregierung legte ein Konjunkturprogramm von 60 Mrd. Euro auf - u.a. die Abwrackprämie - das v.a. dem Handwerk und dem Mittelstand viele Aufträge verschaffte;

- der Staat verschuldete sich massiv, um mit vielen hundert Milliarden die Banken zu retten;

- vor allem aber die Konjunkturprogramme der USA und Chinas zogen die deutsche Exportindustrie aus dem Keller.

Die USA gaben 7, China sogar 14 Prozent vom jeweiligen BIP dafür aus (die BRD gerademal 2,5). Diese staatlichen Programme holten die BRD aus der Krise. Der Boom der deutschen Autoindustrie in den letzten beiden Jahren hing fast ausschließlich an den Bric-Staaten, vor allem an China. Während in Europa die Neuzulassungen zurückgingen, feierte VW Absatzrekorde. 2010 verdoppelten sich die Exporte nach China; 2011 wuchsen sie um weitere 30 Prozent; China wurde damit als Autoabsatzmarkt erstmals wichtiger als Italien. In Kombination all dieser Faktoren kamen sie relativ ungeschoren aus der offenen Situation zwischen Oktober 2008 und März 2009, in denen der globale Kapitalismus in den Abgrund blickte und niemand klar war, wie es weitergehen würde.

Bei einem erneuten Kriseneinbruch steht aber keiner der vier Faktoren mehr zur Verfügung. Die Konjunkturprogramme in den USA und in China sind ausgelaufen, das Wachstum in China geht zurück, die Staaten selber sind stark verschuldet.

Die Industrieproduktion der BRD ist im vierten Quartal 2011 mit einer annualisierten Rate von 7,4 Prozent gesunken, der nominale Warenexport um 4,3 Prozent gefallen. Vor allem aufgrund des Nachfrageeinbruchs in der Euro-Zone; nach wie vor gehen rund 60 Prozent der deutschen Ausfuhren in die EU. 2012 drohen in Italien, Spanien, Griechenland und Portugal noch stärkere Wachstumseinbrüche als 2011.

Die Situation ist eine andere
Seit dem Kriseneinbruch im Herbst 2008 ist weltweit sehr viel passiert, vor allem seit dem Sommer 2010: der Aufschwung der Klassenkämpfe in China, die Aufstände in Nordafrika, die Occupy-Bewegung in den USA... Auch in Europa entstehen Bewegungen gegen die Krisenpolitik: Spanien, Griechenland, Portugal, Italien, Rumänien...

Für die weitere Entwicklung sind die Kämpfe in Deutschland entscheidend. Bei einem erneuten Kriseneinbruch kommt es drauf an, dass die Arbeiterklasse hier in der BRD sich den weltweiten Kämpfen anschließt, und dass die breiten Bewegungen gegen Atomkraft, gegen Stuttgart 21, gegen Landebahnen usw. usw. sich auch aktiv zu ihrer eigenen sozialen Situation verhalten. Zusammen mit der bereits massiven Krise der Politik hätten wir dann eine Wirtschaftskrise, eine Staatskrise und eine Gesellschaftskrise.

Es ist heute nicht mehr die Frage, ob es massenhafte Bewegungen gegen den Kapitalismus gibt. Die große Frage - und die Hauptangst der Herrschenden - ist, dass daraus "Klassenkampf" wird. Soros hat in einem vielbeachteten Artikel Anfang des Jahres vor Riots und "Klassenkämpfen" in den USA gewarnt; der Chef des Davoser Gipfeltreffens sagte in einem Interview: "Die Proteste werden dann gefährlich, wenn sie als Klassenkampf angesehen werden." Dass sie dazu werden, genau das ist unsere Hoffnung.

Raute

Griechenland
Fortgesetzte Angriffe, Riot, Streiks

Griechenland befindet sich seit vier Jahren in einer Rezession. Steigende Preise, massive Einschnitte in die Masseneinkommen, wachsende Steuerbelastung, dramatisch steigende Arbeitslosigkeit... die griechische Gesellschaft zeigt akute Zersetzungserscheinungen. Den meisten Menschen geht es schlechter, als sie es sich je vorstellen konnten - und vor allen Dingen: es ist kein Boden in Sicht. Das Bruttoinlandsprodukt ist seit Beginn der Krise um 16 Prozent geschrumpft, allein letztes Jahr um sieben Prozent - 2012 wird noch einmal dasselbe erwartet.

Am 28. Februar wurde das vierte Sparpaket im Rahmen des zweiten "Rettungspakets" verabschiedet, schon im Juni wird die nächste Reformwelle erwartet. Wurden diesmal der Mindestlohn und das an ihn gekoppelte Arbeitslosengeld massiv abgesenkt, wird es im Sommer dann die Renten treffen, nachdem sie bereits um ein Viertel gekürzt wurden. Die Rentenkassen sind leer, und durch die massiv gesunkenen Löhne und die hohe Arbeitslosigkeit fließen noch weniger Beiträge.

Die verdammt hohe Arbeitslosigkeit macht es schwer zu kämpfen. Die meisten "Streikenden" (besonders in der Medienbranche) sind in Wirklichkeit arbeitslos.

Die Lohnfrage steht im Mittelpunkt

Die gezielte Senkung des Lebensstandards soll die Außenhandelsbilanz (durch weniger Importe) verbessern und primäre Haushaltsüberschüsse (das ist der Staatshaushalt ohne Herausrechnung der Zinszahlungen) erreichen. Im Frühjahr 2010 begann ein heftiger Prozess von Lohnsenkungen. 2011 sanken die Löhne bis zu 42 Prozent. Der bisher schlimmste Schritt war die Absenkung des Mindestlohns um 22 Prozent am 28.‍ ‍Februar. Denn dadurch sinkt das Arbeitslosengeld um denselben Prozentsatz. Bisher bekam ein Arbeitsloser ein Jahr lang ca. 461 Euro im Monat, bei einem auf 530 Euro reduzierten Mindestlohn sinkt das Arbeitslosengeld auf ca. 360 Euro. Nun wurde aber eine zusätzliche Bedingung eingeführt: 360 Euro gibt es nur noch für Leute, die vor der Arbeitslosigkeit mehr als 314 Euro verdient haben. Verdiente man weniger, kann das Arbeitslosengeld bis auf 180 Euro im Monat absinken. Dazu muss man wissen, dass Griechenland das einzige Land in der EU ist, in dem es keine Form von Sozialhilfe gibt: nach einem Jahr ist Schluss und es gibt gar nichts mehr.

Jugendlichen unter 24 Jahren wurde der Mindestlohn nochmal um zehn Prozent mehr gekürzt - seither gibt es immer mehr Jobangebote speziell für Leute bis 24! Die Renten oberhalb von 1300 Euro wurden um zwölf Prozent gekürzt. Zusatzrenten, die 200 Euro überschreiten, um zehn bis 20‍ ‍Prozent. Berufsgruppen wie Richter, Ärzte, Diplomaten, Uniprofessoren, Polizisten, Feuerwehr und Militär müssen Lohnkürzungen um bis zu 1000 Euro hinnehmen.

Zudem wurden die staatlichen Ausgaben im Gesundheits- und Bildungsbereich gekürzt, die Mehrwertsteuer erhöht und der Steuerfreibetrag von 12.000 Euro auf 5000 Euro - also unter die Armutsgrenze! - gesenkt. Somit ist sogar die Besteuerung des Arbeitslosengeldes möglich.

Logischerweise nimmt die Schwarzarbeit weiter zu. Es wird geschätzt, dass ein Drittel aller Beschäftigten schwarz arbeiten, knapp 40 Prozent der Migranten und 26 Prozent der Einheimischen. Viele Vollzeitverträge (acht Stunden an fünf Tagen) wurden in Teilzeit- oder flexible Arbeitsverträge umgewandelt. ArbeiterInnen in Meinen Betrieben können auf diese Angriffe und eine drohende Entlassung kaum reagieren. Etwa die Hälfte aller Kleinbetriebe bleibt ihren langjährigen Angestellten monatelang den Lohn schuldig. Allein 2011 sind etwa 35.000 (vorwiegend kleine) Unternehmen bankrottgegangen.

Von der Substanz leben

Immer mehr Leute brauchen ihre Rücklagen auf Bis zum April 2011 hatten die Privathaushalte 33 Milliarden Euro von ihren Bankeinlagen abgehoben; von 2001 bis 2009 hatten sich diese fast verdoppelt (von 103,4 Milliarden auf 196,9 Milliarden). Ähnlich die Unternehmen: sie zogen ca. zehn Milliarden Euro ab (von 2001 bis 2008 hatten auch ihre Einlagen sich fast verdoppelt, von 22,6 Milliarden auf 42,2 Milliarden Euro). Diese Entwicklung hat sich seither beschleunigt.

Die Kombination aus sinkenden Einkommen und steigenden Lebenshaltungskosten führt zu einer ausgeprägten (und in der BRD völlig unterschätzten) Massenverarmung in Griechenland. Immer mehr Rentner und Patienten werden als Überflüssige angesehen und sterben ohne jegliche Behandlung. Besonders betroffen sind ArbeiterInnen im Niedriglohnbereich.

Immer mehr Leute (besonders Migranten) ziehen mit Einkaufswagen durch die Stadt und sammeln aus Mülltonnen wiederverwertbare Materialien (Glas, Metalle, Papier), um sie zu verkaufen. Auch auf den Kreuzungen vor den Ampeln werden häufig kleine Waren angeboten.

In Athen wurden im letzten Jahr viele Leihhäuser eröffnet, wo man Schmuck gegen Bargeld eintauschen kann. Immer mehr Einheimische und Migranten (auch junge Leute) ernähren sich in Suppenküchen, die von der Kirche, NGOs, Freiwilligen und Stadtverwaltungen finanziert werden. Dort kann man auch Kleidung und Medikamente bekommen. Die Kirche verteilt nach eigenen Angaben in Athen 200.000 Essensrationen am Tag. Man hört von SchülerInnen, die während des Unterrichts aufgrund von Unterernährung in Ohnmacht fallen.

Soziale Depression

Angesichts dieser Entwicklung sind 300.000 Leute, die in Athen auf die Straße gehen, noch eine kleine Minderheit. In den letzten zwei Jahren kam es immer wieder zu Ausbrüchen von Wut, Solidarität und Empörung und zwar meist im Rahmen der Massendemos bei Generalstreiks. Es gibt viele optimistische Entwicklungen wie Mobilisierungen und Aktionen von Arbeitern und Streikenden. Aber vor allem im Privatsektor herrscht der Terror der Entlassung und der Arbeitslosigkeit.

Um zu verstehen, warum es noch keine breiteren sozialen Kämpfe gegen die Krise gibt, müssen wir in die jüngste Vergangenheit zurückblicken. In der "Wohlstandsphase" von 1990 bis 2010 nahmen viele Leute Kredite auf. Dabei ging es nicht um tägliche Reproduktionsbedürfnisse, sondern um sozialen Aufstieg, luxuriösen Lebensstil oder kapitalistische Konsumsucht. Man sah sich selbst als "Verbraucher", nicht mehr als Arbeiter - das war altmodisch. Individualismus, Markenbewusstsein und Desinteresse für soziale Themen waren die Markenzeichen dieser Periode.

Der jetzige Krisenschock zerstört zwar den Wohlstandsglauben, aber nicht die individualistischen Ideale und Verhaltensweisen. Zunächst sind diese in individuelle und gesellschaftliche Depression umgekippt. Daraus entstehen nicht automatisch realistische und emanzipatorische Vorstellungen. Wer in den "goldenen Jahren" einen Kredit aufgenommen hat, wird heute damit erpresst, die aktuellen "Reformen" zu akzeptieren. Wer einen Kredit laufen hat (besonders für ein Haus oder eine Wohnung), muss auch schlechtere Arbeitsbedingungen diszipliniert ertragen, will er nicht pleite gehen.

Mit zunehmenden Krisenangriffen stehen sich zwei soziale Tendenzen immer stärker gegenüber: solidarisches Verhalten oder sozialer Kannibalismus, kollektive Lösung oder persönliche Rettung.

"Stand der Bewegung"

Die Krise hat ein großes Spektrum an Widerstandspotential hervorgebracht. Ein paar Wochen vor dem 12. Februar hatten Gruppen aus der anarchistischen und autonomen Szene zu einer Demo gegen die neuen Sparmaßnahmen aufgerufen. Es kamen 3000 Leute, auch Altere. So viele waren wir noch nie, das ist politisch bedeutend! Aber gemessen an der Breite des Krisenangriffs ist die Teilnahme natürlich niedrig.

Die linksradikale Szene macht zwar Flugis, Zeitungen und auch wieder Vollversammlungen, sie hat aber nichts Gemeinsames zur Krise zu sagen, mit dem neue Leute was anfangen könnten. Einige FreundInnen gehen zu den offenen Versammlungen (in Häusern oder Zentren), die aus der Szene organisiert werden. Das bleiben aber bisher Versammlungen von Einzelpersonen, dort organisieren sich keine Gruppen, verbindliche Verabredungen bleiben aus. Neue organisatorische Strukturen wären dringend nötig, es ist aber extrem schwierig, solche konkret aus dem Verhalten der Leute zu entwickeln - und als abstrakte Forderung hebt es sofort ab und wird kontraproduktiv.

Auch zu den Demos kommen viele Leute alleine. Es gab aber auch viele Gruppen von jungen Leuten, die sich als Gruppe verhalten und sich gemeinsam durchsetzen und wehren. Und auch neue Leute von außerhalb der Szene, die sich kollektiv verhalten. In den letzten drei Jahren machten eine Menge Leute Erfahrungen auf der Straße. Besonders MigrantInnen spielen weiterhin eine wichtige Rolle, auch wenn sie durch Repressionen massiv unter Druck stehen. Allerdings geht es bisher wenig über die Formen wie im Dezember 2008 hinaus. Aber bei vielen Leuten steigt die Bereitschaft, etwas gemeinsam zu machen. Jenseits der Arbeitssphäre gibt es Organisierung in Nachbarschaften, die sich gemeinsam wehren (Stromrechnungen, Arbeitsamt...).

Dass Leute ohne Einkommen Läden plündern, ist sozial gerecht. Ihre Wut, die sich gegen Geschäfte ausdrückt, ist die Wut gegen das System. Dagegen fährt der Klassenfeind die Forderung nach der öffentlichen Ordnung hoch; gerade kleinbürgerliche Schichten pushen das in den Medien oder beim alltäglichen Tratsch über die zunehmende Kriminalität.

Der Feind steht im eigenen Land

Der Nationalstaat ist der zentrale Kommandant der Disziplin. Die zentrale Rolle der griechischen Bosse und Politiker bei den Sparmaßnahmen muss immer wieder aufgezeigt werden! Gegen die Rolle der Troika und der ausländischen Banken beim Durchsetzen der Sparprogramme muss die Arbeiterklasse in den jeweiligen Ländern kämpfen. Die Krise ist für uns keine nationale Frage, sondern eine Frage des Klassenkampfs.

Wir müssen das Arbeitergedächtnis lebendig halten: Seit Jahren schon verfolgt der innere Klassenfeind die heutigen Sparmaßnahmen und Arbeitsreformen, seine Think tanks hatten immer wieder Studien vorgelegt, in denen "Rationalisierung der Arbeit" und "innere Abwertungsmaßnahmen" gefordert wurden. Die damaligen Kräfteverhältnisse erlaubten diese Maßnahmen nicht, aber heute in der Krise sind sie möglich geworden. Die einheimischen Bosse laden die ausländischen Kreditgeber als Klassenalliierte ein, denn sie selber werden als Erste von den Reformen profitieren.

Uns interessieren nicht die Schulden, sondern die Abwertung der Arbeit und unseres Lebens; der Angriff zielt auf schlimmere Arbeitsverhältnisse. Es geht um Lohn, Arbeitszeit und die Intensivierung der Arbeit.

Linke wie Rechte hoffen auf kapitalistisches Wachstum zur Überwindung der Krise. Der kapitalistische Selbstzweck wird nicht in Frage gestellt. Die Linke trägt auch große Verantwortung für die aktuelle Lähmung, weil sie nur die Machtfrage (durch Neuwahlen oder "Revolutions"hoffnungen) stellt, und bei den direkten realen Klassenkonfrontationen im Alltag (d.h. auch praktische Organisierung gegen die obigen Abwertungsformen) abwesend ist. Viele Linke und Linksdemokraten reden sogar von einem nationalen Befreiungskampf gegen die Troika und von der "Verteidigung der Heimat"!

Alles Interessante, was in Griechenland gerade passiert, passiert unterhalb der traditionellen Organisationen, an der Basis. Niemand glaubt mehr ans Parlament, es gibt ein allgemeines Misstrauen gegen das politische System, ein Drittel der Leute wird nicht mehr wählen gehen.

Auch was am Arbeitsplatz organisiert wird, kommt auf Druck der Arbeiterbasis zustande. Allerdings ist der Weg der Organisierung von unten und der praktischen "kleinen Revolten" ein sehr langer. Ein paar Beispiele für Kämpfe der letzten Zeit:

Alles Interessante passiert an der Basis

Besetztes Krankenhaus in Kilkis/Nordgrld.
In ihrer ersten Erklärung Anfang Februar kündigten die Beschäftigten an, das Krankenhaus zu besetzen und unter Selbstkontrolle zu stellen; sie würden nur noch Notfälle behandeln und Leute kostenlos versorgen. Mit der zweiten Erklärung vom 26. Februar gaben sie bekannt, dass sie das Krankenhaus seit dem 20. Februar besetzt haben. Gewerkschaftler und die leitenden Beamten aus der Verwaltung haben die Vollversammlung der Belegschaft verlassen. Basisdemokratische Arbeitsgruppen unter der Kontrolle der VV verwalten nun das Krankenhaus. Ihre Ziele überwinden die Funktion des Krankenhauses und sind auch politisch: sie fordem die Unterstützung der Gesellschaft, Ausweitung von (dauerhaften und nicht symbolischen) Besetzungen auf Betriebe und öffentliche Räume, sowie eine friedliche Umwälzung der Regierung. Sie fordern auch Überstundenbezahlung, Nachtschichtzulage, Finanzierung des Gesundheitssystems, Einstellung von mehr Leuten, Abschaffung der Subunternehmer, Direkteinstellung der Putzfrauen, usw. (Meine Quellen sind leider nur das Internet; ich kenne Berichte von Leuten, die dort gewesen sind. Bis auf Solidaritätserklärungen hat sich bisher keine Öffentlichkeit entwickelt, obwohl es im 50 km entfernten Thessaloniki eine breite Szene gibt.)

Am 17. März ging die Besetzung leider zu Ende. In ihrer Erklärung dazu sagen die Leute, dass einige von ihnen bedroht wurden, in andere Krankenhäuser versetzt zu werden; außerdem hätten sich am Ende immer weniger aktiv an den Streikposten beteiligt.

In der Medienbranche gibt es noch relativ große Belegschaften, die fast alle angegriffen wurden. Viele Zeitungen sind bankrott, und die Belegschaften haben keine andere Perspektive.

Eleftherotyia ist eine Zeitung, die nach der Diktatur gegründet wurde, linksliberal, aber linker als die deutschen Alternativen, sie war die beste Tageszeitung in Griechenland. 900 Angestellte haben das Gebäude besetzt, nachdem sie seit Monaten keinen Lohn bekommen hatten. Sie haben bisher zweimal eine Streikzeitung herausgegeben, Die Arbeitenden. Die erste Ausgabe hatte eine Auflage von 31.000, die zweite von 61.000 Exemplaren (zum Vergleich: in ihrer Hochzeit vor ein paar Jahren verkaufte die Sonntagsausgabe von Eleftherotyia etwa 150.000 Exemplare, in letzter Zeit noch 30-40.000; in der Krise kaufen weniger Leute eine Zeitung - und nur sehr wenige junge Leute lesen heute überhaupt noch Zeitung).

Canal Alter ist ein besetzter Fernsehsender. Anfangs sendete die Belegschaft sporadisch Berichte und Liveschaltungen; mittlerweile ist der Kabelkanal aber tot; er wurde gekappt.

Hotels und Gastronomie
Diese Branche brummt im Sommer und ist - wie der Tourismus allgemein - das Paradies der Schwarzarbeit. Es gibt so gut wie keine gewerkschaftlichen Vertretungen, die Betriebe sind über das ganze Land verteilt. Außer in Athen und Thessaloniki haben die Beschäftigten nur sehr begrenzte Möglichkeiten, sich zusammenzuschließen. Trotzdem gibt es immer wieder vereinzelte Streiks, in Athen und Thessaloniki gab es in den letzten zwei Jahren Mobilisierungen gegen Entlassungen.

Riot am 12. Februar:

Während das Parlament in Athen am Sonntagabend über das von der Troika geforderte Sparpaket abstimmte, demonstrierten etwa 200.000 Leute in Athen und auf dem Syntagmaplatz vor dem Gebäude. Abends kam es landesweit zu den schwersten Krawallen der letzten 20 Jahre in Griechenland. In Athen wurden mindestens 45 Gebäude zerstört oder abgebrannt, darunter auch Kinos, Banken und Cafés. Die chaotische Seite war, dass auch kleine Geschäfte zerstört und geplündert wurden.

Im Vergleich dazu war die Beteiligung am zweitägigen Generalstreik freitags und samstags relativ niedrig - auch deswegen, weil der ÖPNV ebenfalls streikte. So konnten nur InnenstadtbewohnerInnen und Leute mit Mopeds teilnehmen (mit dem Auto kommt man nicht gut in die Stadt). Die Situation am Sonntag war diffus und unerwartet, niemand hatte damit gerechnet, dass so viele Leute auf die Straße gehen und ihre Wut ausdrücken.

Die Bullen wollten den Syntagma Platz räumen, was zunächst auch funktionierte, letztlich aber an der Masse von Leuten scheitern musste (dabei blockierte auch die KKE zwei wichtige Hauptstraßen), so war es auf allen Flächen der Stadt.

Die Auseinandersetzungen zogen sich lange hin, die meisten Leute waren fünf bis sieben Stunden auf der Straße, das war deutlich länger als bei den "Generalstreiks" zuvor und ist ein sehr wichtiger Punkt, der zeigt, dass es diesmal nicht um Routine und Symbolik ging.

Die Bullen hatten keine Kapazitäten, diese Situation zu kontrollieren, sie beschränkten sich darauf; strategische Ziele zu verteidigen. Es wurden 79 Leute aus allen Altersgruppen festgenommen, darunter 29 MigrantInnen.

In den Tagen danach wurde fast nur über die Krawalle berichtet und kaum noch über die Reformen; damit versuchte man, die "Bösen" von den "Guten" zu spalten. Medien und Linksparteien (besonders die KKE) redeten wie immer von "Provokateuren", die die Riots ausgelöst haben, allerdings ist das Bild nur noch schwer aufrecht zu erhalten. Bisher wurde immer von 200-500 Provokateuren geredet, am 12. Februar waren es dann ungefähr 2000.

Es gibt weiterhin täglich Streikankündigungen oder Streiks. Aber allgemein herrscht das Gefühl einer großen Niederlage. Trotz der ganzen Kürzungen weichen sogar ArbeiterInnen aus Großbetrieben in Arbeitslosigkeit aus, weil sie mit Kurzarbeit und abgesenktem Lohn weniger als die 360 Euro verdienen würden. Zudem gibt es allgemein die Einschätzung, dass in der nächsten Reformrunde auch die momentan noch geltenden Abfindungsregelungen abgeschafft werden.

D., Athen, 18.3.12


KKE: Kommunistische Partei Griechenlands.

PAME: (wörtlich: "Los geht's. Die Abkürzung steht für Kampffront aller Arbeiter; von der KKE gegründete Gewerkschaft.

Raute

Griechenland
Streik im Stahlwerk

Seit dem 31. Oktober 2011 sind die Arbeiter des Stahlwerks in Aspropyrgos, Attica im Streik. Sie kämpfen gegen die Entlassung von 15 Kollegen und einen Fünf-Stunden-Tag mit 40 Prozent Lohnverlust. Manesis, Besitzer des Halivourgia-Konzerns und Präsident der Vereinigung Griechische Stahlindustrie, hatte sie am 12. Oktober aufgefordert, zwischen der fünfstündigen Kurzarbeit und der Entlassung zu wählen. Nach dem einheitlichen "Nein" begann er mit Entlassungen. Am 20. Oktober verabschiedete das griechische Parlament das Polinomoschedio, ein Gesetz, das praktisch alle übrig gebliebenen Arbeitsrechte durch die Abschaffung kollektiver Arbeitsverträge auslöscht; nun sollte es zum ersten Mal angewandt werden.

Für die Unternehmer scheint die Wirtschaftskrise eine hervorragende Gelegenheit zu sein, Gewinnausfälle und notwendige Einsparungen zu behaupten und in hohe Lohnkürzungen zu übersetzen. Die Arbeiter von Halivourgia sind da anderer Meinung: Sie sagen, dass die Produktion von 1,5 Millionen auf 2,7 Millionen Tonnen angestiegen sei. Manesis selbst hat keinen genauen Geschäftsbericht für das letzte Jahr veröffentlicht.

In den Nachrichten kam der Streik nicht vor

Der Beginn des Streiks fiel mit der Einsetzung der neuen "Technokraten-Regierung" Papadimos zusammen, nachdem es am Nationalfeiertag (28. Oktober) zu Unruhen gekommen war. Bei zahlreichen Demos wurde die Wut auf die PolitikerInnen zum Ausdruck gebracht, in Thessaloniki musste sogar die traditionelle Militärparade abgesagt werden. Die Diskussion über die Zukunft der Eurozone überlagerte den Kampf der etwa 400 Stahlarbeiter; in den Nachrichten kam er nicht vor. Erst nach einer Weile wurden ArbeiterInnen, Arbeitslose und andere Streikende darauf aufmerksam. Zwei oder drei Wochen nach Streikbeginn gingen die ersten Solidaritätsbekundungen ein. Nach einem Monat aber entstand vor den Toren des Stahlwerks eine Welle der Solidarität, wie wir sie noch nicht gesehen haben. Alle Arten von ArbeiterInnen-, sozialen und politischen Gruppen und Organisationen sehen im Kampf der Stahlarbeiter den Kampf der griechischen Gesellschaft gegen den Angriff des Kapitals. Und fast alle sind sehr stolz darauf Viele Leute aus allen Ecken des Landes halfen den Streikenden mit Geld- und Nahrungsmittelspenden zu überleben.

Die mythischen Dimensionen, die dieser monatelange Streik in Griechenland angenommen hat, erklären sich zum einen damit, dass er in einem Stahlwerk stattfindet. In einem Land mit einem großen Anteil von Bauern, Kleinunternehmern und Selbständigen, in dem sich die ökonomische Aktivität seit der Integration in die EG/EU zum Tourismus und anderen Dienstleistungen(1) hin verlagert hat, hat das gesellschaftliche Ideal des Fabrikarbeiters im kollektiven Gedächtnis der Klasse einen wichtigen Platz. Darüber hinaus versucht die herrschende Klasse, die Leute davon zu überzeugen, es gebe in Griechenland keine industrielle Produktion, das Land sei völlig deindustrialisiert. Und dann ein Streik in der Schwerindustrie! Also gibt es doch Fabriken in Griechenland. Also gibt es doch Streiks, die die Produktion lahmlegen.

Außerdem ist es harte Arbeit, möglicherweise die härteste in diesem Land. Sie war früher gut bezahlt, aber in den letzten Jahren führten Kürzungen der Überstunden- und Wochenendzuschläge sowie der Zulagen zu einem dramatischen Lohnrückgang.

Viele verstreute Streiks

Hinter dem Streik der Stahlarbeiter zeigte sich eine wundersame Welt dutzender Streiks, von denen die Medien des Regimes nichts wussten oder die sie vergessen hatten. Streiks in der Nahrungsmittelindustrie, der Telekommunikationsbranche, von unbezahlten Journalisten der Zeitung Eleftherotipia und dem Fernsehsender Alter, ArbeiterInnen in Hotels und Bäckerei-Ketten, die ihre Löhne einfordern und sich an die Seite der Stahlarbeiter stellen, so dass nun eine Klassenfront gegen den Angriff des Kapitals steht.(2) Es schien unmittelbar bevorzustehen, dass Feuer ausbrechen "an den Toren zur Hölle" (wie die Stahlarbeiter ihre Fabrik nennen) und die anderen Fabriken und Arbeitsplätze in Griechenland mobilisieren, so dass alle gemeinsam die Sparmaßnahmen wegfegen. Das ist leider nicht passiert.

Politische Kontrollversuche

Es ist eine bekannte Taktik der Herrschenden, die Kämpfenden zu zermürben. Die - relativ wenigen - Streikenden, die in einem der härtesten Winter der letzten Jahrzehnte Tag und Nacht vor dem Fabriktor ausharrten, waren sicherlich erschöpft. Aber neben dem Wetter hatte der längste griechische Streik seit den 1980er Jahren von Anfang an auch politische Probleme. In den beiden anderen Fabriken in Zentralgriechenland stimmten die Betriebsgewerkschaften dem Fünf-Stunden-Tag im Gegenzug für einen Verzicht auf Entlassungen zu. Aufgrund des Streiks arbeiten sie seither allerdings acht Stunden - Streikbrecherarbeit! In Aspropyrgos war die kommunistische Gewerkschaft PAME allgegenwärtig. Alle gaben zu, dass nur die PAME sie bei der Streikentscheidung unterstützt hatte, auch diejenigen Arbeiter, die selber nicht in der KKE sind (die Mehrheit). Ein wichtiger Funktionär der PAME für die Metallindustrie war die meiste Zeit bei den Streikenden.

Dennoch hat die Versammlung der Stahlarbeiter seit ihrem ersten Treffen eine Bedeutung gewonnen, die den Rest der Gesellschaft überrascht hat. Auch wenn sie in einem Text vom 15. November behauptet, die PAME stehe an ihrer Seite, schreibt sie am 31. November: "Gewerkschaften, Arbeitslose, Arme, StudentInnen, SchülerInnen, ihr alle helft uns mit den Löhnen, die ihr gar nicht habt". Sie weist so auf die umfassende Unterstützung hin, die weit über die Partei hinausgeht, seit sich alle Gruppen der soziale Bewegung einschließlich des antiautoritären Milieus beteiligen.

Die festliche Stimmung - Tausende feierten den Jahreswechsel vor dem Fabriktor - hatte ein Ende, als es um politische Entscheidungen ging. Der 17. Januar sollte ein Tag der Solidarität sein, von PAME ausgerufen, von einigen Workers' Centers unterstützt, vom griechischen Gewerkschaftsbund ignoriert. Unabhängige Gruppen und andere Streikende, die ihre Solidarität mit dem Stahlstreik zeigen wollten, nahmen die Idee freudig auf Aber bei ihrem ersten "öffentlichen" Auftritt im Zentrum von Athen entschieden sich die Arbeiter, mit der PAME zu marschieren.(3) Unter den PAME-Leuten waren sie dann als aktiv streikende Stahlarbeiter nicht mehr sichtbar. Aber sie entschieden sich für die Sicherheit bei der KKE und ihren Isolationismus, statt für ein unabhängiges Zusammenkommen mit anderen Streikenden.

Die Präsenz der KKE setzte sich fort: es schien, als würde sie alle öffentlichen Auftritte der Betriebsgewerkschaft organisieren, abgesehen von einigen Reden von Nachbarschaftsversammlungen, linksradikalen Parteien, sozialen Zentren und anderen, die den anwesenden Streikenden eine andere als die KKE-Sicht nahebrachten. Sogar Leute, die erkannten, wie kurzsichtig die KKE-Perspektive war und wie dringend vonnöten eine breitere Unterstützung durch andere politische Gruppen gewesen wäre, hinterfragten die Unterwerfung unter den Willen der KKE nicht wirklich. Der hundertste Streiktag sah aus wie eine inhaltsleere Party, nur die Leute der "Wir zahlen nicht"-Bewegung waren mit ihren Fahnen da.

Streit um Einfluss

Die griechische KKE ist nicht die einzige "linke" Organisation, die in diesem Operettenhaus namens Parlament mitspielt. Auch die "Koalition der radikalen Linken" SYRIZA beteiligt sich daran. Sie war wohl nicht zufrieden damit, dass ein Streik mit so breiter Unterstützung in der Bevölkerung komplett von der KKE kontrolliert wurde. In einem Artikel in ihrer Zeitung Avgi schreiben sie: "Sie benutzt die armen Stahl-Arbeiter als Versuchskaninchen, auch wenn sie weiß, dass man Syndikalismus nicht ohne Flexibilität und Rückzüge praktizieren kann, vor allem angesichts einer Depression in der Industrie. Ein, zwei, drei Monate, oder sogar ein Jahr der Solidarität, und dann?"(4) Kontra, eine kleine Gruppe ehemaliger StalinistInnen, die jetzt mit den AnarchistInnen anbandelt, schrieb einige Artikel gegen die Dominanz von PAME und KKE und kritisierte, dass diese ihre Wahlpropaganda über den Streik gestellt habe, dass sie die Streikenden vom Rest der Solidaritätsbewegung isolieren wolle und die Stahl-Arbeiter in einen "Wanderzirkus" verwandelt habe, der nicht nur ihre syndikalistische Praxis, sondern auch ihr Wahlprogramm unterstützt.(5) Der Rest der sozialen Bewegung hat es vorgezogen, einen direkten Angriff auf das zu vermeiden, was für die heiligste Sache gehalten wurde: diesen langen Streik in der Schwerindustrie.

Zwar wurde die Allgegenwart der KKE-Kräfte von den meisten hingenommen, doch die Weigerung der Streikführer, sich zur Gesellschaft hin zu öffnen, und ihr Beharren darauf, allein vor dem Fabriktor aktiv zu werden und bei den Demos im PAME-Block zu bleiben, entmutigte viele Leute, die solidarisch sein wollten. Die Volksküchen und Feste, mit denen Geld gesammelt wurde, nahmen ab, die Autos hörten auf, vor dem Werk zu hupen. Ein Streik, der von den staatlichen Medien komplett ignoriert wird, gerät so leicht in Vergessenheit. Das kann auch zu Geldproblemen für den Soli-Fonds führen, aus dem monatlich 400 Euro an die Streikenden bezahlt werden sollen. Bei der Vollversammlung Mitte Februar ging es hoch her, zum ersten Mal stimmte sie nicht einstimmig für die Weiterführung des Streiks. 51 Arbeiter stimmten dagegen, 204 dafür. Am nächsten Tag tauchte eine Liste mit Namen der Gegner auf. Es schien, als wolle der Fabrikbesitzer Material aus den Gebäuden holen, um es in seinen anderen Fabriken einzusetzen, in denen nicht gestreikt wird.

Nazis vor dem Fabriktor

Der letzte Angriff auf die Streikenden, möglicherweise von der Geschäftsleitung angeleiert, war das plötzliche Auftauchen der Nazi-Gang Chrisi Avgi (Goldene Morgendämmerung) vor dem Fabriktor am 17. Februar. Sie brachten klägliche Essensspenden und redeten unglaublichen Mist ins Mikro: "Wir wollten früher herkommen, aber wir hatten keine Zeit, weil wir auch Arbeiter sind."(6) Die Streikenden vor Ort haben nicht darauf reagiert, ich denke aus verschiedenen Gründen: nationalistische Ideale hatten in Krisenzeiten immer einen starken Einfluss auf Proletarier, weil sie eine starke Kritik an der korrupten Macht mit dem Bezug auf rassische Überlegenheit kombinieren, die vom Bildungssystem erfolgreich vermittelt wurde. Nur ein Arbeiter im Werk ist tatsächlich Mitglied bei Chrisi Avgi, aber einige sympathisieren mit solchen Ideen. Zweitens flößen die Faschisten Angst ein: eine Schlägerei vor dem Fabriktor schien zu diesem Zeitpunkt möglicherweise keine gute Idee zu sein. Der Gewerkschaftsvorsitzende entschied sich für eine "demokratische" Lösung: er überließ den Nazis das Mikro, stand neben ihnen und sagte einige schlappe Begrüßungsworte, was er offensichtlich nicht hätte tun sollen. Die Nazi-Gang veröffentlichte hinterher ein Video, das einen Sturm von Reaktionen bei denen auslöste, die in den vergangenen Monaten ihre Solidarität gezeigt hatten. Das Bild des Gewerkschaftsvorsitzenden neben den Mördern von Chrisi Avgi war mindestens entmutigend.

Nun hörte der Waffenstillstand gegenüber PAME auf, alle sahen die Zeit gekommen, ihre Meinung über den Streik zu sagen. Es gab alle möglichen Kommentare - dass der Vorsitzende den Faschisten schmeichle; dass die KKE vom Besuch der Gang gewusst und ihn zugelassen habe, so dass alle UnterstützerInnen enttäuscht sein und und den Streik im Stich lassen würden, weil die KKE dessen Niederlage wolle. Viele anonyme Blogger stellten den Streiks - und überhaupt jeden Streik - infrage, wenn er kein antifaschistisches Bewusstsein erzeugen könne. Einige andere schrieben Texte über die zweifelhafte Rolle des Industrieproletariats in der kommenden Revolution.

Die Reaktion der Betriebsgewerkschaft kam am 21. Februar - sie kritisierte die Faschisten für ihre heuchlerische last minute-Solidarität (und bezog sich u.a. auf migrantische Arbeiter, die aus Solidarität gekommen waren, sowie auf "andere Gewerkschaften, Organisationen und Millionen Arbeiter in Griechenland und weltweit, die andere Meinungen und Ziele haben als wir") und erklärte gleichzeitig ihre Loyalität mit PAME - gegen "alle Faschisten und mächtigen Revolutionäre". Einige Leute überzeugte das, andere nicht. Trotzdem ebbte die Solidaritätswelle nicht ab, es wurden weiter Parties und Festivals organisiert, um Geld zu sammeln. Denn Solidarität ist mehr als notwendig für einen so langen Streik, der damit begonnen hat, sich gegen einen Fünf-Stunden-Tag für 560 Euro im Monat zu wehren, und in einem Land enden wird, in dem ArbeiterInnen per Gesetz 560 Euro für einen Acht-Stunden-Tag kriegen.

R., Athen, 16.3.2012

Anmerkungen

(1)‍ ‍Dem Nationalen Statistikamt zufolge verteilte sich die wirtschaftlich aktive Bevölkerung Griechenlands im Jahre 2001 wie folgt: von insgesamt 4.614.499 sind 12.043 Bergarbeiter, 530.515 arbeiten in der Produktion, 38.547 in der Wasser-, Gas- und Elektrizitätsversorgung und 375.660 im Baugewerbe (es war die Periode vor den Olympischen Spielen, als es viele öffentliche Baumaßnahmen gab), außerdem sind 599.755 Bauern. 1961 gab es noch 1.305.611 IndustriearbeiterInnen (darunter sind alle obigen Kategorien zusammengefasst) bei insgesamt 3.543.797 Beschäftigten.

(2)‍ ‍Nur ein paar Beispiele: Besetzung der Bäckerei Chastzis in Saloniki, Streik im Hotel "Novotel" in Solidarität mit einer entlassenen Kollegin, eintägiger Streik im Kaufhaus "Notos Galleries" gegen die Einführung von Kurzarbeit...

(3)‍ ‍Im letzten Jahrzehnt hat die PAME immer separate Demonstrationszüge durchgeführt, einzige Ausnahme war die Demo am 20.10.11 vor dem Parlament, die bekanntermaßen in Zusammenstößen zwischen ihren Ordnern und Autonomen endete.

(4)‍ ‍Christou Dimitris, "Eine politische Front ist kein NGO", Avgi, 08/01/2012.

(5)‍ ‍Kontra, 29-1-2012, Wie die Stahlarbeiter Siegen können

(6)‍ ‍Es war dieselbe Gang, die die Streikenden in einen Text dafür kritisiert, dass sie nicht einen Kompromiss mit den Boss eingegangen sind, wie ihre Kollegen in den anderen Werken. Siehe Kaloutsas Artemios: Elliniki Chalivourgia: the new Pirelli case, 19/12 2011, http://xavolos.blogspot.com/2011_12_01_archive.html


Randnotizen:

KKE: Kommunistische Partei Griechenlands.
PAME: (wörtlich: "Los geht's". Die Abkürzung steht für Kampffront aller Arbeiter; von der KKE gegründete Gewerkschaft.

Raute

Das war das Jahr des Hasen
Arbeiterkämpfe und soziale Bewegung in China

Als in Nordafrika und dem Nahen Osten ein Aufstand nach dem anderen losbrach, fragten sich viele, ob es nun auch dem chinesischen Regime an den Kragen gehen würde und sahen schon die Massen auf den Platz des Himmlischen Friedens strömen... Die Erwartungen erfüllten sich nicht: zu den im Internet angekündigten Demos einer "Jasmin-Revolte" erschienen hauptsächlich Polizei und Journalisten. Dennoch ist angesichts von Streiks in Industriebetrieben, im Transport- und Dienstleistungsbereich, Riots von ArbeitsmigrantInnen und Protesten gegen Landenteignung die Frage berechtigt, ob in der Krise eine gesellschaftliche Bewegung entsteht, die all die unterschiedlichen Anliegen verbindet. Überall auf der Welt - und eben auch in China - wird das "neoliberale Arrangement" in Frage gestellt, ArbeiterInnen zu vereinzeln, sie in Gruppen mit unterschiedlichen Rechten aufzuteilen und gegeneinander auszuspielen.

WanderarbeiterInnen haben große Erwartungen ...

Die wirtschaftliche Entwicklung Chinas beruhte darauf, MigrantInnen vom Land in den Industriezonen arbeiten zu lassen. Sie dürfen sich nicht als Bürger in den Städten anmelden, leben daher als unterprivilegierte Schicht ohne Anspruch auf staatliche Sozialleistungen und kriegen Niedriglöhne ausgerichtet aufs Landleben und die regelmäßige Rückkehr aufs Dorf. Dieses System gerät ins Wanken (inzwischen sorgt schon die zunehmende Einwanderung aus anderen asiatischen und afrikanischen Ländern ansatzweise für Nachschub an neuen, billigen Arbeitskräften!). Mittlerweile sind die Kinder und Kindeskinder der ersten WanderarbeiterInnen in den Fabriken. Sie wollen zum großen Teil nicht zurück aufs Land, setzen sich in den Städten fest, möchten dort Wohnungen kaufen und gleichgestellt leben können. Dieser Prozess ist unaufhaltsam. Um Arbeitskräfte anzulocken, werben "schon" die ersten Städte damit, dass sie Kinder von WanderarbeiterInnen in den Schulen aufnehmen. Aber der Staat geht nur zögerlich an Reformen etwa des Melderechts, denn eine wirkliche Gleichstellung der WanderarbeiterInnen wäre eine große soziale Umwälzung. Die materielle Besserstellung der WanderarbeiterInnen würde gut zur beabsichtigten Stärkung des Binnenmarktes passen, aber die Hoffnungen und Ziele dieser aufstrebenden Klasse müssten dabei unter Kontrolle bleiben, damit Ungeduld und Enttäuschung nicht den "sozialen Frieden" untergraben.

Der besonders nach der Neujahrspause immer wieder beklagte Arbeitskräftemangel geht darauf zurück, dass junge ArbeiterInnen ihre Jobs schnell wechseln - selbst nach Lohnerhöhungen. Ein von China Labour News übersetzter Bericht zeigt, dass WanderarbeiterInnen ihren ersten Job ab dem Jahr 2000 im Durchschnitt 3,8 Jahre behielten; ab 2008 nur noch 1,4 Jahre. Sie wollen interessantere, weniger anstrengende Arbeit, erwarten bessere Bedingungen und Serviceleistungen der Arbeitgeber aber oft zahlen die nicht mal Sozialabgaben für sie. Auch auf strenges, paramilitärisches Management haben sie keine Lust. Viele ziehen von einem Job zum nächsten, ohne etwas Besseres zu finden. Je jünger die Leute sind, umso besser sind sie ausgebildet, aber auch das führt nicht zum Aufstieg.(1)

In Fabriken mit relativ guten Arbeitsbedingungen bleiben die Leute bisweilen länger; Erfahrungen akkumulieren sich, gemeinsame Kämpfe werden möglich. Im Frühsommer 2010 gab es eine Welle von Streiks bei Autozulieferern, die ersten überhaupt in der chinesischen Autoindustrie. Die ArbeiterInnen konnten die Bänder stoppen und multinationale Konzerne in Bedrängnis bringen. Sie setzten beträchtliche Lohnforderungen und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen auf die Tagesordnung. Ihr Kampf war selbstbewusst und selbst organisiert; denn an solchen Orten konnten sie ein kollektives Bewusstsein und kollektive Verhaltensweisen entwickeln. So waren sie in der Lage, ihre Kämpfe eigenständig zu Ende zu bringen.(2) Weil sie sich an strategischen Punkten der Just-in-time Lieferketten internationaler Autokonzerne befanden, konnten diese ArbeiterInnen eindrucksvoll ihre Macht demonstrieren und Leute in vielen anderen Betrieben und Bereichen zum Kämpfen inspirieren. Auch wenn die Möglichkeiten, sich zu organisieren und durchzusetzen, dort schlechter sind, zeigt dieses Beispiel die rasante Entwicklung und neue Stärke der chinesischen WanderarbeiterInnen.

Die Financial Times beschreibt die Situation und erfasst dabei auch die Tatsache, dass die wachsenden Erwartungen der WanderarbeiterInnen die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben:

"Der Motor des chinesischen Wachstums ist zur potentiellen Quelle sozialer Instabilität geworden, vor allem an Orten wie Zengchen, wo mehr als ein Drittel der 1,3 Million Einwohner Wanderarbeiter sind Ihre Bedingungen haben sich in den letzten Jahren verbessert (...) Die Regierung hat in Reaktion auf wachsende Unzufriedenheit zweistellige Lohnerhöhungen befürwortet und spricht oft von den Rechten der Migranten, weitet aber in Erwartung weiterer Unruhen zugleich das Budget für innere Sicherheit aus. Während die Löhne gewachsen sind, sind die Erwartungen noch schneller gewachsen, weil die Gesellschaft viel reicher geworden ist."(3) Sie reduziert die Perspektive dabei auf Lohnerhöhungen - doch gerade wenn die Kämpfe über die Fabriken hinauswachsen, steht mehr auf dem Spiel.

...und lassen sich nichts gefallen

Immer wieder führt die Unzufriedenheit mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen zu Unruhen. Viele davon erscheinen als "ethnische Konflikte", weil Leute aus bestimmten Regionen, beispielsweise die Uiguren im Norden, diskriminiert und anderen "Volksgruppen" untergeordnet, schlechter bezahlt und behandelt werden.

Im Juni 2011 gab es gleich mehrere Riots von WanderarbeiterInnen. Die konkreten Anlässe waren zum Teil wenig aufsehenerregend, aber es beteiligten sich Hunderte und Tausende, deren Wut sich vehement entlud. Ihnen wurde mit starkem Polizeiaufgebot begegnet. In der Provinz Hubei in Zentralchina kam es zu Aufruhr, nachdem ein Lokalpolitiker, der sich gegen Landenteignungen gewehrt hatte, im Polizeigewahrsam gestorben war. Kurz danach gab es Unruhen in der Provinz Guangdong, weil ein Arbeiter angegriffen wurde, nachdem er von seinem Boss ausstehenden Lohn eingefordert hatte. In Zengcheng, Zentrum der Textilindustrie in Guangdong, provozierten polizeiliche Übergriffe gegen eine schwangere Straßenverkäuferin dreitägige Straßenschlachten. Tausende DemonstrantInnen setzten Regierungsgebäude in Brand und zerstörten Polizeiautos. Die Polizei setzte Tränengas und Panzerfahrzeuge ein, um die Situation unter Kontrolle zu bringen.(4)

Ein Streik von 4000 ArbeiterInnen in einer Handtaschenfabrik in Guangzhou (ebenfalls Provinz Guangdong) wenige Tage nach diesen Unruhen wurde in den Medien komplett verschwiegen, die Arbeiterinnen wurden von 'Sicherheitskräften' bedroht und angegriffen.

Hohe Preise fuhren zu Unmut...

Das riesige Konjunkturpaket aus dem Jahr 2008 sollte Betriebsschließungen, Lohnkürzungen, Arbeitslosigkeit und damit soziale Instabilität verhindern. Ab Mitte 2009 begann die Wirtschaft heißzulaufen, die Inflation zu steigen. China und die USA pumpten Geld ins System, die IndustriearbeiterInnen bekamen Lohnerhöhungen, die Rohstoffpreise gingen weltweit in die Höhe. Die Preise in China - vor allem für Lebensmittel und Kraftstoffstiegen immer weiter. Manche Güter des täglichen Bedarfs wie Schweinefleisch und Sojaöl kosten heute doppelt so viel wie 2009. Die Inflation untergräbt nun selbst die soziale Stabilität. Die oben beschriebenen Unruhen wurden durch die hohen Lebensmittelpreise ausgelöst oder verschärft, die an vielen Stellen das Fass zum Überlaufen brachten. Die Regierung fürchtet die Inflation aufgrund historischer Erfahrungen: sie war ein wichtiger Auslöser der Bewegung von 1989. Weil von den Preissteigerungen alle betroffen sind, könnten sich darüber unterschiedliche Kämpfe verallgemeinern und zusammenkommen.

...bei Truckern und Taxifahrern

Im Dienstleistungs- und im Transportsektor beispielsweise wehren sich viele ArbeiterInnen gegen die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Da es sich hier in der Regel um informelle Tagelöhner und Kleinselbstständige handelt, richteten sich die Leute in ihren Blockadeaktionen (im Vergleich zum klassischen Fabrikstreik) eher an den Staat als gegen die Kapitalisten.

Die Dieselpreise werden von der Regierung festgesetzt und subventioniert. Der steigende Ölpreis macht diese Subvention aber immer teurer, die Regierung musste den Dieselpreis mehrfach erhöhen. Die ohnehin schon geringen Einkommen der Trucker tendieren damit gegen Null: "Wenn ich zehn Yuan verdiene und elf Yuan Kosten habe, das macht doch keinen Sinn!" sagt ein Fahrer.(5) Einem Bericht von 2010 zufolge verbringen die Fahrer durchschnittlich 80 Prozent ihrer Zeit auf der Straße und in zwei Monaten nur eine Nacht im Bett. Viele sind krank und haben keine Versicherung.

Im Frühjahr 2011 streikten selbstständige Hafentrucker in Shanghai gegen die hohen Spritpreise und überhöhte Hafengebühren. Shanghai ist der größte Hafen des Landes und je nach Berechnung größter Containerhafen der Welt. In drei Tagen breiteten sich die Proteste über mehrere Häfen der Stadt aus, wahrscheinlich waren Tausende beteiligt. Es gab sofort eine scharfe Zensur in Presse und Internet. Die Polizei wurde eingesetzt, um Blockaden aufzulösen, Streikende einzuschüchtern und Streikführer zu verhaften. Gleichzeitig machte die zuständige Transport- und Hafenbehörde schnell Zugeständnisse: Gebühren für die Trucker würden gesenkt. Der tatsächliche Erfolg der Aktion und die Beteiligung daran waren begrenzt, aber die schnelle und taktische Reaktion hatte gute Gründe: Eine Hafenblockade kann großen wirtschaftlichen Schaden anrichten und viele Menschen erreichen, die selbst unter den Preissteigerungen leiden. Da die Taxifahrer gerüchteweise ebenfalls über einen Streik nachdachten, wurden auch ihnen vorauseilende Zugeständnisse gemacht. Nur eine Woche vorher hatte es in einem Vorort aufgrund von Polizeigewalt gegen WanderarbeiterInnen ausgedehnte Unruhen gegeben.

Die Taxifahrer in Shanghai streikten tatsächlich erst im August. TaxifahrerInnen waren vor zehn Jahren noch gut bezahlt, mittlerweile müssen sie zwölf Stunden und mehr am Stück arbeiten, um überhaupt über die Runden zu kommen. Die Spritpreise haben sich in den letzten fünf Jahren verdoppelt, die Einnahmen dagegen stagnieren.

Gegen die geringen Löhne, die hohen Fahrzeugmieten und andere Gebühren gab es in den vergangenen Jahren häufig Proteste, und auch 2011 kam es zu zahlreichen Streiks. In Hangzhou blockierten die Taxifahrer Straßen, hinderten andere am Streikbruch und belagerten ein Polizeigebäude. Die Regierung sagte schnell eine kleine Subvention und die Ausarbeitung einer neuen Gebührenordnung zu, aber vielen FahrerInnen war das nicht genug. Kurz danach kam es zu kleineren Streiks in anderen Städten derselben Provinz.

Streiks zum Jahresende reißen nicht ab

Die Regierung steckt in der Zwickmühle: Ihre im Frühjahr 2011 eingeleiteten Maßnahmen gegen die Inflation schwächen das Wirtschaftswachstum, verschlechtern die Kreditbedingungen und erhöhen damit den Druck auf hochverschuldete Unternehmen. Dazu kommt der Kriseneinbruch in Europa, der die Exporte zurückgehen lässt.

Zum Ende des chinesischen Jahres gibt es in den Betrieben häufig Konflikte, weil der letzte Zahltag ansteht, die ArbeiterInnen Bilanz ziehen und überlegen, ob sie überhaupt wiederkommen.

Außerdem versuchen immer wieder Bosse, sie um Löhne und Zulagen zu prellen. Die Konflikte häuften sich ab Oktober/November stärker als sonst, vor allem in den südchinesischen Industriezentren Guangdong und Jiangsu. Nach der Neujahrspause im Februar setzten sie sich fort. Gestreikt wurde in ganz unterschiedlichen Fabriken: Textil, Spielzeug und Elektronik, ein Autozulieferbetrieb war auch dabei. Aber auch in einem staatlichen Stahlwerk, auf den Werften in Fuijan und bei der Stadtreinigung von Nanjing wurde die Arbeit niedergelegt. Vielerorts streikten die Lehrer und Autoverkäufer. In vielen Fällen waren die ArbeiterInnen empört, weil ihre Bonuszahlungen zum Jahresende gekürzt worden waren, zum Teil wehrten sie sich gegen Entlassungen und Betriebsschließungen.

Die vielen Konflikte um Überstunden machen deutlich, wie schnell jeder Exporteinbruch die Betriebe ins Schleudern bringt und an die ArbeiterInnen weitergegeben wird. Die Bosse versuchen, an jeder Kante zu sparen, die ArbeiterInnen müssen um jeden Yuan kämpfen. Der Grundlohn reicht ihnen nicht zum Leben, sie sind auf Überstundenzuschläge angewiesen. Wenn diese wegfallen, haben die ArbeiterInnen ein Problem - was sie wegen der vielen Arbeitsstunden sie sowieso schon haben. In einer Computerfabrik in Shenzen wurde beispielweise gestreikt, weil die Leute 16 Stunden am Tag arbeiten sollten. Der Boss wollte die Wochenendzuschläge einsparen. Ein Angestellter bringt es auf den Punkt: "Für das Management ist es sehr schwierig. Gibst du ihnen Überstunden, beschweren sie sich über zuviel Arbeit. Gibst du ihnen keine, beschweren sie sich über den niedrigen Lohn."(6)

Bei Pepsi protestierten die ArbeiterInnen gegen die Betriebsübernahme durch einen taiwanesischen Konzern und verlangten die Zusicherung, dass Arbeitsbedingungen und Löhne sich nicht verschlechtern würden. Sie nahmen alle am selben Tag Urlaub und zwar gleichzeitig in mindestens fünf Städten. Derart koordinierte Aktionen sind selten. Aber trotz fehlender direkter Kontakte und Zensur sind die Leute zunehmend darüber informiert, wenn KollegInnen streiken, vor allem, wenn sie durch einen Mutterkonzern verbunden sind. In einer Fabrik des koreanischen Bildschirmherstellers LG Display in Nanjing streikten 8000 ArbeiterInnen Ende Dezember dagegen, dass die Jahresendboni für chinesische ArbeiterInnen sehr viel niedriger sein sollten als für koreanische. Sie berichten von langen Arbeitszeiten bei schlechter Bezahlung und mehreren kleinen Streiks in der Vergangenheit. KollegInnen aus Guangdong folgten den Ereignissen in Nanjing über Webseiten und taten kund, dass es bei ihnen ähnliche Probleme gebe.

In einer Fabrik für Computerteile in Shenzen verlangten die ArbeiterInnen Ausgleichszahlungen, weil der Betrieb von einem anderen Konzern übernommen wurde. Die 4500 Leute, zum Großteil Frauen, begannen einen Sitzstreik und verteidigten sich vehement gegen Polizei, die das Gebäude stürmen wollte. Sogar PassantInnen griffen ein und bewarfen die Polizisten mit Flaschen und Lebensmitteln. Später gelang es der Geschäftsführung jedoch, Angestellte und Schichtführer auf ihre Seite zu ziehen; außerdem versuchte sie, die Vertreter der Streikenden zu bestechen.

Auch beim Streik im Pangang Stahlwerk in Sichuan marschierten Tausende auf eine Schnellstraße, die Polizei riegelte drei Kreuzungen ab und ließ niemanden durch. Die Arbeiter des Staatsbetriebs forderten eine Lohnerhöhung. Kurz vorher hatte es in derselben Provinz einen Streik in der Chemieindustrie gegeben.

Insgesamt treten die ArbeiterInnen entschlossen und militant auf, bei vielen Streiks haben sie trotz starker Polizeipräsenz Fabriktore oder Kreuzungen blockiert. Zhou Yongkang vom Politbüro gab angesichts der langen Kette von Kämpfen einen deutlichen Hinweis auf die Sorge an der Staatsspitze und sagte, es müssten bessere Methoden des Sozialmangements gefunden werden. Damit ist Repression gemeint, aber auch andere Möglichkeiten, die ArbeiterInnen zu integrieren und die Kämpfe in geordnete Bahnen zu lenken.

Aufstand im Fischerdorf

Im November 2011 eskalierte der schon länger schwelende Konflikt im "Fischerdorf" Wukan (das bis zu 20.000 Einwohner hat, die Angaben variieren) in der Provinz Guangdong in Südchina. Die KP habe jegliche Kontrolle verloren, alle Parteifunktionäre seien geflohen, las man in der Zeitung. Im September hatten die BewohnerInnen gegen die Enteignung von Land protestiert, das ihnen gemeinsam gehört und im Laufe der Zeit an Immobilien- und andere Unternehmen verkauft worden war. Einer der Dorfältesten begründete die Verschärfung des Konflikts mit der Inflation: "Seit den 1990er Jahren wurde fast unser gesamtes Land enteignet, aber bisher hatten wir nicht viel dagegen, weil wir von der Fischerei gelebt haben. Doch wegen der steigenden Inflation ist uns jetzt klargeworden, dass wir mehr Nahrungsmittel anbauen sollten und das Land sehr wertvoll ist."

Das Gebäude der Regionalregierung wurde besetzt, der seit 30 Jahren verantwortliche Parteisekretär verjagt. Bereitschaftspolizei stürmte den Ort und schlug auf die Bewohner ein. Das Dorf verwaltete sich dann weitgehend selbst und kam gut ohne korrupte Funktionäre klar. Als der Konflikt sich im Dezember wieder verschärfte, wurden fünf der Männer gekidnappt, die das Dorf bei den Schlichtungsgesprächen vertraten. Zwei Tage später mussten tausend bewaffnete Polizisten einen Angriff auf das Dorf mit Tränengas und Wasserwerfern nach zwei Stunden erfolglos abbrechen und sich auf Belagerungsposten zurückziehen. Der Belagerungszustand dauerte elf Tage, inzwischen war bekannt geworden, dass einer der Entführten unter Folter im Polizeigewahrsam gestorben war. Journalisten beschrieben die Stimmung als befreit: "Zum ersten Mal seit ich vor vier Jahren nach China gekommen bin, ist keine Polizei da, und das war nicht nurfür mich ein Gefühl der Befreiung - die Dorfbewohner sind ganz ausgelassen. Aufregung liegt in der Luft, junge Männer laufen umher und organisieren den Widerstand mit Walkie-Talkies. Anders als viele andere Dörfer ist Wukan voll von Kindern, die den Aufruhr und die plötzliche Ablenkung ihrer Eltern zu genießen scheinen."(7)

Die BewohnerInnen kündigten einen Protestmarsch zum Sitz der Provinzregierung im benachbarten Lufeng an. Im nahen Haimen protestierten derweil 30.000 Menschen tagelang gegen ein geplantes Kohlekraftwerk. Inspiriert durch die Ereignisse in Wukan besetzten sie gleich die Stadtverwaltung und blockierten eine Autobahn. In der Region und anderswo gab es es zeitgleich eine ganze Reihe von Streiks. Dass die Regierung versucht, sich moderat zu zeigen, hat mehrere Gründe: Die Anwesenheit ausländischer Journalisten in Wukan bedeutete weltweite Aufmerksamkeit. Außerdem strebt einer der regionale KP-Führer einen Sitz im Zentralkomitee des Politbüros an und versucht, sich über sein Management sozialer Konflikte zu profilieren. Die vier Entführten sollten freigelassen, der Tod des Fünften sowie die Landverkäufe untersucht und das Dorfkomitee legalisiert werden.

Stattdessen wurde einer der Anführer des Protests zum örtlichen Parteisekretär gemacht, die Selbstverwaltung aufgelöst und öffentlichkeitswirksame Wahlen für die Dorfleitung inszeniert. Wirkliche Veränderungen oder Entscheidungen hinsichtlich der Landenteignung stehen noch aus. Ohne Begünstigung und Bereicherung würde der KP-Apparat wohl nicht funktionieren, und die Regionalregierungen sind auf den Verkaufvon Land angewiesen, damit Geld in die leeren Kassen kommt.

Trotz dieser Hinhalte- und Kooptationsversuche bleibt festzuhalten, dass die Konfrontationsstrategie eingestellt werden musste und das Regime tatsächlich eine Weile die Kontrolle verloren hatte.

Hung Ho-fung bestätigt die Einmaligkeit der Proteste und der Selbstverwaltung von Wukan. Er erinnert aber auch an den häufigen Widerspruch zwischen einer großen Militanz gegenüber Lokalpolitikern und einer Gutgläubigkeit oder Unterwürfigkeit gegenüber der Zentralregierung. Seit 1990 seien solche Proteste häufig als Zeichen einer neuen Bewegung gedeutet worden. In der chinesischen Geschichte hätten sie aber oft als Ventil gedient und den Autoritäten aus Krisen geholfen zumindest, solange diesen generell vertraut wurde. Erst wenn das nicht mehr der Fall war, kam es zur Rebellion. Die soziale Unruhe in Südchina und anderswo stelle angesichts der weiter vorhandenen Loyalität gegenüber Peking nicht unbedingt eine Destabilisierung des Regimes dar.(8) In der Tat werden in vielen Zeitungsberichten aus Wukan Leute zitiert, die die Zentralregierung um Hilfe gegen die lokalen Missstände bitten und sie ihrer Loyalität versichern. Inwieweit dahinter Angst oder Taktik stecken, ist schwer zu sagen. Mit Sicherheit aber kann inmitten einer Weltkrise latentes Misstrauen schnell umschlagen vor allem, wenn die gestalterische Macht Pekings schwindet und Kämpfe anderswo auf der Welt greifbar werden. In China selbst rücken sie näher zusammen, und auch hier zeigt sich, dass sich die Trennung von Stadt und Land auflöst. Unmut auf dem Dorf und Kämpfe in den Fabriken liegen bisweilen nah beieinander und die Erfahrungen zirkulieren: Einer der Protestierenden in Wukan erzählt, er habe mal in Shenzen, einer großen, boomenden Stadt gelebt. Danach sei die erstickende Macht der Dorfleitung kaum noch erträglich gewesen. Gleichzeitig haben sich nicht nur andere Dorfproteste, sondern auch die streikenden Stahlarbeiter in Chengdu durch die Ereignisse in Wukan ermutigt gefühlt und sich, auch explizit mit Transparenten, darauf bezogen.

"Massenvorfälle kein Grund zur Panik"

Die von der KP herausgegebene "Global Times" begrüßt das neue Jahr entsprechend der vielen Auseinandersetzungen mit besorgtem und drohendem Unterton: "Wir sollten für 2012 hinsichtlich der Gefahren für die gesellschaftliche Stabilität nicht zu optimistisch sein (...) Unsere Regierung sollte sich bemühen, regionale Massenunruhen - und vor allem ihre Ausbreitung zu einem nationalen Problem - mit allen Mitteln zu verhindern (...) Mit Massenvorfällen rational umzugehen steht nicht dagegen, Probleme zu lösen. (...) Unwichtige Angelegenheiten werden die Entwicklung des Landes nicht ins Schleudern bringen."(9)

Zugeständnisse, Verharmlosung sozialer Konflikte und Repression - letztere wird hier als "rationaler Umgang" bezeichnet. Das China Labour Bulletin stellt in seinem Bericht über die Jahre 2009-11 fest, dass die Regierung in den vergangenen fünf Jahren umfassende Maßnahmen erdacht und angewendet hat, um die soziale und politische Stabilität zu bewahren - koste es, was es wolle. Die Ausgaben für innere Sicherheit wären bereits gleichauf mit denen für das gesamte Militär. Die Vorbereitung auf einen großen internationalen Sportwettbewerb für Studierende in Shenzen zeigt die Dimensionen: 80.000 Menschen wurden aus der Stadt vertrieben, weil sie angeblich die Sicherheit gefährden - Leute ohne Ausweise, Aufenthaltsberechtigung, Kranke, Bettler, die, die sich auffällig verhalten. Was den Erfolg dieser Repression angeht, sind Forscher der Tsinghua-Universität in Peking skeptisch: "Die Regionalregierungen haben in den letzten fünf Jahren riesige menschliche, materielle und finanzielle Ressourcen für die Bewahrung der Stabilität aufgewendet, Konflikte und Zusammenstöße in der Gesellschaft nehmen aber im selben Maße weiter zu."(10)


Anmerkungen

(1)‍ ‍China Labor News Translations: Making Sense of 'Labour Shortage' and 'Short Term Work'.
www.clntranslations.org/article/65/short-term-work

(2)‍ ‍Sozialgeschichte Online hat einen interessanten Text von Wang Kan mit Untersuchungen zur Streikwelle von 2010 veröffentlicht: Wang Kan: Collective Awakening and Action of Chinese Workers: The 2010‍ ‍Auto Workers' Strike and its Effects. Sozialgeschichte Online, 6/2011.
www.scribd.com/doc/75362822/Sozial-Geschichte-Online-6-2011

(3)‍ ‍Unrest spreads among China's migrant masses. Financial Times (17.6.2011)

(4)‍ ‍Diese und die folgenden Informationen über Streiks und Proteste stammen aus Berichten u.a. von Financial Times, Radio Free Asia, China Labour Bulletin, World Socialist Web Site.

(5)‍ ‍Shanghai ofers fee cuts to defuse strike. Financial Times (23.4.2011)

(6)‍ ‍Radio Free Asia: Striking Workers Clash With Police (23.11.2011)

(7)‍ ‍Malcolm Moore: Inside Wukan: the Chinese village that fought back. Daily Telegraph (13.12.2011)

(8)‍ ‍Hung Ho-fung: South China's Protests Are Not as Subversive as Many Think (24.1.2012) http://www.cupblog.org/?p=5224

(9)‍ ‍Group incidents no reason to panic. Global Times (4.1.2012)

(10)‍ ‍China Labour Bulletin: Unity is Strength: The Workers' Movement in China 2009-2011. www.clb.org.hk/en/node/100013

Raute

Indien
Goldene Handschläge, mehr Geld und weniger Arbeit - Resultate des Kampfs bei Maruti Suzuki

Die Fabrikbesetzungen und wilden Streiks bei Maruti Suzuki - siehe Wildcat 91 -haben auch ohne offiziell ausgehandeltes Ergebnis die Bedingungen der ArbeiterInnen verbessert und das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten verschoben. Das offizielle Ergebnis des Streiks war golden: der japanische Kaiser verlieh dem Maruti Suzuki Geschäftsführer Bhargava nach Ende des Konflikts den "Orden der aufgehenden Sonne" für seine Bemühungen zur Stärkung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Indien und Japan, und die 30 suspendierten Gewerkschaftsführer der MSEU akzeptierten goldene Handschläge zwischen 1,6 und 4 Millionen Rupien (25.000 bis 62.000 Euro) von der Unternehmensleitung, was die Beziehung zwischen Arbeitern und dem Projekt der Gewerkschaftsformierung sicherlich nicht stärkte.

Die meisten Linken hatten die 'Gewerkschaftsführung' während des Konflikts aufs Podest gehoben und sich ansonsten wenig um die direkte Organisierung der Arbeiter gekümmert. Sie waren angesichts dieses 'Verrats' verständlicherweise pikiert und zogen die übliche Erklärungsformel aus der Tasche: mangelndes politisches Bewusstsein der Führung. Dabei waren es zuallererst die Arbeiter selbst, die ihre 'Führung' zur zweiten und entscheidenden Besetzung gedrängt und diese entgegen der Empfehlung des Gewerkschaftskomitees aufrechterhalten hatten.

Das Maruti Suzuki Management versteht sehr viel besser, dass es eigentlich nichts versteht und sucht händeringend nach Dialog. Der "emotionale Kontakt zu den Beschäftigten" soll wiederhergestellt werden. Dazu hat das Unternehmen Hotlines für Arbeiter eingerichtet, worüber sie direkten Kontakt zum Management aufnehmen können. Außerdem will man bei der Gewerkschaftsgründung helfen. Allerdings scheiterte im November ein Versuch, neue Vertreter auf Grundlage der unterschiedlichen regionalen Herkunftsorte der Arbeiter zu wählen. Hinter all diesen Bemühungen steckt die Angst vor der - immer wieder demonstrierten! - Unberechenbarkeit der ArbeiterInnen. Bis in den Dezember, also zwei Monate nach Ende des offenen Konflikts, waren deshalb auch etwa 80 Bullen rund um die Uhr in der Fabrik stationiert.

Obwohl es keine offiziellen Lohnforderungen gab und ohne dass es Verhandlungen bedurfte, erhöhte Maruti Suzuki direkt nach dem Konflikt den Lohn für Auszubildende und Zeitarbeiter. Den Festeingestellten wurde eine Lohnerhöhung 'über dem Abschluss' bei Suzuki Powertrain versprochen; die festeingestellten Arbeiter hatten dort nach der Besetzung eine Erhöhung des Monatslohns von 11.500 Rupien einkassiert, allerdings verteilt auf drei Jahre plus staatlichem Inflationsausgleich nichtsdestotrotz eine Steigerung von rund 80 Prozent. Zudem, und vielleicht von größerer Bedeutung, wurden im Werk Manesar alle angeordneten Überstunden abgesagt (vor Juni 2011 mussten Arbeiter täglich anderthalb Stunden länger arbeiten, und meistens sieben Tage die Woche) und die Bandgeschwindigkeit gedrosselt, so dass jetzt statt alle 45 Sekunden jede Minute ein Auto vom Band läuft. Die Zugeständnisse beschränkten sich nicht auf Maruti Suzuki; auch beim benachbarten Hero Honda Motorradwerk bekamen die Festeingestellten eine ordentliche Lohnerhöhung, mit explizitem Bezug auf den Suzuki-Konflikt. Diese Lohnerhöhungen sollen auch spalten, vergrößern sie doch die Lohndifferenz zwischen Festeingestellten und Zeitarbeitern.

Nach Ende des Kampfs bei Maruti Suzuki gingen die Auseinandersetzungen in der indischen Autoindustrie nahtlos weiter.

Am 19. November gab es einen kollektiven Kantinenboykott bei Hyundai Motors, nachdem die Unternehmensleitung das Arbeitstempo ohne Vorankündigung angezogen hatte. Am 1. Dezember streikten 500 Arbeiter beim Zulieferer Caparo (Ford, Nissan) in Chennai wild - nach zwei Tagen sagte das Management 110 Festverträge und Lohnerhöhungen zu. Bei Maruti Suzuki stellt sich jetzt vor allem die Frage, ob die Arbeiter auch ohne formale Organisation die Erfahrungen der Besetzungen und Streiks in eine neue organisierte Kollektivität umsetzen. Nachdem die meisten linken 'Unterstützer' das Industriegebiet in Manesar nach Ende des offiziellen Konflikts wieder verlassen haben, versuchen die Genossen der Faridabad Majdoor Samachar, die Spuren des Kampfs nachzuverfolgen. Seit Ende des Konflikts veröffentlichen sie in jeder Ausgabe ein 'Maruti Suzuki Arbeiter-Tagebuch', in dem Erfahrungen und Einschätzungen der Maruti Arbeiter festgehalten sind. Diese sind sich in den Diskussionen bewusst, dass das Management vor allem deswegen Zugeständnisse macht, weil es ihre Wut und Handlungsfähigkeit ohne formalen Repräsentationsrahmen nicht einschätzen kann. Folgendes Beispiel kann sicherlich als Zeichen des über die Maruti Fabrik hinausgehenden neuen organisierten Selbstbewusstseins der Arbeiter interpretiert werden:

Am 13. Januar erlitt ein Zeitarbeiter beim Autozulieferer Allied Nippon in Manesar chemische Verbrennungen. Das Unternehmen schob ihn zur Behandlung in ein privates nursing home ab, um die offizielle Registrierung als Arbeitsunfall und mögliche Folgezahlungen zu vermeiden. Eine handvoll Freunde des Arbeiters, selbst Zeitarbeiter bei Maruti Suzuki, stellten erst den Supervisor des Zeitarbeitunternehmens zur Rede und gingen dann direkt zur Allied Nippon Fabrik, wo der Fabrikdirektor sie vor geschlossener Tür stehen ließ. Innerhalb von einer halben Stunde haben sie rund 100 Kollegen aus verschieden Abteilungen Marutis und von Suzuki Powertrain vor der Fabrik versammelt. Der Manager verspricht, nun etwas kleinlauter, sich um das zukünftige Wohlergehen des verletzten Arbeiters zu kümmern. Seine Furcht vor der Unberechenbarkeit der Situation ist in seiner Klasse weit verbreitet. Wie berechtigt sie ist, sah man zwei Wochen danach, am 27. Januar, im Süden des Landes, als Regency Ceramics-Arbeiter als Antwort auf den Polizeimord an einem ihrer Kollegen den Direktor der Keramikfabrik lynchten und mit Hilfe von AnwohnerInnen erst die Fabrik und dann umliegende Unternehmen plünderten.


Literaturhinweis

s. Kampf bei Maruti Suzuki in Indien
www.wildcat-www.de/aktuell/a092_indien_maruti.html;

Ausführlich zu Autoarbeitern in Indien: Beilage zu Wildcat 82.

Raute

Hintergründe zu Libyen
Edlinger, Fritz (Hg.): LIBYEN Hintergründe, Analysen, Berichte
Promedia-Verlag Wien 208 Seiten, 15,90 Euro

Unter der Herausgeberschaft Fritz Edlingers, des Generalsekretärs der "Gesellschaft für Österreichisch-Arabische Beziehungen", machten sich im Frühsommer 2011 akademische und journalistische ExpertInnen dran, in mehreren Beiträgen die Hintergründe des libyschen Machtkampfs zu beleuchten und Antworten auf die brennendsten Fragen zu geben: Wie konnte ein ursprünglich antikolonialistisches Projekt der "Herrschaft des Volkes" zu einer Diktatur über das Volk verkommen? Was ist vom "neuen Libyen" zu erwarten? Welche Interessen vertritt der Westen tatsächlich mit seinen Bomben und Marschflugkörpern?

Man muss den Hut ziehen; mitten in Bürgerkrieg und Nato-Intervention ist es gelungen, zu handfesten und tragfähigen Einschätzungen zu kommen. Einige der Analysen haben sich in den letzten Monaten durch die Aufteilung des Landes in verschiedene Einflussgebiete der bewaffneten Milizen bereits bestätigt:

"Der ... demokratische Aufbruch in Libyen dürfte sich für die Bevölkerung langfristig eher fatal auswirken... Der tobende Bürgerkrieg ist kein Kampf zwischen Diktatur und demokratischer Opposition, sondern primär ein simpler Verteilungskampf um die Reste des gescheiterten Modernisierungsversuchs" (S. 27).

Andere Antworten haben vielleicht zu schnell den Deckel draufgemacht: Nach dem Ende des Krieges sei "der nächste Konflikt zwischen Anhängern islamistischer Gruppen und abtrünnigen Wirtschaftsfunktionären der Gaddafi-Ära bereits ausgemacht" (ebenda).

Der Gegenpol zur wirtschaftsliberalen Regierung des NTC sind, wenn überhaupt, soziale Bewegungen, die an den Ursprung der Revolte, die Massenhausbesetzungen in Benghazi und anderen Städten im Januar 2011 anknüpfen können und die der Logik des Krieges entgegenlaufen: Solche Momente sind in vereinzelten Streiks verschiedener Beschäftigtengruppen, öffentlicher Proteste verfolgter Minderheiten, wie der "schwarzen Libyer" oder anderer Gruppen zu finden.

Diese Momente sind weiter aufzuspüren und zu unterstützen, statt in die Falle Antiimperialismus vs. "westliche Intervention = Demokratie" zu tappen. André Scheer hatte in seiner Besprechung in der jw vom 12./13. November 2011 jedenfalls recht: "Unabhängig von den weiteren Entwicklungen in Libyen dürfte dieses Buch auch in einigen Monaten noch wertvolle Informationen liefern - und das ist eine ziemliche Leistung in diesem Moment."

Raute

Die Nadel im Heuhaufen - oder die Suche nach einer revolutionären Commons-Debatte

Mit einiger Verzögerung setzen wir die in der Wildcat 88 aufgemachte Diskussion um "die Commons" fort. Auf den nächsten Seiten findet Ihr nach der Einleitung zwei Interviews mit Projekten, die gekürzte Dokumentation einer Diskussionsrunde zu den "Commons", unser Resümee und abschließend drei Buchbesprechungen zu uns wichtigen Fragen rund um dieses Thema.

In den letzten Monaten versuchten wir herauszubekommen, ob vor dem Hintergrund der Krise seit 2008 neue Konzepte von selbstbestimmter Kollektivität entstanden sind. Wir waren überrascht, wie viele Leute sich in unterschiedlichsten Formen zusammentun. Zwischen "ideologischem Kampfbegriff" und unterschiedlichsten politischen Projekten wollten wir auf "das Tun" der Leute schauen. Hilft uns ein Begriff wie "Commons" herauszubekommen, ob dahinter neue Infrastrukturen für politische Initiativen sichtbar werden, oder ob es "Rückzugsräume" sind, Projekte einer Linken, die letztlich nur ihr selber nutzen - so formulierten wir in der Wildcat 88 unser Anliegen.

Was richtig Neues fanden wir aber nicht, im Gegenteil: Linkspartei und Verdi fordern, das bankrotte "Schlecker in Arbeiterhand" zu überführen. Die autonome Linke füllt den Begriff der "Commons" mit dem, was sie bisher als "Freiräume" fasste.

Die "Alternativbewegung" der 60er bis 80er Jahre hatte viele unterschiedliche Gesichter: Je näher "die Revolution" schien, desto mehr war sie Infrastruktur für den Kampf Je weiter weg die Revolution schien, desto mehr rückte die Suche nach Alternativen im Hier und Jetzt in den Vordergrund: Es ging um bessere, das heißt sinnvollere, haltbarere, weniger exklusive (Urheberrecht!) Produkte durch eine Ressourcen schonendere Produktion, also die Entwicklung der Gebrauchswertseite. Es ging um bessere Arbeit, also kollektive Arbeit statt sinnentleerter Arbeitsteilung. Und es ging um weniger Arbeit, das beißt auch um die Infragestellung vieler Bedürfnisse, die sich erst durch die Unterwerfung unter die Arbeitsorganisation in der Kapitalverwertung einstellen.

Wichtig war die Frage, wie individuelle und gesellschaftliche Veränderung zusammenhängen. Dabei gab es zwei negative Entwicklungen: Die einen verschoben ihre eigene Veränderung auf die nebulöse Zeit nach der Revolution. Die anderen wollten sofort aussteigen und versackten im eigenen Gemüsebeet. Wie kann eine positive Auflösung unter den heutigen Bedingungen aussehen? Welche Vorstellungen von gesellschaftlichen Veränderungen haben wir überhaupt?

Als Fortsetzung unserer Suche nach "kollektiven Fähigkeiten" von 2004/2005 (siehe Wildcat 71, 73, 74) zogen wir mit diesen Fragen los und machten Interviews mit Einzelpersonen und unterschiedlichen Projekten, wie der Freiburger Gartencoop, Maschinenbau-GmbH Karlsruhe (Name geändert) und dem Olgashof bei Wismar.

Beeindruckt haben uns die Freude und Energie, die alle Beteiligten entwickeln, wenn sie freiwillig zusammenarbeiten. Einen expliziten gesellschaftlichen Bezug haben wir jedoch nicht gefunden, eher entdeckten wir viel Schwierigkeiten, den Auswirkungen der Krise auf die Einzelnen mit kollektiven Organisationsansätzen entgegenzutreten.


Literaturhinweis

Siehe Wildcat 88, Heiße Kartoffel, Winter 2010, S. 31

Raute

Interview mit Maschinenbau-GmbH

Maschinenbau-GmbH wurde 1992 gegründet, die zwei Interviewten sind knapp 10 Jahre später dazugekommen. Maschinenbau-GmbH baut keine großen Kraftwerke, sondern kleine Anlagen im Bereich regenerativer Energie, für Gemeinden, oder Stadtwerke, aber auch Privatleute." Durchschnittlich arbeiten 13-15 Personen bei Maschinenbau-GmbH.

Gibt es eine grundlegende Idee von Maschinenbau-GmbH?

F: Seine Arbeitsbedingungen selber zu schaffen. Das war eine der Grundideen. Ohne Chef zu arbeiten, ohne Hierachien zu arbeiten und auf die Art zu arbeiten, wie es jedem und jeder am besten liegt.

A: Und die anderen zu lassen, in ihrer jeweiligen Andersartigkeit zu arbeiten.

F: Das war für mich Realität. Natürlich mit Ausnahmen, Problemen die in der Umsetzung auftreten. Klar muss man sich absprechen, wann man anfängt und wann man fertig sein will. Ganz frei ist man hält nie.

Hat sich Maschinenbau-GmbH seit 1992 viel geändert, ist die Anfangsidee gleichgeblieben?

A: Es gab verschiedenen Phasen, je nachdem was für Leute hier arbeiteten. Am Anfang waren es viele Individualisten, die sich alle eine Art "Königreich" geschaffen haben. D.h. viele haben in ihrem Arbeitsbereich bei Maschinenbau-GmbH sehr autonom und wenig transparent gearbeitet.
Es gab einerseits Kollektivisten und dann Angestellte und Auszubildende. Da gab es eine Hierarchie zwischen beiden. Jetzt hat sich das in eine ganz andere Richtung entwickelt. Wir sind fast alle im Kollektiv.

F: Die Struktur, wie wir organisiert sind und wie sich die Aufgabenbereiche gestalten, dass ist ein ständiger Wandel. Da werden ständig neue Konzepte erfunden, weil wir immer wieder vor Problemen stehen, hauptsächlich finanziellen. Aber auch weil Leute kommen und gehen und unklar ist, wer die Aufgaben dann übernimmt. Wir verändern ständig die Aufgabenbereiche und damit die Struktur.

Als was versteht sich dann Maschinenbau-GmbH? Als Kollektiv, oder...?

A: Ja, als Kollektiv.

F: Ja, definitiv als Kollektiv. Wir haben wöchentliche Arbeitsplena und zwischendurch ständig Besprechungen, um uns auszutauschen. Zweiwöchentlich machen wir eine Kollektivsitzung, wo über die arbeitstechnischen Sachen hinaus Dinge besprochen werden. Zum Beispiel die finanzielle Situation. Und dann gibt es einbis zweimal im Jahr ein Kollektivwochenende. Da geht es mehr darum, wie es den Leuten geht. Was gibt es für Bedürfnisse? In welche Richtung, wollen sich die Einzelnen bei Maschinenbau-GmbH entwickeln? Wir verwenden sehr viel Energie auf die Kollektivstrukturen und den sozialen Bereich.

Also ist euer Kern, dass ihr gemeinsam entscheidet, was zu tun ist. Das alle alles können geht bei euch nicht. Oder?

A: Den gab es früher mal. Aber das ist zwangsläufig gescheitert, weil es so ein riesen Wissen ist, was man da haben müsste. Auf allen Gebieten auf dem Laufenden zu sein, das geht nicht. Mit den verschiedenen Energiegewinnungsanlagen wird es so umfangreich - nein.
Wir haben Arbeitsbereiche in denen wir auch autonom entscheiden können. Ich muss zum Beispiel für die E-Technik nicht fragen, wenn ich etwas einkaufen will. Wenn ich ein neues Messgerät brauche, dann kaufe ich das. Wenn ich aber auf ein neues Computerprogramm für mehrere tausend Euro umsteigen will, das dann auch noch viel Einarbeitungszeit benötigt, würde ich es ins Plenum bringen. So ist es auch in der Werkstatt, in der Konstruktion, in der Buchhaltung, aber wir bringen es an den wichtigen Punkten wieder zusammen und informieren alle. Also das, was man in anderen Firmen dem Chef oder der Geschäftsführung sagen würde, machen wir gemeinsam.

F: Das funktioniert. Oder anders: was funktioniert denn nicht? Wir stehen allgemein schon immer unter Druck. Und tatsächlich einen Überblick zu behalten, dass klappt oft nicht. Oft stellen wir erst fest, dass ein Projekt finanziell ausartet, wenn es in den Minusbereich geht. Das liegt an solchen Kleinigkeiten, dass Stunden nicht aufgeschrieben oder zu spät abgegeben werden.

Nehmt ihr denn den Begriff Selbstverwaltung in den Mund? Wenn ja, wie würdet ihr Selbstverwaltung beschreiben - so ganz kurz?

F: Irgendwie nicht.

A: Aber ich find das ist ein passender Begriff. Auf uns bezogen: wir sind ein Betrieb in Selbstverwaltung, weil wir alle gleichberechtigt mitbestimmen, was wir hier machen wollen, wie wir hier arbeiten und wie wir uns organisieren wollen.

J: Ich frage, weil bestimmte politische Richtungen davon ausgehen, dass es das wichtigste sei den Betrieb selbstzuverwalten. Bei einer Autofabrik finde ich das dann nicht so einfach, denn niemand möchte Autos weiter produzieren. Hängt Selbstverwaltung nicht auch mit dem Produkt zusammen, was man herstellt?

A: Nicht unbedingt. Daimler lässt euch vielleicht in euren kleinen Bereichen autonom Entscheidungen fällen, aber letztlich hält die Konzernleitung alles in der Hand und zieht vor allem die Kohle raus. Das ist doch der entscheidende Unterschied, egal was man produziert. Wir entscheiden ohne Chef und ohne Konzernleitung, wie wir arbeiten und was mit dem Gewinn passiert. Wir bestimmen die Arbeitsbedingungen und auch den Arbeitsumfang. Das ist für mich Selbstverwaltung in einem Arbeitsbetrieb.

Wie überlebt Maschinenbau-GmbH denn ökonomisch?

F: Eigentlich durch extreme Flexibilität der Belegschaft. Ich muss sagen ich bin immer wieder erstaunt, dass sich so ein Betrieb wirtschaftlich behaupten kann. Auch über viele Jahre. Aber es gab bestimmt Zeiten, gerade am Anfang, wo Leute seht viel gearbeitet haben für sehr wenig Geld. Und das passiert auch immer wieder. Die Belegschaft muss sich zurücknehmen, um den Betrieb zu erhalten. Aber ich finde es nicht schlecht, so wie es läuft.

A: Ganz am Anfang wurde auch noch in anderen Firmen gearbeitet und hier zusätzlich umsonst. Also sein Geld hat man durch einen anderen Job verdient und hier wurde trotzdem Arbeit reingesteckt.

Werden die Anlagen subventioniert?

F: Zum Teil sind das idealistische Dinger, wo die Leute gerne ein regenerative Energiegewinnungsanlage wollen. Zum Teil verdienen aber auch Leute richtig Geld mit unseren Anlagen. Das ist keine so unrentable Geschichte, obwohl die Kilowattstunde je nach Anlagentyp zum Teil auch schlecht vergütet wird.

A: In Belgien wurden einige Anlagen subventioniert. Da hat der Staat alte Mühlen gefördert. Mit Solaranlagen ist das aber nicht zu vergleichen, dafür wird viel mehr gezahlt.

Seid ihr auf dem Markt besonders billig, oder die Einzigen, die so etwas bauen?

F: Es gibt einen Markt für die Anlagen, aber es gibt auch Konkurrenz.

A: Die Konkurrenz ist ziemlich groß und es gibt auch Firmen, die deutlich billiger sind als wir. Aber uns gibt es schon lange und wir haben deswegen Referenzen. Und wir bieten alles inklusive an, außer Betonbau. Wir machen die Konstruktion, Elektrotechnik, Bau und Montage.

In was für Widersprüche geratet ihr bei eurer Arbeit? Gibt es Neid, wenn alle das gleiche verdienen, die einen aber schwere Metallplatten tragen und die anderen vorm Computer sitzen? Oder rutscht ihr in Rollen, die euch zu bestimmtem Handeln zwingen? Wenn ein Architekt seine Termine einhalten muss und die Bauarbeiter den ganzen Tag nur kiffen, ist er gezwungen ihnen in den Arsch zu treten. Sowas?

A: Es gibt auch Zwänge von außen. Termindruck bestimmt uns und der führt zu Stress. Auch finanzieller Druck, wir müssen effektiv arbeiten. Je weniger effektiv wir arbeiten, umso niedriger wird unser Stundenlohn, das ruft auch Leidensdruck hervor. Und intern gibt es unterschiedliche Vorstellungen, wie man effektiv arbeitet. Da gibt es auch Konflikte und macht Leute unzufrieden, eben weil der Stundenlohn sinkt.
Zu den Rollen: ja, das passiert. Die Projektleitung ist für die Kunden oft auch gleichzeitig der Chef. Das können wir meist nicht beeinflussen - auch wenn der dadurch überlastet ist. Diese Zwänge gibt es.

F: Wer die Terminplanung macht, muss auch den Druck an die "Produzierenden" weitergeben. Dadurch entstehen solche Rollen. Das kann gleichberechtigt vonstatten gehen. Je nach psychischer Verfassung der einzelnen und Stress-Level entstehen dadurch aber auch Unzufriedenheiten und Konflikte.
Und du hast gefragt, ob wer die Eisen schleppt nicht sauer auf die im Büro ist. Von der Werkstatt beneidet niemand die Leute im Büro um ihren Job.

A: Also ich bin ja beides. Ich bin auf Montage, bin im Büro und habe mit Kunden zu tun; und ich bin auch froh, wenn ich mal einfach nur Kabelkanäle auf der Baustelle verlegen kann.
Die anderen Sachen sind auch anstrengend, wenn es zum Beispiel um Kalkulationen oder Planungen geht, da darf man keine Fehler machen und man denkt immer drüber nach. Denn wenn Fehler auftauchen, kann man auch den ganzen Betrieb richtig in die Scheiße reiten. Ich glaube nicht, dass es Neid gibt.
Wir müssen manchmal Arbeiten machen, die wir nicht machen wollen. Zum Teil arbeiten wir auch für Kunden, die wir politisch nicht o.k. finden.
In einen weiteren Widerspruch geraten wir immer wieder, wenn wir als Frau auf Baustellen arbeiten.

F: Das ist super anstrengend, aber es ist eine Herausforderung. Deswegen ist es gut, als Team da aufzukreuzen. Wir können uns austauschen und wir können gut miteinander arbeiten. Wenn ich hier bin, merke ich nicht, dass ich eine Frau bin. Wenn ich auf der Baustelle bin, merke ich das knallhart und das beeinflusst mich in meiner Arbeitsweise sehr krass.

Ihr sagt, hier "drinnen" könnt ihr bestimmen, wie ihr vorgeht. Schafft ihr es "draußen", aus der gesellschaftstypischen Arbeitszeit heraus - aus diesem Druck, sein Produkt zu einem guten Preis zu verkaufen?

A: Es kann schon mal passieren, dass wir alle unsere Arbeitszeiten den Bedürfnissen der Firma anpassen müssen. Auch hatten wir mal eine Kollegin, die ist immer erst um elf Uhr auf die Baustelle. Aber das machen wir in der Regel nicht. Wir gehen früh, wenn auch nicht so früh wie die anderen. Und dann natürlich der finanzielle Druck. Draußen wie hier drinnen auch. Da gibt es auch Konflikte. Wenn Leute meinen, Andere arbeiten nicht schnell genug, oder machen ihre Arbeit umständlich, also nicht effektiv und machen letztlich Miese, dann schauen wir schon, woran das liegt. Es ist für alle blöd, wenn der Stundenlohn runter geht. Dem Zwang sind wir ausgesetzt.

F: Wenn der Stundenlohn immer weiter sinkt, ist das nervig. Wenn man eh früh aufsteht und schufften muss wie ein Idiot und fast nichts verdient, dann wird es schon hart. Aber die meisten arbeiten weiterhin trotzdem gerne hier. Definitiv, das weiß ich!

Welchen Stellenwert hat denn das Geld für euch? Es ist sonnenklar, dass ihr nicht drumherum kommt.

A: Geld spielt schon eine große Rolle. Gerade auf dem letzten Kollektivwochenende war das ein schweres Thema, weil alle sagen, wir sind jetzt am Limit. Gerade durch die Kurzarbeit, wo auch eine Person sagt, sie kommt mir dem Geld nicht mehr klar. Es hängt stark davon ab, wie jede_r individuell sein Leben organisiert und überhaupt fähig ist, auch mit weniger Geld zurechtzukommen. Da sind die realen Bedingungen und da die unterschiedlichen Bedürfnisse. Wir zahlen uns keinen Bedürfnislohn, sondern allen das gleiche. Dadurch entstehen aber auch individuell schwierige Situationen.

Führt ihr Diskussionen, in denen ihr den Lebensstandard thematisiert, heute und auch in Zukunft?

A: Nur insofern, dass wir merken, wie die einen in Situationen leben, wo es ihnen leicht fällt mit weniger Geld klarzukommen, und andere eben nicht. Aber von wegen Rente, niemand hat hier eine wirkliche Altersvorsorge. Gerade die, die lange Zeit selbstständig waren, haben überhaupt keine Absicherung und das macht einigen auch Angst. Darüber reden wir. Im Grunde betrifft es alle, da wir alle Lebensläufe haben, wo niemand so richtig was eingezahlt hat. Aber belasten tut es die Leute sehr unterschiedlich. Die einen sagen, "ach, ich bekomme eh keine Rente mehr". Anderen macht das Angst, die wollen da was unternehmen.

Wie hat sich denn die Krise seit 2008 auf euch ausgewirkt?

A: So richtig haben wir die Krise nicht mitbekommen. Außer das einige Lieferanten nicht mehr geliefert haben ...

F: ... und einige Kunden nicht mehr bezahlt haben. Zwei waren plötzlich insolvent, aber ob das an der Krise lag, wissen wir auch nicht ...

A: ... die Stahlpreise.

Und politisch? Hattet ihr angesichts der Krise nicht das Gefühl, dass man noch einmal anders über Maschinenbau-GmbH und was man hier tut nachdenken kann?

F: Nö ...ich glaub uns geht es zu gut hier. Oder wir haben andere Probleme. Wir reden viel über soziale Fragen und persönliche Krisen und fragen uns mehr, wie wir Leute von uns aufgepäppelt bekommen.

A: Die persönlichen Krisen, das ist viel. Ganze Wochenenden, oder ganze Tage geht es nur um eine Person und die Krise dieser Person.

F: Aber da. in wichtig.

Also die Krise hat die Frage, wie es mit diesem Kapitalismus weitergeht, nicht in eine anderes Licht gerückt?

A: Ich würde das nicht an der Krise festmachen. Wir sind alle politisch denkende Menschen, links bis linksradikal. Das ist Konsens bei uns. Darüber haben wir vorher geredet und tun das auch immer noch. Aber die Krise? Klar hat man mal die eine oder andere Bemerkung darüber gemacht. Aber das ist ja eher eine Konsequenz aus diesem System heraus.

Sprecht ihr denn über Revolution?

F: Privat bestimmt. Aber auch als Firma unterstützen wir manche Sachen. Aber klar, nach außen wirtschaftet Maschinenbau-GmbH ganz normal, und das andere spielt sich privat ab. Wir arbeiten zusammen und sind hier ein Team, und machen darüber hinaus noch andere Sachen zusammen.

A: Wenn während der Arbeitszeit Sachen stattfinden. Ein Prozess, eine Demo, dann überlegen wir, wie wir das mit den Telefondiensten hinbekommen, wenn da viele hinwollen. Wir haben teilweise eine gemeinsame politische Geschichte.

Raute

Interview mit der Freiburger GartenCOOP

Wie seid ihr auf die Idee einer GartenCoop gekommen?

L: Ich komme aus der sogenannten "Antiglobbewegung". Schon da hatte ich mit Via Campesina zu tun, z.B. in Genf bei den Mobilisierungen gegen die WTO, dort hörte ich von den Jardins de Cocagne. Was die "Antiglobbewegung" betrifft, da war für mich ein Zyklus zu Ende. Es begannen Diskussionen, dass unsere Kämpfe stärker sind, wenn sie einen Rückhalt bekommen, eine "Struktur" im Hintergrund haben, eine Verankerung, wo wir was vorleben können...

K: Vielen ging und geht es darum, aus dem "nur anti/dagegen" rauszukommen, was Konstruktives zu machen. Ohne die Gärtner wäre es nicht losgegangen. Von Beginn an ging es um die Verbindung der Produktion und den Konsum des Gemüses.

Erklärt dochmal kurz, wie euer Modell funktioniert, auch materiell, wo kommt das Geld her?

K: Wir machen nicht Guerilla Gardening, wir wollten von Beginn was Dauerhaftes. Alle Mitglieder haben eine Einlage von 400 Euro bezahlt, teilweise in Raten. Deswegen soll niemand nicht mitmachen können. Dann gibt es einen Jahresbeitrag, das haben wir über eine "Bieterrunde" geregelt: Wir haben den Haushält vorgegeben, bzw. die Ausgaben für eine Jahresproduktion berechnet. Dann sollten auf einer Versammlung alle sagen, was sie monatlich nach Selbsteinschätzung geben können. Im Schnitt kam für die erste Saison um die 60 Euro im Monat pro Mitglied raus.
Wir haben zwei Stellen, verteilt auf vier Leute. Die bekommen den Tariflohn ungelernter Gärtner, zehn Euro brutto, ca. acht Euro Netto. Die Mitgliederversammlung fand das schlecht bzw. zu wenig, etwaige Überschüsse sollen an die Gärtner gehen... Es ist der Lohn, den ein frisch ausgebildeter Gärtner auch in einem Biobetrieb bekommen würde.

Wie wurde die Debatte um die Löhne geführt?

L: Letztlich haben es die Gärtner, das Anbauteam, selber festgelegt. Aber die Idee ist doch: Es wird nicht das Gemüse bezahlt, sondern die Landwirtschaft, die Produktion und der Konsum. Die Produktion wird soundso viel Kosten - wie können wir das über die Mitgliedsbeiträge und Arbeitseinsätze stemmen? Jetzt sind wir 190 Leute, rein rechnerisch sind das knapp unter 600 Euro pro Kopf und Jahr. Aber das wollten wir nicht als festes Kriterium vorgeben, die Einkommen sind nicht gleich. Deswegen die "Bieterrunden". Der höchste Jahresbeitrag liegt bei 2000 Euro - bei 200 Euro der tiefste. Die meisten liegen bei 500/600 Euro.

Eine Möglichkeit wäre, auch über die Löhne der Mitglieder zu reden. Warum sollsich ein Lohn von 15 Euro die Stunde Gemüse für acht Euro kaufen können!?

L: In den ersten Monaten gab es auch keinen "Gegenwert", kein Gemüse. Alle mussten in Vorleistung gehen. Aber: ich denke, dass wir nach einem Jahr oder so mehr produzieren, eine guten Ertrag haben werden. Dann werden wir mit einer Mitgliedschaft einen Haushalt mit Gemüse ernähren können - momentan rechnen wir pro Kopf! Dann könnten wir die Beträge, und in der Folge auch die Löhne erhöhen. Und das komplett frei von irgendwelchen Subventionen, das ist weder bei linken Projekten und schon gar nicht in der Landwirtschaft selbstverständlich.

Wie setzt sich eure Mitgliedschaft zusammen?

L: Das wussten wir lange nicht, eigentlich erst, seit wir sie auf der Versammlung gesehen haben. Das war erstaunlich. Auffällig viel junge Leute, das hatte ich nicht erwartet. Deutlich über die Hälfte junge Leute unter 25, auch nicht alle "Szene".

K: Nein, sicher nicht nur Szene. Mir tut sich richtig eine neue Welt auf Klar Studies, aber auch junge Familien, die auch ihre Kinder mitbringen, auf den Arbeitseinsätzen lernst du viele neue Leute kennen.

Y: Die meisten sind aber aus "grünen/Umweltgründen" da, das muss nicht gleich parteipolitisch ausbuchstabiert werden.

K: Die meisten sehen die Absurdität der industriellen Landwirtschaft, viele wollen eine Alternative auch ausprobieren. Bei den Arbeitseinsätzen merke ich aber auch: es geht um Gemeinschaft, um einen sinnvollen Ausgleich zur sonstigen Woche, um Freude und die Lust, gemeinsam draußen was zu machen.

L: Ja, so was wie "Freizeitkommunismus". Aber die Dynamik der gemeinsamen Arbeitseinsätze, wenn 20/30 Leute gemeinsam die Tage da verbringen, da passiert viel! Und ich denke, diese Dynamik wird über die "Aufbauphaseneuphorie", die wir aus unseren Projekten kennen, hinausgehen. Schon das Gemüse fordert "Kontinuität" ein.

F: Die Finanzkrise hat eine Suche nach Alternativen beflügelt. Das Mietshäusersyndikat kriegt mehr Kredite als vorher, auch die GLS Bank. Die Leute wollen ausprobieren, wie man Sachen anders organisieren kann.

Das ist aber auch ein Problem, oder!? Für einen Teil der Leute verschärft sich die Situation, die Strukturen der Linken wachsen, und haben mehr Geld zur Verfügung. Welchepolitischen Vorstellungen von Veränderung habt ihr? Z.B. spielt "Ernährungsautonomie" auch in den Debatten um einen "kommenden Aufstand" eine Rolle!? Ihr wollt doch nicht nur der bessere Bioladen sein?

F: Mir ist wichtig , dass wir die Leute konfrontieren: wie funktioniert Landwirtschaft, wie wird da gearbeitet, was kostet das, was kostet eine Produktion mit Lohnarbeit. Wir verfälschen die Kosten auch nicht durch Subventionen. Wir sagen auch nicht, dass ist der Beitrag, sondern was könnt ihr beitragen. Ich denke schon, dass wir einen breiten Prozess anschieben können, nicht nur der bessere Bioladen sind.

Ich sehe an euren Zahlen, dass da kein Urlaub vorgesehen ist. Praktisch wirdsich dass klären, aber der Widerspruch ist da!?

K: Ja, Feiertage und Urlaube sind geplant....aber den Widerspruch gibt es, nicht alles kann bezahlt werden.

"Land Grabbing" ist ein Thema, Nahrungsmittelproduktion ist Thema, aber ihr wollt nicht "Bauern werden", oder?

L: Das ist unser Punkt! Es geht es eben nicht darum, sozial oder technologisch "zurück" zu wollen. Aber wir müssen eine Nahrungsmittelproduktion haben, die weniger Energieeinput braucht, und es wird mehr Arbeit geben. Welche Form finden wir dafür, wie machen wir es: "weder Mittelalter noch der Druck des Marktes". Es geht um eine Landwirtschaft mit weniger fossile Brennstoffe, weniger Dünger. Es wird arbeitsintensiver werden - aber niemand will "schuften". Deswegen müssen wir das wie und was gemeinsam raus bekommen, deswegen finden wir die Beteiligung von allen wichtig. Deswegen versuchen wir, das Projekt so transparent wie möglich zu machen. Die Arbeitsverhältnisse in so einer Kooperative werden besser sein müssen als "draußen". Gute Bedingungen für alle, sonst sind wir gescheitert.

Y: Es gibt genügend Energie, es geht darum sie verfügbar und speicherbar zu machen. Trotzdem finde ich es richtig mehr in der Landwirtschaft zu arbeiten, dort kollektiv zu arbeiten. Aber nicht mit der Begründung, dass die Energie zu knapp wird.

L: Wir sind eine Kooperative, wir wollen Land in Gemeingut umwandeln, die Beziehung zur Produktion verändern, die Trennung von Konsum/Produktion auflösen. Aber nochmal zur Energie: das agro-industrielle System bringt aus 10 kcal Energie höchsten eine Nahrungs-Kalorie auf dem Teller! Land wird die Energiequelle der Zukunft: Solarpanels, Windräder, Biomasse, Nahrungsmittel ohne Dünger - all das braucht mehr Land. Und wenn du ohne Pestizide arbeiten willst, dann musst du jäten - dann brauchst du Leute.

Y: Ich denke, wenn die Menschen die Alternative zwischen mehr Arbeit auf dem Acker und "Solarpanels" in der Sahara oder Offshore haben, dann wird sich die zweite Option durchsetzen. Ich sehe keinen Energieengpass, es geht darum wie, wie nachhaltig, wo, wozu, wer bestimmt darüber....

Was steht bei euch in nächster Zeit an!?

K: Die Infrastruktur steht noch nicht, die Bewässerungsanlage ist noch nicht fertig. Die Hofstelle ist noch relativ chaotisch, keine Küche, keine Duschen und Umkleiden, dass muss noch getan werden.
Die Verteilstruktur ist noch nicht durch organisiert.

L: Das wird alles machbar sein - das zeigt sich jeden Tag. Entscheidend wird sein, das wir unsere Kerngruppe nicht ausbrennen, den Auftau so hin bekommen, dass wir nicht im nächsten Jahr "fertig" sind. Und da gibt es auch Differenzen, was muss jetzt passieren, was später. Oder wenn Arbeitskräfte fehlen, lass ich dann mal die Zwiebel verunkrauten... statt wieder Stunden länger zu bleiben.

Nachtrag: Das Interview ist kurz vor der ersten Saison gemacht worden. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die am Ende angesprochenen Sachen tatsächlich gelöst werden konnten - die Diskussion über "das Wie" aber weitergehen: mehr bezahlte Arbeitsstellen, "Kapitalerhöhung" oder mehr Arbeit aus dem Kreis der MitgliederInnen des Projekts!? Wir bleiben am Ball!

Raute

Halbinseln im Archipel.....

Im Herbst 2011 haben wir uns mit Leuten aus unterschiedlichen Projekten und Einzelpersonen um einen Tisch gesetzt und das Thema "Commons" diskutiert. Dabei waren H. und Sv. aus Freiburg, S., aktiv im Freiburger Mietshäuser Syndikat, zwei Leute der Freiburger GartenCoop, der Maschinenbau-GmbH Karlsruhe (MaschBau) und das "Recht auf Stadt"-Netzwerk Freiburg (RaS).

Mit dem zapatistischen Aufstand gegen den Neoliberalismus 1994 sind die "Commons" in die politische Debatte gekommen. Spätestens der Kriseneinbruch seit 2008 lässt moderne Kapitalfraktionen nach neuen Wegen und neuer Legitimation suchen. Auch die "Marktgesellschaft" braucht gesellschaftlichen Kitt und Kooperation. Benutzt ihr den Begriff? Was unterscheidet "kapitalistische und antikapitalistische" Commons!?

GartenCoop: Das habe ich mir nie so genau überlegt. Ich denke, allein die Tatsache, sich mit den Commons über das Privateigentum hinwegzusetzen und das auch weiterzudenken, ist schon was Veränderndes. Im Kapitalismus geht es doch um Privateigentum. Und wenn nicht gleich den ganzen Kapitalismus, so stellt es doch einen Grundzug des Kapitalismus in Frage.

Sv: Bei der Commons-Debatte entwickelt sich was, das unterscheidet sich von den selbstverwalteten Betrieben aus den 1980er/90er Jahren. Es gab viele Ideen, aber die haben nie eine größere Gestalt bekommen. In der Commons-Debatte ist der Ansatz einer anderen Gesellschaftsstruktur drin. Also, wie strukturierst du etwas im Ganzen, wie geht das, dass Dinge oder Fähigkeiten dahinkommen, wo sie hinmüssen, wie werden die Bedingungen des Einzelnen zum Fortkommen aller? Dass du nicht auf Kosten von anderen weiterkommst, sondern dass dein eigenes Fortkommen nur darüber funktioniert, dass alle weiterkommen. In der Ära selbstverwalteter Betriebe war das so nicht drin.

S: Da hat ein Begriff gerade Konjunktur. Ich finde es interessant, dass da so viele Sachen nebeneinandergestellt werden. Landbau, kommunale Versorgungsgeschichten, Strom/Wind... Gleichzeitig steht ein eigentlich "klassisches Commons" - Wohnprojekte - bei der Debatte eher außen vor. Ich gehe da gerne mit bzw. schau mir an, was hinter der Debatte konkret entsteht.

Sv: Wir sollten schon hingucken, bevor wir gleich von "antikapitalistisch" sprechen; Was steckt dahinter? Z. B. bei der E. Ostrom (Anm.: Politikwissenschaftlerin, die 2009 für ihre Forschungen zu Gemeingütern, Allmenden, den Wirtschaftsnobelpreis erhalten hat) ist klar, dass es nicht darum geht, den Kapitalismus zu überwinden. Ich denke, es ist wichtig, ob die Akteure sich überhaupt fragen, wie es weitergehen soll. Dass es nicht bei einer kommunalen Insel im Neoliberalismus stehen bleibt.

H: Solange es nicht zu einem Bruch mit dem Kapitalismus kommt, sind die Ansätze auch immer modernisierend. Sie stoßen immer eine Reform an. Man weiß nicht, ob etwas zu einem Bruch führt oder nicht. Bei den Zapatistas bspw. ging es um ganz elementare Dinge, die sie gegen den Neoliberalismus durchsetzen mussten! Natürlich kann man sich fragen, ab das revolutionär war. Aber kann man Ihnen das vorwerfen!? Ich würde sagen, die Trennung zwischen "kapitalistisch" und "antikapitalistisch" geht so nicht.

Steckt bei der Commons-Debatte hinter "revolutionär und reformistisch" nicht das Problem, dass es einen Haufen Projekte gibt, die einfach tun und machen, ohne sich um eine Theorie zu bemühen. Und andere, die eine eigene Theorie entwickeln und viel Mühe darauf verwenden, diesen Regriff " Commons" zufüllen, wie z.B. die Heinrich-Böll-Stiftung: Die einen reden über Energiehaushalte und alternative Formen der Marktwirtschaft und die anderen reden darüber, wie man einen Garten bestellt, Traktoren und Wasserwerke baut!?

GartenCoop: Bei uns sind viele Leute, die nicht unbedingt aus "der Praxis" kamen, die sich aber mit den Gärtnern zusammengesetzt und überlegt haben, wie geht das nun zusammen - eben "Garten und Energiehaushalte"! Und wir versuchen, Vorträge zu halten, beim Klimacamp dabei zu sein, uns in einen größeren Zusammenhang zu stellen.

MaschBau: Das sehe ich bei uns ähnlich. In die gemeinsame Praxis fließen die theoretischen Backgrounds der Leute, also die Debatten der verschiedenen Scene-Zusammenhänge mit ein. Das kann unterschiedlich sein und führt in der Praxis zu vielen Diskussionen.

GartenCoop: Die Commons-Debatte findet in einem bestimmten gesellschaftlichen Diskurs, in einer gesellschaftlichen Entwicklung statt. Seit der Krise 2008 überlegen viele, wie funktioniert das mit dem Geld oder generell mit dem aktuellen "System". Dann packen wir noch die Revolution bei der Telekommunikation, die internationale Vernetzung und die tiefe kapitalistischen Krise dazu!! Allein in unserem Umfeld gibt es 19 vergleichbare Projekte, davon haben sich sechs letztes Jahr gegründet. Klar, manche gibt es seit den 1980ern. Können wir von einer neuen "Qualität" sprechen, da schon heute mehr Leute über "Commons" diskutieren als je über alternative Betriebe?

Uns ging es nicht darum, einen "wasserdichten" Commonsbegriff zu haben, sondern ob vor dem Hintergrund der Krise was Neues passiert Durch Hartz IV und den einhergehenden Druck, arbeiten und Geld verdienen zu müssen, sind nicht wenige dort hängengeblieben, wo sie anfänglich nur eine kleine Nische suchten: in irgendeinem Betrieb, einer Selbstständigkeit, einem "Projekt" oder an der Uni. Mittlerweile können sich die meisten vor lauter Arbeit nicht mehr retten und finden kaum noch Zeit, sich um Freunde, Politik und das Leben zu kümmern. Weniger das Experimentieren als Notwendigkeiten rücken in den Mittelpunkt. Weniger die Gemeinschaft wird gesucht, sondern Strukturen, die die privaten Macken, ökonomische Probleme und individuelle Vorlieben auffangen können. Wie erlebt ihr das? Und welche Rolle spielt das Geld?

S: Bei den Hausprojekten gibt es natürlich Leute, die Geld haben, aber es geht nicht nur um Geldkapital, sondern auch um "kulturelles" oder "soziales" Kapital - dass man sich überhaupt organisieren kann. Das ist einer der Hauptkritikpunkte am Mietshäusersyndikat: Es ist nur eine bestimmte Schicht, die das macht. Du musst in einem Projekt nicht unbedingt eine Einlage drinne haben, aber es ist trotzdem ein bestimmter Ausschnitt von Leuten. Aber war das "früher" anders? Die Frage war immer zentral, wie sich die "alternativen Projekte" finanziell halten.

RaS: Hier in Freiburg ist in zwei Stadtteilen klar geworden, dass über ständige Mietauseinandersetzungen das Interesse für Mietshäusersyndikatsprojekte gewachsen ist. Da scheint sich was zu entwickeln: Irgendwas muss passieren, irgendwas muss anders werden, als es gerade läuft. Wir haben nicht Lust, zum 150sten Mal gegen die Mieterhöhung zu kämpfen, sondern da muss eine andere Organisationsform her.

S: Der Wohnungsverkauf der Stadt, dann die Mieterhöhungen, das nimmt und nimmt keine Ende und die Leute sind nach der zweiten Kampagne ausgelaugt. Das Mietshäusersyndikat ist dann eine greifbare Alternative.

GartenCoop: Bei der GartenCoop merken wir das auch. Die Ersten, die sich für uns interessierten, waren Betriebe, die vor der Frage stehen: Machen wir dicht oder machen wir was anderes? Das Anbauteam spricht von einem "Mindestlohn". Auch die Kooperative insgesamt meint, wir sollten nicht nur den "Mindestlohn" zahlen. Nur was machen wir damit, da gibt es unterschiedliche Meinungen: mehr Arbeit mobilisieren, jedeR trägt seinen Teil bei, auch ohne Lohn. Andere wollen die Ausbeutungsverhältnisse in der Landwirtschaft hinterfragen, im eigenen Projekt keine Scheißlöhne und Überstunden. Die Geldfrage spielt eine wichtige Rolle. Wir können die Löhne auch nur zahlen, weil andere Leute lohnarbeiten gehen. Wir könnten das Projekt nicht nur mit Leuten mit wenig Geld machen. Wir hängen davon ab, dass Leute mehr Geld haben - der jährliche Durchschnittsbeitrag pendelt grob zwischen über 2000 und 600 Euro.

MaschBau: Auch bei uns geht es um die niedrigen Stundenlöhne. Wir entscheiden das zusammen, gehen wir noch mal runter, was machen wir mit Leuten, die das nicht können? "Selbstausbeutung" versus wir machen den Laden dicht. Allen sind die Vorteile wichtig: Arbeitsbedingungen, die uns Spaß machen, zusammen frühstücken, mittags gemeinsam kochen ... Mich schreckt der Stundenlohn gerade nicht ab, aber ich komme auch mit wenig Geld aus. Aber andere haben einen anderen Bedarf und für die ist das schwierig. Wir bekommen zwar alles das Gleiche, aber die Lebensbedingungen sind nicht die gleichen, das ist auch ein Punkt, wo man ansetzen kann. Wir haben keine gemeinsame Ökonomie.

Wenn es diese Abhängigkeit von guten Löhnen gibt, oder ganz unterschiedliche Bedingungen im selben Projekt - dann stellt sich doch die Frage, ob wir damit politisch was machen wollen. Bei der Commons-Diskussion wird diese Debatte nicht geführt, trotzdem lassen sich drei Positionen erkennen: Die einen wollen die öffentlichen Güter stärken, also staatlich regulieren. Anderen ist die Selbstorganisation wichtig, die eine "solidarische Ökonomie" neben der kapitalistischen Ökonomie und unabhängig vom Staat erlaubt. Hier ist von "Halbinseln" die Rede. Wieder andere versuchen, ihre Projekte in eine "Aufstandsperspektive" einzuordnen. Wie kommt es, dass man alle Positionen quer durch die Projekte finden kann?

H: Ich sehe die drei Positionen nicht als sich ausschließende Positionen. Der erste Punkt ist doch vor allem eine Antiprivatisierungsposition. Das kann man doch mit der Halbinselvorstellung verbinden. Ich sehe die GartenCoop so - eine unterstützenswerte Insel. Das kann auch mit einer Aufstandsperspektive verbunden werden, auch wenn ich die gerade nicht sehe.

Ein Blick auf Berliner Kollektive, alte Hausprojekte, aber auch neue Läden, Kneipen etc. von jungen Leuten zeigt, was dabei rauskommt, wenn es solch eine Debatte nicht gibt. Es ist für viele überhaupt nicht mehr fragwürdig, Geschäfte zu machen. Wenn sich mit dem Kollektiv Geld machen lässt, dann ist gerade für die jungen der Sprung zur eigenen Firmafast schon normal.

GartenCoop: Das ist auch typisch für die Stromerzeugung. Dezentral, regenerativ, ja schön, aber im Prinzip läuft das nur, weil es Rendite gibt. Man macht es, weil es Geld gibt, die Eigentumsverhältnisse werden da nicht hinterfragt.

GartenCoop: Ich denke, dass man im politischen Widerstand oder der politischen Organisation immer stärker war, wenn man aus einer konkreten Struktur heraus agierte und nicht nur aus einem theoretischen Überbau heraus. Wir haben eine autonome Struktur, eine Alternative; das ist ein Ansatz; wir versuchen es. Da sind viele politische Erfahrungen eingeflossen, Widerstand-, Organisationserfahrungen. Es gab Leute, die wollten die Diskussion über Produktionsmittel führen, über Finanzierung, über Saatgut viele Aspekte sind zusammengekommen.

Das Mietshäusersyndikat wurde von der Heinrich-Böll-Stiftung eingeladen, um als Beispielfür deren Vorstellung von Commons herzuhalten. Das ist doch verrückt, funktioniert aber, weil eine eigene Debatte fehlt. Die basteln andere! Mittlerweile hat man den Eindruck, alles, was so formuliert wird, hat die EU in irgendwelchen Paketen schon verabschiedet. In Brandenburg ist es aufden ersten Blick schön anzuschauen, wenn sich Dorfgemeinschaften ihr Wasser, ihren Strom oder ihren Supermarkt selbst organisieren. Aber wenn man näher hinschaut, ist es dann der FDP-Bürgermeister, der die autarke Stromversorgung organisiert, und da geht es um alles außer um Revolution. Wie lässt sich da noch eine "revolutionäre Perspektive" reinbringen?

H: Früher gab es einen kreativen Gebrauch von Sozialgeldern, und heute gibt es vielleicht einen kreativen Gebrauch von EU-Geldern. Gibt es überhaupt einen "kreativen Gebrauch" freier, also in der Regel, staatlicher Ressourcen!?

RaS: Man muss es auch nicht nur an der Kohle festmachen. Auch wenn die ökonomische Reichweite des Syndikats begrenzt ist, strahlt es trotzdem was aus. Selbstbestimmung, andere Formen des Umgangs. Die Leute wollen nicht nur billig wohnen, sondern auch anders zusammen wohnen und eben nicht klassisch anonym im Hochhaus. Die Genossenschaften haben auch als eine Gegenbewegung angefangen und trotzdem waren sie integrierbar. Leute wurden still, als sie schön wohnten. Und so ist es auch heute: Organisiert euch, wenn ihr es allein hinkriegt; dann müssen wir es nicht machen, wir haben eh keine kapitalistische Verwertung mit euch vor. Es gibt oft den Zwiespalt, dass es eine reale Verbesserung für die Leute gibt und die gleichzeitig dem Kapitalismus nicht weh tut.

Sv: Stärke entwickelt sich, wenn sich viele Inseln aufeinander beziehen und eine Struktur, eine Organisationsform entwickelt. Dann sind es nicht mehr einzelne Gemeinschaften, die ihr jeweiliges Ideal haben, sondern das wird ein anderes gesellschaftliches Prinzip. Aber das sehe ich im Moment leider eher nicht in Schwung kommen. Beim Syndikat gibt es auch keine gemeinsame Debatte, wie man eigentlich zum Kapitalismus steht.

Oft geht es gar nicht mehr um die Angst des Kapitals, dass irgendwas ihm "weh tut", sondern "die" warten auf Ideen. Aber wenn es die Chance gibt, den Kapitalismus zu erneuern, dann gibt es doch auch die Chance, was ganz anderes zu machen! Die Frage ist nur, stellen wir uns dass so vor, dass sich unsere ganzen Lebens- und Projektrealitäten friedlich verallgemeinern, wir was aufbauen oder muss man dafür kämpfen, "klassisch" formuliert, wo liegt die Macht zum Bruch!?

GartenCoop: Da mag ich lieber das Bild von den Inseln und dem Archipel. Die Inseln schließen sich irgendwann zusammen und es kommt zu einem Aufstand. Am Konflikt kommen wir nicht vorbei!

Raute

... resümieren!
Die Gemeinschaft ist in...

Wir führten nur Interviews mit Linken, obwohl uns klar war, dass die Suche nach Gemeinschaft und Vergemeinschaftung ein breitgefächertes Interesse ist. Vereinzelung und private Überforderung (Familie, Geld, Arbeit, Freundschaft) lässt die Leute nach Verbündeten suchen, ob in Stadtteilinitiativen, ehrenamtlichen Tätigkeiten, Garten- oder Wohngemeinschaften.

Längst beschränkt sich auch das "Alternativwirtschaften" nicht mehr auf linke Kreise, sondern zieht sich durch die unterschiedlichsten sozialen und politischen Lager.

Sozial, weil sich der Kreis von den Unterschichten bis in die hohen Mittelschichten ziehen lässt, also von Armutsökonomie bis zu alternativen Unternehmen. Es verändern sich bekannte Alternativen wie Schwarzarbeit, Teilsubsistenzwirtschaft, Genossenschaften, Kollektivbetriebe und Dorfgemeinschaften. Es kommen aber auch neue Formen dazu. Liberale Unternehmen, die auf Selbstverwaltung setzen. Junge Start-ups, die sich in verschiedensten Formen organisieren. Studenten, die sich unabhängig von der Universität kollektiv selbstständig machen.

Politisch, weil fast alle Parteien versuchen, diese Entwicklung aufzugreifen, um ihr Klientel nicht zu verlieren. Aber auch Wirtschaft und Staat versprechen sich von diesen Entwicklungen etwas und reagieren mit Gesetzesänderungen und finanziellen Unterstützungen.

Mit dem Begriff "Commons" wurde eine Antwort auf die Krise der linken Ideologien (bewaffneter Kampf, Sozialismus, Betriebsintervention ...) gefunden. Es geht nicht mehr darum, den (neoliberalen) Angriff des Kapitals zu benennen, sondern um die Wiederaneignung und Verteidigung der Commons als Strategie für den "Postkapitalismus". Mittlerweile ist der Begriff derart verflacht, dass er als ideologischer Containerbegriff funktioniert, aber kaum noch eine politische Debatte möglich macht, um z.B. eine (linke) "solidarische Ökonomie" von bürgerlich/grünen Initiativen zu unterscheiden.

Spätestens seit dem Kriseneinbruch 2008 jonglieren Grüne, Die Linke & Co mit dem Begriff "Commons" und behaupten, nach einer Alternative zum Versagen des neoliberalen Marktes, dem verschwenderischen Ressourcenverbrauch und ökologischen Wahnsinn zu suchen. Tatsächlich werden mit Ideologien vom "Grünen Kapitalismus", "Green New Deal" oder "sozialistischer" Betriebswirtschaftslehre (Genossenschaften, selbstverwaltete Betriebe...) Regierungsprogramme kreiert, was die Leute motivieren soll "produktiver" zu arbeiten.

Das funktioniert, weil die Bedingungen der Ausbeutung der letzten 20 Jahre praktisch ausgeklammert wurden bzw. diese Realitäten kaum einen gesellschaftlichen Platz hatten - trotz der wieder modernen Betonung der "sozialen Frage" auch in der (autonomen) Linken. Seit Jahrzehnten verfestigte sich die Entfremdung von ArbeiterInnenkämpfen; anstatt die (eigenen) Löhne, Arbeits- und Lebensbedingungen zu thematisieren, ging es um die großen Fragen der Weltpolitik, Energie, Nahrung, Rohstoff, Klima ... In den Focus rückten diejenigen, die behaupteten, Antworten geben zu können, und Projekte planen.

Diese Art, Antworten zu geben, ist "objektiv" durch die Krise seit 2008‍ ‍und "subjektiv" durch die Aufstände und Kämpfe der letzten Jahre überrollt worden: Beides bildet den Hintergrund für die beginnende Herausbildung eines globalen Proletariats. In den weltweit stattfindenden Kämpfen stellt sich die Frage nach dem Zusammenkommen dieser Kämpfe und der Herausbildung von Arbeitermacht - einer globalen Streikwelle gegen das kapitalistische "Krisenkommando".(1)

In diesem Sinne ist die "Commons-Debatte" überholt. Die Frage nach Vergemeinschaftung aber bleibt! Zwischen Positionen die Revolution nur als Commons, also Gemeingüter plus Biolandwirtschaft fassen können und "post-operaistischen" Ansätzen, die das Gemeinsame, the Common, bereits in den Tätigkeiten der "immateriellen/affektiven" Arbeit verwirklicht sehen(2), braucht es eine Position, die sich auf die realen (Klassen)Kämpfe bezieht, sich politisch einmischt!

Auf den Plätzen in Kairo, Madrid oder New York lässt sich die gleiche Euphorie ausmachen wie hier, wenn es darum geht, was gemeinsam auf die Beine zu stellen. Sobald die Leute in Bewegung sind, werden "Berge" versetzt, ob in Gorleben oder Heiligendamm. Es fehlen jedoch die neuen Formen, sich zusammenzutun. Die Leute können wochenlang Plätze besetzen, Klos für tausende Demonstranten bauen, tonnenweise Schotter aus dem Gleisbett tragen und unzählige Leute versorgen, aber aus den bekannten eigenen Rollen und Verhaltensweisen schlüpft kaum jemand heraus. Viel selbstverständlicher ist es stattdessen geworden, dass man das eigene Verhalten nicht mehr in Frage stellt und sich darin einnistet. Es scheint wie ein Paradox: der sehnsüchtige Wunsch nach Gemeinschaft und das nicht diskutierbare eigene Verhalten. Doch solange Gemeinschaft nur als ein Moment des Tuns begriffen wird und nicht als das des Veränderns, passt es. Dabei wäre genau das die Basis dafür, Teil eines weltweiten Aufbruchs zu werden.


Über die Commons hinaus....

Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer. Die linken politischen Strukturen wirken wie ein Expander, der das Auseinanderklaffen hinauszögert, sich dabei aber völlig verformen muss. Dabei entpolitisiert sich das Gemeinschaftsterrain. Bereits vor 7‍ ‍Jahren hatten wir beobachtet, wie schwierig der Spagat zwischen unpolitischen Gemeinsamen und individuellen politischen Engagement zu überwinden ist: "... Wenn Leute sich politisch engagieren, ist das ihr politisches Hobby für das sie wesentlich bessere Bedingungen haben als Leute in kleinen Wohnungen oder Zweierbeziehungen: das Projekt, das Haus hält Ihnen den Rücken frei. Manchmal wird aber genau das zum Problem: das 'Pendeln' zwischen dem unpolitischen Gemeinschaftsterrain und dem eigenen politischen Engagement wird zur zusätzlichen Last"(3)

Das hat sich weiter verschärft. Es wird auch eine Frage des Geldbeutels, politisch aktiv zu sein. Die Leute sind gezwungen, mehr zu arbeiten, ob innerhalb der Projekte, damit die Struktur sich trägt (die Kneipen oder Läden verlängern die Öffnungszeiten; der Betrieb macht Überstunden...) oder außerhalb der Projekte. Die Leute machen keine Nebenjobs mehr, um viel Zeit für ihr Projekt zu haben, sondern arbeiten Vollzeit und knapsen sich ein paar Stunden für das Projekt ab.

Die Strukturen waren immer auf bezahlte Nicht-Arbeit angewiesen, heute sind sie viel stärker auf Quersubventionierung aus Lohnarbeit angewiesen. Ohne Spende durch Leute, die gut verdienen, geht kaum noch etwas.

Gleichzeitig zahlt sich das "Umformen" aus. Gerade Wohnprojekte sind weiterhin attraktiv, weil sie den Lebensstandard im Vergleich zum vereinzelten Arbeiter besser halten können. Unter ArbeiterInnen gibt es ähnliche Strukturen, nur dass es hier die erweiterten Familienstrukturen sind, in denen sie sich einbunkern und bewegen.

Die Heterogenität funktioniert deshalb so gut, weil alle vom Wissen und Können der Einzelnen profitieren. Kosten, die durch handwerkliches Können gespart werden, genauso wie die Fähigkeit, Fördermittel zu besorgen.

Einige Strukturen überleben nur, weil sie ihre Prinzipien über Bord werfen und immer "schlimmer" werden. Sie funktionieren mehr und mehr als Unternehmen und erhöhen den Druck auf die eigenen Leute, produktiv zu sein. Daneben gibt es andere, die dieser Entwicklung vorbeugen wollen, aber sich schwer, damit tun, dass gemeinsam zu regeln. "Anna und Arthur haltens Maul" ist vielleicht noch ein allgemeines "linkes Prinzip", aber das "Chefposten abzuschaffen sind", "du keine Leute für dich arbeiten lässt" wirkt wie von einem anderen Stern. Ähnliches gilt für den Umgang mit Geld und Lohn. Solange man über das Gemeinsame (Anzahl der Beteiligten an einem Projekt - gleicher Lohn, gleiche Bedingungen) redet, fällt es den Leuten leicht. Geht es um Leute darüber hinaus (wen lassen wir für uns zu welchem Lohn arbeiten?) oder um die Leute als Einzelpersonen (wie viel Geld brauchst du für welche Bedürfnisse), gibt es keine gemeinsamen Grundlagen mehr. Diese Debatte brauchen wir, das geht nur kollektiv - also gemeinsam!

Wie es nach innen "funktioniert", funktioniert es auch nach außen. Die reformistische Linke redet von "Commons" und nicht von "Kommunismus"/Revolution und auf den Kongressen der Böll- und Luxemburg-Stiftung dienen die Projekte/Strukturen unserer Kumpels als Beispiel für das nächste Regierungsprogramm. Fragen wir diese Kumpels, hat keiner etwas mit dieser Debatte zu tun - das ist gut so. Gleichzeitig ist dies aber kein Ausdruck von Stärke, sondern ein Mix aus Blauäugigkeit und Opportunismus. Sie benutzen die gleiche Terminologie wie die RLS und Böllstiftung und wollen Teil einer internationalen Debatte sein. Durch die soziale, "wissenschaftliche" und finanzielle Verwobenheit werden sie aber Teil von deren Kampagnen und Debatten.

Das scheint den meisten aber egal zu sein und ist zuweilen auch kaum diskutierbar. Es gibt keine Versuche mehr, sich gemeinsam politisch zu positionieren. Das liegt daran, dass sich auf radikale Ansätze kaum geeinigt werden kann, man aber trotzdem zusammenhalten muss, weil man auf alle Leute angewiesen ist. Politisch tätig sein bleibt eine individuelle Beschäftigung. Das erspart Grundsatzdiskussionen und erlaubt angesichts zunehmender Arbeit, wenigstens noch ein wenig aktiv zu sein.


Los geht's!

Alleine aktiv zu sein bedeutet nicht selten, sich in der Rolle des politischen Staatsbürgers wiederzufinden. In dieser Rolle lässt sich auf alle möglichen Themen Bezug nehmen und es lassen sich Forderungen an den Staat stellen. Sich alleine so zu organisieren, dass man auch Momente von Macht entwickeln kann, ist nicht möglich (mal abgesehen von terroristischen Methoden). Um Macht zu entwickeln, braucht es Gruppen, die zusammen entscheiden und zusammen aktiv werden. Vor keiner Fabrik mit zehn Toren und drei Schichten kann man alleine ein Flugblatt verteilen, keine Stadt flächendeckend zuplakatieren, kein Haus kann man allein besetzen, kein ausstehender Lohn wird eingetrieben. Mit zehn Leuten schon!

Gruppen können nicht nur "was reißen", sie können aufgrund einer gemeinsamen Debatte überhaupt erst Positionen auf die Tagesordnung setzen, die über die "staatsbürgerlichen" Themen hinausgehen.

Dass ein Haufen Leute mehr ausrichten kann, wissen alle in den Projekten. Doch die gängige Vorstellung, "im Schoße der alten Gesellschaft" die eigenen Strukturen aufbauen, um irgendwann den Kapitalismus zu ersetzen, lähmt die Leute. Die letzten Jahre haben bewiesen, dass der Kapitalismus es immer schafft, die einen zu bereichern und die anderen zur Arbeit anzutreiben. Die eigenen Strukturen können angesichts des weltweiten Aufbegehrens genutzt werden, um politisch zu intervenieren. Die Fähigkeiten sind da! Wer jahrelang ein Unternehmen gegen die Konkurrenz verteidigt hat, sich trotz aller individueller Macken nicht vom Kommunegedanken verabschiedet hat oder fähig ist, sich über soziale Schichten hinweg mit 250 Leuten zu organisieren, kann die eigenen Fähigkeiten auch zum Kämpfen nutzen!


Literaturhinweise

(1)‍ ‍Siehe z.B. Wildcat 90, S. 52, Eine weltweite Streikwelle; auch auf www.wildcat-www.de

(2)‍ ‍Zu dieser Debatte um "Commons" oder "the Common" s. unseren Beitrag in Wildcat 88.

(3)‍ ‍Wildcat 73, S. 34

Raute

Geile alternative Halbinseln
Drei Buchbesprechungen
"Kleine geile Firmen"

Arndt Neumann, Kleine geile Firmen. Alternativprojekte zwischen Revolte und Management,
Edition Nautilus, Hamburg 2008.

In Arndt Neumanns Buch Kleine geile Firmen ist "Autonomie" das Schlüsselwort: Autonomie in und der Arbeit, individuelle Autonomie, Autonomie als Ausgangspunkt von Revolten, Autonomie als Mittel der Ausbeutung, Autonomie in den Alternativprojekten.

Im Vorwort wird die Fragestellung entwickelt: Wie konnte aus einem "Bedürfnis nach Autonomie", das in den Revolten der 1960/1970er mit der "Fremdheit" dem Unternehmen gegenüber, der "Verweigerung der Lohnarbeit" verbunden war, ein "unverzichtbarer Bestandteil des Neoliberalismus" werden?

Neumann distanziert sich von Antworten, die in den Revolten dieser Zeit nur den Wegbereiter der heutigen Zustände sehen wollen und dem "Individualismus der Gegenkultur von Anbeginn eine hohe Kompatibilität mit dem Kapitalismus" zuweisen. Denn dann würde unterschlagen, dass sich "Autonomie" und "Selbstbestimmung" heute auf die "Verinnerlichung von Marktmechanismen" verengt haben. Stattdessen wirft er die Frage auf, ob es überhaupt eine Verbindung zwischen dem "Individualismus der Gegenkultur" und der "neoliberalen Eigeninitiative" gibt. Dieser Frage und der Bestimmung der gesellschaftlich-historischen Bedingungen dieses Umschlags will der Text nachspüren.

Die Antworten werden im Nachwort gegeben und die Argumente zusammengefasst: Ihre Dynamik gewann die Alternativbewegung aus einer "Vermassung der Bohème", die letztlich Ausdruck einer Veränderung der gesellschaftlichen Produktion war, des "Aufstiegs der immateriellen Arbeit" bzw. zweier eigentlich "gegenläufiger Entwicklungen": Einerseits breiteten sich Tätigkeiten aus, die vorher nur von einer geringen Zahl von KünstlerInnen und Intellektuellen ausgeübt wurden gleichzeitig geriet diese entstehende "Massenintellektualität" unter den Druck der in der Fabrik entstandenen autoritären Arbeitsorganisation.

Ausgehend von den Erfahrungen in den USA der 1960er Jahre wird die widersprüchliche "gegenkulturelle Verweigerung", die Entwicklung der Alternativprojekte beschrieben. Eine "alternative Arbeitsorganisation", d. h. Aufhebung der Arbeitsteilung, Selbstverwirklichung in der Arbeit und kollektive Entscheidungsfindungen seien die Grundzüge gewesen. Die Projekte seien jedoch schnell - in Deutschland schon Anfang/Mitte der 1970er Jahre - mit den "selbstzerstörerischen Tendenzen der gegenkulturellen Subjektivität" konfrontiert gewesen. Damit meint Neumann im wesentlichen die Notwendigkeit der Arbeit für den Fortbestand der Projekte, die Unvereinbarkeit zwischen individuellen Bedürfnissen und Entscheidungen des Kollektivs. Individuelle Autonomie war so lange möglich, wie es den Projekten finanziell gut ging - wozu auch eine breite Bewegung als Absatzmarkt gehörte. Insofern verstärkten sich die politische Krise der Alternativbewegung und die finanzielle Krise gegenseitig.

Die Projekte mussten am Markt bestehen, und aus der Verbindung des Bedürfnisses nach Autonomie und des unternehmerischen Denkens entstand eine neue Form der Arbeitsorganisation, die an "gegenkulturellen Selbstverhältnissen" anknüpfte und "entscheidende Momente der liberalen Arbeitsorganisation vorwegnahm". Die Autonomen der 1980er Jahre entstanden in Abgrenzung zur Krise der Alternativbewegung, sie wollten deren "Politik in erster Person" wieder Geltung verschaffen: Gegen die "Geschäftsführer der Alternativbewegung" sollte es wieder um die Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums gehen.

Auf den letzten eineinhalb Seiten zieht Neumann Bilanz: Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde "Autonomie" vom Ausgangspunkt der Revolte zum Mittel der Ausbeutung. Aber das Bedürfnis nach Autonomie bestehe weiterhin, "Autonomie und unternehmerisches Denken seien nicht identisch". Insofern blieben die von der Alternativbewegung aufgeworfenen Fragen wichtig, auch wenn diese historisch gescheitert sei: "Nicht die Schikane von Vorgesetzten und Vorarbeitern, sondern die durch ökonomische Zwänge bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Autonomie ist das zentrale Problem." Mit einem Zitat von Thomas Seibert fordert Neumann abschließend die "Autonomie der Arbeit", die "freigesetzte Subjektivität der selbständigen Arbeit von dem Zwang zu befreien, verwertbar sein zu müssen, nachgefragt werden zu müssen (...)".

Als wichtigen Schritt in diese Richtung sieht Neumann das bedingungslose Grundeinkommen, eine Forderung aus den "frühen Debatten der Alternativbewegung, die, einst vergessen, heute erneut Zuspruch und Aufmerksamkeit gewinnt". (S. 79).

Schade, in den Schlussfolgerungen kommen die Probleme des Büchleins auf den Punkt: In den - interessanten! - Kapiteln zwischen Vor- und Nachwort wird die "Geschichte der Alternativbewegung" mit nur scheinbar klaren begrifflichen Werkzeugen angepackt: "Fordismus" habe soziale Absicherung gegen stumpfe Arbeit bedeutet; "immaterielle" und "affektive" Arbeiten würden im Zusammenhang mit selbstständiger Arbeit schon zur "freigesetzten Subjektivität", die nur noch vom Markt befreit werden müsse (s. o.).

Letztlich wird mit den Begriffen "immaterielle Arbeit" / "Massenintellektualität" nur so getan, als wenn mit ihnen veränderte gesellschaftliche Produktionsverhältnisse untersucht werden sollten. Stattdessen scheint es unausgesprochen und ohne nähere Bestimmung der konkreten Arbeiten um KünstlerInnen, Prekäre und Selbstständige zu gehen. Der Begriff der "Autonomie" kommt ein paar mal zu oft vor, und letztlich fehlt eine wichtige Bestimmung - auf die mit dem Begriff des "politischen Lohnes" ganz am Schluss nur verdreht verwiesen wird: In den Kämpfen der 1960er Jahre hatten die (Massen-)ArbeiterInnen stellenweise (z.B. in Italien) ihre "Autonomie" gegen die Verwertungsbedingungen des Kapitals durchgesetzt - Arbeiterautonomie! Trotzdem stellte sich die Frage, ob die Kämpfe "nur" das Kapital in die Krise treiben können, oder ob sie Wege in eine "postkapitalistische Vergesellschaftung" weisen. Die Forderung nach einem "Politischen Lohn" war auch damals ein politischer Kurzschluss: Politisch sollten mit der Forderung die verschiedenen Kämpfe zusammengefasst, homogenisiert werden. Inhaltlich/theoretisch ging es um Arbeitsprozesse, die schon als "jenseits des Kapitals", des Wertgesetzes theoretisiert wurden, eine schon "freigesetzte Subjektivität". Die Debatten um "immaterielle" und "affektive" Arbeiten verlängern dies nur ins Heute. Das sind keine historischen Spitzfindigkeiten. Die Frage, wie Kämpfe zusammenkommen können, stellt sich nach wie vor. Da ist es schon von Bedeutung, mit welchen begrifflichen Werkzeugen wir arbeiten.

Das Buch solltet ihr trotz dieser Kritik schon wegen der Literatursammlung lesen. Arndt Neumann hat sich quer durch die Literatur seit den 1960er Jahren gearbeitet und bereitet das auf knapp 90‍ ‍Seiten auf. Eine Fundgrube für alle, die die Debatten um die "Alternativbewegung" nachvollziehen wollen. Auch wenn von "Commons" an keiner Stelle die Rede ist - die angesprochenen Fragen gehören dringend zu dieser Debatte!(1)


Anmerkung

(1)‍ ‍Ein wichtiger Bezugspunkt ist das Merve Heft 44, Leineweber/Schibel, Die Revolution ist vorbei - Wir haben gesiegt! Antiquarisch noch zu haben, spannend, wie hier z. B. die damaligen GartenCoops, Tausch- und Umsonstläden, aber z. B. auch selbstverwaltete Kliniken beschrieben werden, bzw. diese Erfahrungen und Debatten in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang diskutiert werden.

*

"Theorien Alternativen Wirtschaftens"

Gisela Notz: Theorien Alternativen Wirtschaftens,
Reihe Theorie.Org im Schmetterling Verlag, erschienen 2011.

Eine ganz andere Geschichte der Alternativbewegung erzählt Gisela Notz. Auf knapp 175 Seiten bringt sie eine Darstellung der "Theorien alternativen Wirtschaftense, unterteilt in drei Phasen: zunächst "historische" Ansätze, dann Theorien der 1960er/1970er Jahre und schließlich aktuelle Konzepte. Die Kommunen erhalten ein eigenes Kapitel, auf den letzten 15 Seiten finden sich die "kritischen Betrachtungen zur Alternativen Ökonomie" und die Schlussfolgerungen.

Vor der Betrachtung dieser drei Phasen will Notz Grundlagen klären. Sie umreißt eine "Kritik der bestehenden Ökonomie" und versucht sich an einer "Begriffserklärung" von "alternativer Ökonomie". Die Kritik an der bestehenden Ökonomie will vor allem einen zu engen Arbeitsbegriff überwinden. Doch dass "außerhalb der Lohnarbeite nicht gearbeitet wird (S. 13), haben selbst beinharte Marxisten nicht vertreten. Belegen will sie ihre Auffassung mit dem Marxzitat vom "Reich der Freiheit, das "jenseits der Sphäre der eigentlich materiellen Produktion anfängt". Aber hier weist Marx doch erstmal nur darauf hin, dass zunächst die materielle Reproduktion gesichert sein muss, bevor der Mensch über "Freiheit" nachdenken kann!

Statt eine Analyse des kapitalistischen Verwertungsprozesses zu machen, die nach den Kräften sucht, die auch die Macht haben, eine "alternative Ökonomie" durchzusetzen, entwirft Notz im folgenden einen Arbeitsbegriff, der alle menschlichen, biologischen, ökologischen... Probleme mitdenken will. Anschließend führt sie mit einer "Begriffserklärung" die verschiedenen Formen und Begriffe des "alternativen Wirtschaftens" knapp ein: Alternativbetriebe, Genossenschaften, Kommunen, Selbstverwaltung, Solidarische Ökonomie...

Gut liest sich dann ihre Darstellung der (früh-)sozialistischen und anarchistischen Theorien "Alternativen Wirtschaftens". Nach diesen 40 Seiten hat man eine Vorstellung von den Streitigkeiten zwischen Anarchisten, Sozialisten, und Reformisten.

Die Erfahrungen der 1970er Jahre teilt Notz ein in die Geschichte der alternativen, selbstverwalteten Betriebe und die Herausbildung einer "selbstverwalteten Wirtschaft" aus Betrieben, Kommunen, sozialen Projekten, Medienprojekten, politischen Initiativen usw., die je nach Schätzung in den 1970er/1980er Jahren 25.000-100.000 Personen beschäftigten (S. 93). Ihren Durchgang durch diese Periode hatte sie mit dem Vorwurf von "MarxistInnen u. a. Linken" (S. 72) an die AktivistInnen der alternativen Wirtschaft begonnen, sie seien "Wirrköpfe, Utopisten" bzw. die alternative Wirtschaft überhaupt "eine politische Flucht". Notz bemüht Adorno, um darauf hinzuweisen, dass es darum gehe, an die "gesellschaftlichen Wurzeln zu rühren". Sie kritisiert die Vorstellung von "Halbinseln", weil diese nach "vielen Seiten offen sind, auch dem kapitalistischen System gegenüber" (S. 78). Notz kritisiert, dass viele Projekte und Gemeinschaften der alternativen Ökonomie "gesamtgesellschaftliche Veränderungen" - wenn überhaupt - nur noch als ein größer werdendes Netz der alternativen Projekte denken können, das schrittweise die gesellschaftliche Ordnung durch die "alternative Ordnung ersetzen wird" (S. 72). Deswegen ginge es darum, die "alten Forderungen der sozialistischen Arbeiterbewegung nach Aufhebung der sozialen Ungleichheit, gesellschaftlicher Exklusion und Ungleichheit zwischen den Geschlechtern wieder aufzunehmen", kurz, die Machtfrage zu stellen (S. 73). Voraussetzung sei allerdings, dass sich dafür "AnhängerInnen" finden. Vor dem Hintergrund der aktuellen Krise stiegen die Chancen für solch ein Projekt: "Aus den gelebten Utopien (...) könnte eine soziale und politische Bewegung entstehen, die die vorhandene Wirtschaftsordnung grundsätzlich in Frage stellt. Das wird aber nur dann möglich sein, wenn sie sich früher oder später der Auseinandersetzung mit Kapital und Macht stellt".

Damit hätte Notz eigentlich eine Grundlage für eine Diskussion über die Erfahrungen der 1970er Jahre und heutige Konzepte. Ihr Resümee dieser Phase spricht von "individualistisch-selbstgefälligen Selbstmarginalisierungen" und "Entpolitisierung". Um so überraschender ist, dass sie bereits damals formulierte Kritiken als "aufgesetzt" und "verallgemeinernd" abkanzelt: so die Kritik von Karl Heinz Roth an den "Geschäftsführern der Alternativbewegung", die die Alternativszene schrittweise wieder an den Hauptzyklus der kapitalistischen Ausbeutung anbinden würden (S. 94). Oder die Kritik aus der Wildcat 40/1986, die Alternativbewegung sei immer integrierbar, solange sie sich nicht mit dem Kampf gegen die Verhältnisse verbinde. Hier bleibt offen, worin die Autorin den Unterschied zu ihrem eigenen Anspruch sieht, wenn sie kritisiert, dass "gegenkulturelle Lebensformen" plötzlich nur noch aufzeigen wollen, "dass es möglich ist, sich der kapitalistischen Leistungsgesellschaft im Hier und Jetzt (zumindest teilweise) zu verweigern" (S. 95).

Die Darstellung "aktueller Konzepte" unterteilt Gisela Notz in die Abschnitte zur "Solidarischen Ökonomie", "Gemeinwesensökonomie" und "Commons". Über konkrete Projekte der "solidarischen Ökonomie" erfahren wir wenig. Bei der "Gemeinwesensökonomie" scheint es im Wesentlichen um lokale Initiativen vom Tausch-/Umsonstladen bis hin zu den Gemeinschaftsgärten zu gehen. Auf knapp drei Seiten widmet sich die Autorin den Commons, wobei sie die Thesen der Heinrich-Böll-Stiftung und der Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elenore Ostrom referiert. Das inhaltliches Scharnier sind für Notz die Gemeingüter, Allmende, die als positiver Bezugspunkt gesetzt sind.

Ein eigenes Kapitel bekommen die Kommunen - warum, wird nicht ganz klar. Vielleicht, weil diese "Experimente" seit dem Mittelalter Kontinuität bewiesen haben (so zitiert Gisela Notz Karl Kautsky). Ein anderer Hinweis findet sich in den abschließenden kritischen Betrachtungen zur "alternativen Ökonomie". Auf diesen letzten Seiten stolpert man immer wieder über Formulierungen, die eine Kritik an der "alternativen Wirtschaft" als "müßig" (S. 156), "nicht weiter helfend" (S. 165) oder als "grauen Bart" (S. 167) abtun. Das steht im Widerspruch zu der von der Autorin selber immer wieder formulierten Kritik und ihren politischen Ansprüchen. Mit diesen Widersprüchen lässt sie uns allein, was vielleicht daran liegt, dass sie am Ende die Fragestellung gewechselt hat: Ging es eingangs noch um die "Machtfrage", darum, sich der "Auseinandersetzung mit Kapital und Macht zu stellen" (S. 73/74), so geht es gegen Ende um "die Klärung der Bedingungen, unter denen soziales Leben überhaupt möglich wird" (S. 165).


Randnotizen

Karl Heinz Roth, Die Geschäftsführer der Alternativbewegung. in: Roth, Karl Heinz/Teufel, Fritz: Klaut sie! 1979, Eva-Verlag. Auch in: Die Mühen der Berge, Rolf Schwendter (Hrsg.), Grundlegungen zur alternativen Ökonomie, Teil1.

Zu den Allmenden siehe
www.wildcat-www.de/wildcat/88/w88_commons_allmende.html

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"Halbinsel gegen den Strom"

Friederike Habermann: Halbinseln gegen den Strom, Anders leben und wirtschaften im Alltag.
Ulrike Helmer Verlag, 2009.

Dieses Buch haben wir bereits in den "Theorien Alternativen Wirtschaftens" von Gisela kurz kennengelernt - die Kritik an den "zusammenwachsenden Halbinseln" galt dem Buch von Friederike Habermann. Der Band bringt Berichte und Interviews mit über 50 Projekten. Vorangestellt ist eine Einführung, die die "Halbinseln" des Buches in einen (theoretischen) Zusammenhang bringen will.

Im Hauptteil des Buches lernen wir auf 200 Seiten unterschiedlichste Projekte kennen, geordnet nach: Nahrungsmittel, Kleidung und andere Gebrauchsgegenständen, Dienstleistungen, Wohnen und Leben, Finanzen, Bildung, Gesundheit, Kommunikation, Mobilität und Fun. Spannend wird es immer dann, wenn man die vorgestellten, oder ähnliche, Initiativen selbst kennt. Dann fällt einem auf; dass es kaum Kriterien gibt - auch wenn die Einleitung genau damit beginnt: "Die Auswahl ist davon geleitet, das zu bevorzugen, was vom kapitalistischen Denken am weitesten entfernt ist: eher ohne Geld statt mit; eher ohne Tauschlogik statt ihr gemäß. Darüber hinaus interessieren nur Ansätze, die sich hinsichtlich Rassismus, Sexismus und anderen Unterdrückungsverhältnissen als emanzipatorisch definieren lassen beziehungsweise daran arbeiten (...)".

Solche Bestimmungen helfen nicht wirklich, die Widersprüchlichkeit der Projekte in den Blick zu bekommen bzw. Beliebigkeit zu vermeiden, wie es die Einführung doch fordert (S. 18). So wird zum Beispiel auf den Seiten 193ff die "alternative Krankenversicherung" Artabana vorgestellt, die im Wesentlichen als Ersatzkasse für junge Selbstständige aus alternativ/anthroposophischen Kreisen funktioniert und stark mit der Eigenverantwortung von Krankheit argumentiert. Auf Seite 151 ist es schwer nachvollziehbar, wie die Genossenschaft/Baustoffhandel Biber oben auf der Seite als selbstverwalteter Betrieb vorgestellt wird, der sich immer noch erfolgreich wehre, ein "normales Unternehmen" zu werden, und eine halbe Seite später erzählt wird, wie ein Controlling zur Leistungskontrolle der Einzelnen durchgeführt wurde.

Überhaupt erinnert die "Einführung" an eine Debatte, wie sie ganz ähnlich schon einmal Anfang der 1990er Jahre geführt worden ist.(1) Habermann verweist einleitend auf ihre Dissertation zur "Subjektfundierten Hegemonietheorie". Kapitalismus, Sexismus und Rassismus müssten in einem nichthierarchischen Zusammenhang gedacht werden. Für einen "gesellschaftlichen Wandel gibt es keine Hierarchisierung kollektiver Subjekte wie beispielweise der Arbeiterklasse" (S.9). Mit den Thesen über Feuerbach von Marx verweist sie auf die Wirklichkeit als "sinnlich, menschliche Tätigkeit, Praxis. Ihr Hauptreferenzpunkt aber sind die Thesen von J.K. Gibson-Graham. Ihnen geht es um eine "kollektive Ent- oder Desidentifizierung" der Subjekte (S. 15ff).

In Büchern wie A Postcapitalist Politics oder The End of Capitalism as we know it haben sich Gibson/Graham(2) die Aufgabe gestellt, die Allmacht des Kapitalismus theoretisch aufzulösen, um Veränderung wieder denkbar zu machen. Um nach der Niederlage des Realsozialismus aus den Grenzen ihres orthodoxen Marxismus rauskommen zu können, kritisieren sie einen Marxismus, der den Kapitalismus als "System" denkt und Klasse als "homogenen Block" mit bestimmten historischen Aufgaben. Dabei begeben sie sich auf die Suche nach einem "outside", nach "nicht-marktförmigen" Verhältnissen, um die Totalität des Kapitalismus auflösen zu können.

Sie ignorieren dabei, dass wir natürlich Teil des Kapitalverhältnisses sind! Deswegen werden Bedürfnisse immer wieder zum Motor der Entwicklung, aber ebenso liegt so der Widerspruch im Kapitalverhältnis selbst begründet: "Die Arbeiterklasse ist als Produzentin des Werts Teil des Kapitals; sie reproduziert die herrschenden Verhältnisse. Als ausgebeutete Klasse ist sie gleichzeitig größter Feind im Innern des Kapitalverhältnisses selbst. Entlang dieses Widerspruchs entwickelt sich der Klassenkampf - und ist dabei immer vor allem Kampf der Klasse mit sich selbst".(3)

Mit dem Begriffspaar technische/politische Klassenzusammensetzung hatte der Operaismus Instrumente erarbeitet, um aus solchen Thesen keine über-historischen Wahrheiten werden zu lassen, sondern Werkzeuge für die Untersuchung der realen Kämpfe und Widersprüche, also der wirklichen "Ent- und Desidentifizierung", wie es Gibson/Graham bzw. Friederike Habermann unnötig kompliziert fassen wollen.(4)

Hilfreicher beim Lesen der Berichte und Interviews als diese theoretische Einführung sind eigene Erfahrungen und Einblicke, die das Buch zu einem Kompass werden lassen, um Fragen zu notieren und selber loszuziehen.


Anmerkungen

(1)‍ ‍Die Älteren von uns werden sich vielleicht an die "3:1-Debatte" der beginnenden 1990er Jahre erinnern. Damals kursierte in der Linken ein Text, der die Unterdrückungsverhältnisse" Rasse, Klasse und Geschlecht in ein gleichberechtigtes Verhältnis rücken wollte. Wir hatten den Text im Kern mit dem Argument kritisiert, dass mit solch einer Herangehensweise die realen widersprüchlichen Kämpfe in einer Klassengesellschaft gerade nicht untersucht werden können und diese Theorie zudem vor allem auf den eigenen engen Klassenbegriff verweisen würde. Siehe den Artikel in der Wildcat 57,
www.wildcat-www.de/wildcat/57/w57_3zu1.htm

(2)‍ ‍Leider nur in englischer Sprache:
J.K. Gibson-Graham, A Postcapitalist Politics, Minneapolis/London, 2006 The End of Capitalism as we Know It, Minnesota Press edition, 1996 "Waiting for the Revolution, or How to Smash Capitalism While Working at Home in Your Spare Time", in: Marxism in the Postmodern Age, Guilford Press 1995, S. 188-198

(3)‍ ‍Drei zu eins für wen? Siehe Wildcat 57,
www.wildcat-www.de/wildcat/57/w57_3zu1.htm

(4)‍ ‍Zur politisch/technischen Klassenzusammensetzung siehe z. B. www.wildcat-www.de/zirkular/36/z36batta.htm; sowie andere Artikel im Dossier Operaismus.

Raute

Frühling in der Steppe - Aufstand in der Ölarbeiterstadt Schangaösen/Kasachstah

Im November 2011 traf ich eine Gruppe schottischer Ölarbeiter, die gerade in Kasachstan eingesetzt waren. Ich fragte sie nach der aktuellen Situation. Ihre Antwort: "Die Streikführer sind im Knast. Alle anderen sind zurück zur Arbeit gegangen. Aber es ist dort ein verdammtes Pulverfass!".
Email-Korrespondenz, England 2011

Einleitung

Am 16. Dezember 2011, dem 20. Jahrestag der Unabhängigkeit Kasachstans, verübte das kasachische Regime ein Massaker an ÖlarbeiterInnen auf dem zentralen Platz der Stadt Schangaösen, wo mehr als 3000 Ölarbeiter, ihre Familien und Unterstützer demonstrierten. Nach Angaben von Beteiligten der Protestbewegung gab es mindestens 70 Tote und mehr als 500 Verletzte. Die Regierung sprach von 17 Todesopfern. Unter den Opfern befanden sich u. a. Arbeiter des Öl- und Gas-Unternehmens UzenMunaiGaz, einer Tochterfirma des Staatskonzerns KazMunaiGaz. Der Sitz der örtlichen Ölfirma und das Rathaus wurden in Brand gesetzt.

Die ArbeiterInnen der Öl- und Gas-Industrie führten seit Mai 2011 im Gebiet Mangghystau (West-Kasachstan) einen erbitterten Kampf und hielten starken Repressionen stand. Sie hielten den zentralen Platz von Schangaösen mehrere Monate besetzt; schätzungsweise 1800 ArbeiterInnen wurden entlassen (zur Chronologie der Ereignisse siehe Kasten unten). Das Regime wollte am 16. Mai den Jahrestag der Unabhängigkeit Kasachstans feiern, wo Staatspräsident Nasarbajew seit 20 Jahren uneingeschränkt regiert. Der bestreikte Erdölkonzern KazMunaiGaz wurde von seinem Schwiegersohn Kulibajew geführt. So gelangte der seit Mai andauernde Kampf der Ölarbeiter an einen gewaltsamen Wendepunkt.

Die Zentralregierung erließ eine Ausgangssperre, verbot Transporte, Demonstrationen, Streiks und öffentliche Versammlungen. Sie schickte 10.000 Polizisten nach Schangaösen, die willkürlich verhafteten und folterten. Die Krankenhäuser waren mit den Opfern des Schusswaffeneinsatzes überfüllt. Internet sowie Mobilfunk wurden blockiert, um die Verbreitung von Informationen zu verhindern. Ölarbeiter anderer Konzerne begannen spontan einen Solidaritätsstreik und legten das öffentliche Leben lahm.

Am 17. Dezember besetzten die Arbeiter im 100 Kilometer von Schangaösen entfernten Schepte die Hauptbahnlinie. Bei der Auseinandersetzung wurde ein Arbeiter getötet, 13 wurden verletzt.

In Aktau, der Hauptstadt des Gebiets Manggbystau, konnten trotz Militärpräsenz über 1000 ArbeiterInnen im Stadtzentrum demonstrieren und den Rücktritt von Nasarbajew fordern. Am 20. Dezember fanden in Schangaösen sechs Bestattungen von ArbeiterInnen statt; weitere 60 Familien vermissten noch ihre Angehörigen. Obwohl die Ölproduktion in Aktau wieder aufgenommen wurde, versuchten die ArbeiterInnen weiterhin zu demonstrieren, um ihren Protest gegen die staatliche Gewalt in Schangaösen und Schepte öffentlich zu machen.

Zehn Tage nach dem Massaker entließ Nasarbajew seinen Schwiegersohn Kulibajew und bot den entlassenen ArbeiterInnen die Wiedereinstellung an. Er sah die Ereignisse als schädlich für sein Image im Ausland an: "Wir sollten nie vergessen, dass Stabilität die Hauptbedingung für den Erfolg Kasachastans ist." Ihm wird auch die steigende Unzufriedenheit im benachbarten Russland bewusst gewesen sein.

Während der Wahlen am 15. Januar war Schangaösen nach wie vor von der Außenwelt abgeriegelt. Selbst Wahlbeobachter der OSZE wurden nicht in die Stadt gelassen.

Vorgeschichte

Seit dem Untergang der Sowjetunion wurde immenses Kapital in den Ölsektor Kasachstans investiert. Fast alle Ölkonzerne sind dabei - Eni, Shell, Total, Exxon-Mobil, Conoco Philips und die japanische Inpex bis hin zu chinesischen Unternehmen. Das Land zählt mit einer Förderung von 1,6 Millionen Barrel am Tag mittlerweile zu den 20 wichtigsten Erdölproduzenten. Im Gebiet Mangghystau im Westen von Kasachstan, zu dem auch die energiereiche kaspische Küste gehört, wird 70 Prozent des Öls des Landes gefördert. Sie hat auch den höchsten Anteil an Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben (2008‍ ‍etwa 32,4 Prozent). Die starke Repression, verbunden mit einer Tradition von Arbeitermilitanz, die in den letzten Jahren gewachsen ist, führte zu einer Zuspitzung der Situation.

Schon Mitte der 90er Jahre, kurz nach Beginn der Ölförderung durch TengizChevroil (TCO) in Kasachstan, gab es Auseinandersetzungen wegen Forderungen der TCO-Arbeiter nach besseren Arbeitsbedingungen und einer eigenen Vertretung. 14.000 Menschen arbeiten in Tengiz für die fast 100 von der TCO geführten Unternehmen. Im April 2005 gab es einen großen Streik, an dem sich 3000 ArbeiterInnen beteiligten, der auch über die Geschlechtergrenzen hinausging: Hunderte von Arbeiterinnen z. B. aus Kantinen schlossen sich dem Protest an. 2007 folgte ein Riot, der sich primär gegen die großen wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede in der Bezahlung von einheimischen und ausländischen Arbeitern richtete. Die sie beschäftigenden Leihfirmen sparten bei den kasachischen Arbeitskräften bezahlten Urlaub, Unfallversicherung und die Bezahlung von Verpflegung und Unterkunft ein. De facto arbeitete im Jahr 2005 ein kasachischer Ölarbeiter 28 Tage im Monat für einen Lohn von weniger als einem Dollar pro Stunde. Ähnliche Bedingungen gab es auch an anderen industriellen Ölstandorten in Kasachstan. Mit der Wirtschaftskrise 2008 fiel die Wachstumsrate des Landes, die ein Jahrzehnt lang um die zehn Prozent war, auf drei Prozent. Viele, die in den letzten Jahren in der Hoffnung auf einen relativ gut bezahlten Job in die Ölregionen gezogen waren und auf dem Bau gearbeitet haben, verloren durch die Krise ihren Job; die Löhne derjenigen, die noch Arbeit hatten, wurden durch die Inflation entwertet. 2011 erzählten am Streik Beteiligte: "Ich bin Arbeiter auf einer Bohrinsel und bekomme monatlich umgerechnet 410 US Dollar", "Ich bin Ingenieur und arbeite seit sieben Jahren an den Bohrtürmen für monatlich umgerechnet 1200 Dollar." Eine Regierungsverordnung versprach 2008 eine Erhöhung der Löhne in der Ölbranche, die nicht eingehalten wurde. Dies war einer der Auslöser der Streiks von 2011.

Ausblick

Dass die Diktaturen in dieser Region nach dem "arabischen Frühling" in Panik gerieten, ist kein Geheimnis mehr Sie erkannten in ihren eigenen Ländern ähnliche Tendenzen und reagierten von Anfang an auf brutale Weise. Das europäische Kapital ist besonders abhängig von Öl, Gas und anderen Rohstoffen wie Seltenen Erden. 2010 hat Kasachstan Libyen als Deutschlands viertgrößter Öllieferant verdrängt. Bereits in zehnjahren könnte das Land die zweitwichtigste Ölquelle der BRD nach Russland werden. Deutschland schloss im Februar dieses Jahres mit Nasarbajew eine Rohstoffpartnerschaft, die der deutschen Wirtschaft vor allem Zugang zu den sogenannten Seltenen Erden verschaffen soll. Stabilität in der Region ist das höchste Gebot. Auch Deutschland würde bei Ausschreitungen "für Sicherheit sorgen", verteidigte Nasarbajew bei seinem Deutschlandbesuch am 8. Februar 2012 das Vorgehen seiner Sicherheitskräfte. Auch vor dem Krieg in Afghanistan hatte man ein Abkommen mit Kasachstan geschlossen; denn über Kasachstan laufen die Nachschubwege für die ISAF-Truppen. Deshalb muss hier Vieles vor der (Welt-)Öffentlichkeit verborgen bleiben.

Verfolgt man die Chronologie des Aufruhrs, sieht man, wie gewaltig die Ansteckungsgefahr in der Region war und ist - die Ölproduktion von KMG EP sank 2011 laut ihrem eigenen Finanzbericht um sieben Prozent, die Ölproduktion von UzenMunaigaz um 17 Prozent. Der Streik ging über die unmittelbaren Forderungen hinaus und die Aktionen der ArbeiterInnen vertraten ein allgemeines Interesse, als sie den 20. Jahrestag der Unabhängigkeit zum Tag des Protests gegen die Herrschenden machen wollten. Die Herrschenden mussten durchgreifen.(1)

(1)‍ ‍KMG EP hatte 2011 gegenüber 2010 fast eine Million Tonnen Förderverlust. Der Gewinn sank um 11 Prozent. "The results were negatively affected by the illegal strike at Uzenmunaigas that took place in May-August 2011" (KazMunai-Gas Exploration Production 2011 financial results, 2.3.12)

Aber die Ereignisse von Schangaösen waren auch ein Wendepunkt. Mit dem 16.‍ ‍Dezember wurde die vom Staat genährte Illusion von allgemeiner Zufriedenheit erschüttert. Schangaösen bildet keine Ausnahme, man muss davon ausgehen, dass sich solche Ereignisse in Zukunft wiederholen werden. Hinzu kommt, dass im Land selbst der 16. Dezember als ein fundamentaler Einschnitt empfunden wird. Das Datum hat eine große symbolische Bedeutung, nicht nur, weil am 16.12.1991 die Republik Kasachstan gegründet wurde; sondern weil es bereits 1986 an diesem Tag einen Aufstand gegen die sowjetische Herrschaft gegeben hatte, der niedergeschlagen wurde und der als "Zheltoksan" (kasachisch: "Dezember") in die kasachische Geschichte einging. Damals war Nasarbajew Vorsitzender des Ministerrats der Kasachischen Sowjetrepublik.

Die Ereignisse könnten eine neue Stufe der Entwicklung der Arbeiterbewegung in ganz Kasachstan bedeuten.


Chronologie Mai bis September 2011

Mai 2011: Streikbewegung ab 9. Mai, ausgehend zunächst von einem Hungerstreik der 1400 ArbeiterInnen von Karazhanbasmunai einem Joint-venture von KMG EP und CITIC. Sie protestierten gegen die Weigerung der Geschäftsleitung, einen von ihnen gewählten Gewerkschaftsvertreter anzuerkennen.

Ab 17. Mai legten 4500 Arbeiter die Werkzeuge nieder. Gefordert wurde eine tarifliche Gleichstellung mit den Beschäftigten von UzenMunaiGaz. Die hatten mit einem wilden, über 19 Tage geführten Streik im März 2010 eine deutliche Erhöhung ihrer Grundlöhne durchgesetzt - gegen den von der Firma betriebenen Versuch, höhere Prämienanteile beim Lohn durchzusetzen.

Zur gleichen Zeit, am 11. Mai, begannen die Arbeiter von Ersai Caspian Contractor zu streiken. Sie forderten, ihre Entlohnung solle gleichauf mit derjenigen liegen, die ausländische Arbeitskräfte erhalten. Diese hatten angeblich eine doppelt so hohe Entlohnung.

Gegen Ende Mai griff die Streikbewegung auf die größere Belegschaft von Uzenmunaigas über. Hier forderten die ArbeiterInnen zusammen mit Transportarbeitern, Service- und Reparaturtechnikern höhere Löhne. Das Kreisgericht des Gebiets Mangghystau erklärte die dort ausgebrochenen Streiks für ungesetzlich.

Trotzdem am 26. Mai wieder massenhafte Arbeitsniederlegungen. Neben Lohnerhöhungen zum Ausgleich der galoppierenden Inflation und einer Neuberechnung variabler Zulagen wurden Forderungen nach der Anerkennung unabhängiger Gewerkschaften gestellt (z.B. der Gewerkschaft Karakiyak).

Juni 2011: Während sich die Streiks im Südwesten des Gebiets Mangystau fortsetzten, griffen die Kämpfe auf das Nachbargebiet Aktobe über, wo Arbeiter bei Aktobemunaigaz sich am 14. Juni zu Protesten gegen Pläne zur Übernahme eines weiteren Teils der Firma durch einen ausländischen Investor versammelten, was den Verlust von Arbeitsplätzen bedeuten würde.

Anfang Juni wuchs die Zahl von streikenden Arbeiterinnen und Arbeiter auf 12.000-18.000 an. Bei UzenMunaiGaz und Karazhanbasmunai wurden die ersten Arbeiter entlassen.

Bereits am 1. Juni gab es Verhaftungen: Es traf Natalja Sokolowa, die Anwältin der Öl-ArbeiterInnen, sowie acht streikende Arbeiter.

Am 5. Juni versuchten in Aktau, der Gebietshauptstadt Mangghystaus, 500 Arbeiter vor dem Amtsgebäude der Gebietsregierung zu protestieren, wurden jedoch durch die Polizei gewaltsam zerstreut.

Mitte Juni: Immer noch Proteste bei KazMunaiGaz, aber laut Presseerklärung der Firma beteiligten sich nur noch Fahrer am Streik. Inzwischen verstärkten sich Solidaritätserklärungen aus anderen bedeutenden Betrieben Kasachstans (Kupferbergbau Kazakhmys, Arcelor Mittal Temirtau, Aktobemunaigaz). Die Streikenden von UzenMunaiGaz stellten Forderungen nach Verbesserungen von Löhnen und anderen Arbeitsbedingungen für Lehrer an öffentlichen Schulen und Ärzte.

Bis Ende Juni nahmen viele ihre Arbeit wieder auf. Diejenigen, die weiter streikten, errichteten Zelte auf einem zentralen Platz in Schangaösen.

8. Juli: Die Polizei löste unter Einsatz von Schlagstöcken den Zeltplatz auf. Ca. 60 Teilnehmer übergossen sich mit Benzin und drohten, sich anzuzünden. Größere Konfrontationen zwischen Polizei und mehreren tausend Protestierenden.

Ab 9. Juli: Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Protestierenden setzten sich fort.

August: Mehr als 1000 Mitglieder der regierenden Staatspartei "Nur-Otan" gaben gemeinschaftlich beim regionalen Parteibüro in Schangaösen die Mitgliedsbücher zurück.

Gewerkschaftliche Organisatoren bei UzenMunaiGaz, ein Aktivist und mehrere Streikende wurden verhaftet. Wie bei Natalja Sokolowa lautete die Anklage auf "Anstachelung zum sozialen Unfrieden".

Laut eigenen Angaben haben die Firmen Uzenmunaigas 373 und Karazhanbasmunai 160 Beschäftigte wegen "illegalen Streiks" entlassen.

2. August: Der junge Gewerkschafts-Aktivist Schaksylyk Turbajew wurde von Unbekannten getötet, unmittelbar nachdem er auf einer Gewerkschaftsversammlung die Abwahl eines arbeitgeberhörigen Gewerkschaftsfunktionärs gefordert hatte.

Ende August: Der Leichnam der 18-jährigen Tochter eines Gewerkschafters bei UzenMunaiGaz wird gefunden. Die Obduktion stellt Vergewaltigung vor dem Tod fest.

September: Der zentrale Platz in Schangaösen ist nach wie vor unter Kontrolle der streikenden ArbeiterInnen. Sie sagen: Wir sind 1000‍ ‍Streikende, aber hinter uns stehen Zehntausende. In Aktau sind es aber nur ca. 200 ArbeiterInnen, die sich morgens auf dem zentralen Platz zusammenfinden und sich abends wieder trennen. Sie nehmen ihre (Schul-)Kinder mit zur Streikversammlung vor dem Tor von Karazhanbasmunai, um sie vor Repressalien nach dem Ende der Sommerferien zu schützen.


Randnotizen

Schangaösen: Arbeiterstadt im Gebiet Mangghystau im westlichen Kasachstan mit etwa 90.000 Einwohnern; gegründet 1968, erlebte die Stadt 1989 Unruhen in Folge der Wirtschaftskrise in den letzten Jahren des Bestehens der Sowjetunion. In der Stadt herrscht ein unglaublich hartes Klima, es bläst ein brutaler Steppenwind. In der Region, wo sich fast alle großen Öl-Konzerne mit ihren hochbezahlten Angestellten niedergelassen und manche eine eigene kleine Stadt für ihre MitarbeiterInnen aufgebaut haben, sind die Preise extrem hoch.

Kasachstan: das größte Binnenland der Erde mit bedeutenden Erdöl- und Gasvorkommen am Nordrand des Kaspischen Meers sowie Bodenschätzen wie Kupfer im Nordosten. Es hat große, geologisch bedingte Schwierigkeiten mit der Ölförderung. Die meisten Ölvorkommen Kasachstans liegen unter extremen Druckverhältnissen; ständig drohen Schwefelwasserstoffgase auszutreten. Die Arbeiter tragen Sauerstoffflaschen mit sich herum. Die Anlagen ähneln eher einer Fabrik für gefährliche chemische Stoffe als einer Ölplattform.

KazMunaiGaz Exploration and Production (KMG EP): Öl- und Gasförderung, gehört zu 63 Prozent dem Staatskonzern KazMunaiGaz. KMG EP ist das größte börsennotierte Unternehmen Kasachstans und besitzt UzenMunaiGaz und die Hälfte von Karazhanbasmunai (mit chinesischer Beteiligung). Beide Firmen sind auf dem Feld des Mutterbetriebs tätig.

CITIC: chinesisches Finanz- und Investmentunternehmen; 2007 erwarb CITIC teilrechte des kanadischen Erdölunternehmens Nations Energy Company, wodurch CITIC Kontrollrechte und Firmenanteil an KMG EP erhielt.

Ersai Caspian Contractor: Öl- und Gasförderung, eine Joint venture mit der italienischen Saipem (ENI).

Raute

"Notfälle" Proteste in Rumänien

Auf dem zentralen Platz von Bukarest mischte sich Mitte Januar die Generation der Revolte von '89 mit Leuten aus der "jungen Mittelschicht" zum Demonstrieren. Wo aber sind die jungen Arbeitslosen, wo die vielen Leute, die aus dem Öffentlichen Dienst rausgeworfen wurden? Warum beteiligten sich kaum Angestellte aus den Krankenhäusern an den Protesten, wo die Kürzungen dort doch einer der Kristallisationspunkte waren? Ein Stimmungsbericht.


"Bitte entschuldigt, dass wir nicht so viel produzieren, wie Ihr stehlt!"

Freitag, der 13. (Januar) brachte kein Pech, sondern eine spontane Protestwelle nach Rumänien, die niemand vorausgesehen hatte. Zwei Wochen lang versammelten sich jeden Tag mehrere tausend Menschen auf dem Universitätsplatz in Bukarest und auf den Plätzen der größeren Städte des Landes. Doch der gemeinsame Nenner aller TeilnehmerInnen ist nicht so leicht zu benennen. Eine Lokalzeitung beschrieb die Situation so: "Jeder protestierte gegen das, was ihn am meisten stört."

Den Anlass zur ersten Kundgebungen gab das von einer Kommission im Namen des Staatspräsidenten Traian Basescu vorgeschlagene neue Gesundheitsgesetz. Dieses soll den Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern verstärken. Die Leistungen der Krankenversicherungen wurden schon massiv beschnitten, obligatorische Zuzahlungen bzw. teilweise die vollständige Bezahlung von Arztbesuchen eingeführt und zahlreiche Krankenhäuser in verschiedenen Kleinstädten und Dörfern geschlossen. Nun sollten die nächsten Schritte folgen:

• die Einführung einer obligatorischen privaten Krankenversicherung für alle,
• die Umwandlung öffentlicher Krankenhäuser in "autonome" selbstfinanzierte Unternehmen
•die Verwandlung des öffentlichen Rettungsdienst (SMURD) in einen freien Markt der Notfalldienste.

Dieses hieße in letzter Konsequenz: Ohne Geld keine Rettung. Einige NGO-Vertreter, Gewerkschafter, sowie ehemalige Patienten des Rettungsdienstes starteten eine Petition für die Beibehaltung des kostenlosen Rettungsdienstes. Nachdem sich auch der Chef des Rettungsdienstes und Unterstaatssekretär des Gesundheitsministeriums, Raed Arafat, gegen den Gesetzesentwurf ausgesprochen hatte, wurde ihm nahe gelegt zurückzutreten. Der Rücktritt der beliebten Persönlichkeit wird allgemein als der Tropfen angesehen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Auf Facebook wurden Kundgebungen unter dem Motto "Rettet den Rettungsdienst" organisiert. Für viele ist die Notfallversorgung das letzte Stück des Öffentlichen Sektors, das noch zu ihren Gunsten funktioniert. Darum schlug bei den Kundgebungen der Protest gegen die Gesundheitsreform sehr schnell zu einem Protest gegen die Regierung und teilweise gegen die gesamte politische Elite um.

"Wir wurden nicht manipuliert - wir sind arm!"

(Dieser Slogan war die Antwort auf Basescus Aussage, die Proteste seien von der Opposition organisiert worden, die die Menschen zu ihren Zwecken manipuliert habe.)

Der Präsident war als Symbol für die Einsparungspolitik der letzten zwei Jahre die Zielscheibe schlechthin für Wut und Spott. Seit sich Rumänien 2010 gegenüber dem IWF verpflichtet hat, das Haushaltsdefizit drastisch zu reduzieren, experimentiert die rumänische Regierung mit Sparmaßnahmen, die in ihrer Härte in Westeuropa und selbst aktuell in Griechenland (noch) unvorstellbar sind. Der schwerste Einschnitt war eine pauschale Gehaltskürzung um ein Viertel für alle Beschäftigten des Öffentlichen Sektors, so dass bspw. die Lehrergehälter nun bei durchschnittlich 150 Euro im Monat liegen. Alle Sozialausgaben, wie Arbeitslosenhilfe, Kindergeld oder Unterstützung für behinderte Kinder und die Renren wurden ebenso pauschal um 25 Prozent gekürzt. Der Mindestlohn wurde auf 670 Lei (ca. 140 Euro) gesenkt. All das bei einer Verdopplung der Gas-, Wasser- und Strompreise in den letzten Jahren. Der Mindestlohn reicht so gerade zum Bezahlen der Nebenkosten. Zusätzlich wurden mehrere zehntausend Angestellte des Öffentlichen Dienstes entlassen und das Arbeitsrecht bezüglich Leiharbeit und Befristungen liberalisiert. Gegen alle diese Einschnitte fanden damals von den Gewerkschaften organisierte Proteste statt. Die einzigen jedoch, die tatsächlich so etwas wie Wirkung zeigten, waren die durch Handzettel in den Briefkästen selber organisierten Demonstrationen von RentnerInnen. Einige endeten in ziemlich gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die vorgesehene direkte Kürzung der Renten wurde daraufhin fallen gelassen, aber stattdessen ihre Besteuerung mit 16 Prozent eingeführt und die Mehrwertsteuer auf 24 Prozent erhöht.

In der Vergangenheit haben sich die Rumänen auf individuelle Strategien verlassen, um mit den immer schwierigeren Lebensbedingungen zurecht zu kommen. Die Arbeit im Ausland und private Kredite sind immer noch eine wichtige Einnahmequelle, sie drohen aber zu versiegen: 2011‍ ‍wurden "nur" 2,5 Milliarden Euro aus dem Ausland nach Rumänien gesandt. 2008 waren es noch fünf Milliarden. Mittlerweile haben ca. 700.000 Leute ihre Bankkredite in Höhe von insgesamt einer Milliarde Euro nicht rechtzeitig oder gar nicht zurückgezahlt.

"Ihr wollt was für mich tun? Kriegt 'nen Herzinfarkt!"

Vor dem Hintergrund dieses sozialen Kahlschlags versammelten sich im Januar zum ersten Mal seit 20 Jahren Menschen jeden Alters und mit unterschiedlichstem sozialen Hintergrund spontan, ohne öffentlichen Aufruf und ohne polizeiliche Genehmigung, um sich Gehör zu verschaffen. Hunderte Banner, Schilder und Zettel, die jeden Tag wechselten, zeugten von den großen alltäglichen Frustrationen. Mit unglaublich kreativen Slogans und offensichtlichem Spaß daran, die politische Klasse zu beleidigen, wurden alle möglichen Probleme benannt: angefangen bei den niedrigen Renten, über unverschämt hohe Uni-Gebühren und die lächerlichen Gehälter bis zur Arroganz der Oberschicht, die sich nicht einmal mehr die Mühe macht, ihre Korruptheit zu kaschieren. Die Rumänen haben doch eine Protestkultur, auch wenn das im Ausland niemand mehr glauben wollte! Die Verbindung zwischen den aktuellen Protesten und der Revolution 1989 sowie den Massenprotesten gegen die Iliescu-Regierung 1990 war klar: Die Lieder und Slogans der Revolution sind noch allgemein bekannt und wurden jeden Abend gesungen, es gab Banner mit der Aufschrift "Die einzige Lösung noch eine Revolution!" Es wurden natürlich auch viele andere Lösungsansätze präsentiert: Die einen riefen nach dem König, andere nach der radikalen Demokratie, viele forderten bloß vorgezogene Wahlen, einige wollen eine grüne Partei gründen. Die Idee der Verstaatlichung der Ressourcen war nicht unpopulär - genauso wenig wie die Forderung nach einer Regierung von Technokraten. Als Folge der Proteste trat Ende Februar die gesamte Regierung zurück, die neue Regierung wird von der jüngeren Generation der regierenden PDL gestellt - eine illustre Runde: Figuren aus der Finanzindustrie und den Vorständen der multinationalen Firmen, Verwandte von älteren Politikern und ein ehemaliger Spion als Premierminister.

"Die Gendarmerie verteidigt die Abzocke!"

Sympathisch war die feindselige Einstellung der Protestierenden gegenüber Polizei und Medien. Mehrere Fernsehjournalisten wurden aus der Kundgebung gedrängt, Slogans und Banner thematisierten die Manipulation durch die Presse. Vor allem die ältere Generation zeigte sehr wenig Verständnis für die Omnipräsenz der Einsatzeinheiten der Polizei auf dem Platz. Deren provokatives Auftreten und ihre schiere Zahl führte zu mehreren Konflikten zwischen Polizei und Demonstrierenden, die am Sonntag, dem 15. Januar, in einen mehrstündigen Riot mündeten. Mit Steinen und Flaschen bewaffnete Jugendlichen führten eine Menge an, die aus dem Polizeikordon ausbrach und die Straße besetzte. Dann lieferten sich mehrere hundert vorwiegend junge Leute bis spät in die Nacht kleinere Straßenschlachten mit der Polizei. Auch wenn kein großer Schaden entstand (z.B. brannte nur ein Auto), wurde dieses Event natürlich zur großen Schlagzeile. In der Tat ist etwas Ähnliches seit den 1990er Jahren nicht mehr vorgekommen. Die Medien versuchten, Fußballfans für die Vorkommnisse verantwortlich zu machen, da Gruppen von Ultras an den Protesten teilgenommen hatten. Aber obwohl die Ultras zu den wenigen irgendwie organisierten Gruppen auf der Demo gehörten und sie natürlich ihr eigenes Hühnchen mit der Polizei zu rupfen haben: Die Leute, die an den Straßenschlachten teilnahmen, setzten sich so unterschiedlich zusammen wie der gesamte Protest. Natürlich waren auch Ultras unter ihnen. Viele von ihnen gehören zur jüngsten Generation aus den (ehemaligen) Arbeiterghettos mit überfüllten Neubaublocks. Letzten Endes war die Suche nach einem Sündenbock auch nicht sehr erfolgreich. Die Stimmung am Universitätsplatz war solidarisch mit den Ultras, und die am häufigsten geäußerte Meinung war: "Lasst die Kinder in Ruhe!" Auf einigen Schildern stand: "Wir sind alle Hooligans!"

"Ich will meine Miete mit rumänischen Erdbeeren bezahlen"

Doch trotz all der Euphorie und auch Solidarität auf den Demos - politisch blieb der Protest beschränkt. Die allgemeine Stimmung war, dass die politischen Parteien keine Chance bekommen sollten, daran teilzunehmen. Der Slogan "USL - PDL - aceeasi mizerie!", der Regierende und Oppositionspartei den "gleichen Dreck" nennt, zeigt die Einstellung der meisten Leute zur politischen Elite. Nachdem ein Politiker einer größeren Partei ausgebuht und vom Platz geschickt worden war, traute sich kein anderer mehr, seine Aufwartung zu machen. In Bukarest passierte der rechtsextremen Gruppe "Noua Dreapta" das Gleiche. Diese gewissermaßen "apolitische" Stimmung führt in manchen Städten allerdings auch zu einer mangelnden Abgrenzung gegen Versuche von rechten Gruppen, sich einzumischen. Es gibt in der Tat einige Punkte, an die sie anknüpfen können. Vor allem blieb der Horizont der Proteste bislang ausschließlich auf die nationale Politik beschränkt. Politische Standpunkte, die über eine allgemeine Unzufriedenheit hinausgingen, oder Versuche, den internationalen Zusammenhang ins Blickfeld zu rücken, waren weniger willkommen. Einige Leute zerrissen sogar demonstrativ Flugblätter, weil sie das Gefühl hatten, auch diese seien eine Art politische Manipulation. Dafür wurde die Stimmung von allen möglichen patriotischen Statements dominiert. Da in diesem Land zu leben für die meisten ein Leben in Armut bedeutet, ist das zwar irgendwie verständlich, es wird jedoch noch eine ganze Weile dauern, bis die Gründe für diese Situation in der Öffentlichkeit ernsthaft diskutiert werden können. Die Stadionkultur der Ultras reiht sich in diese Haltung ein; ihre lautstarken und im Stadion beliebten Sprechchören wie "Raus mit den Ungarn aus unserem Land", mit denen sie die Kundgebung oft genug akustisch dominierten, bieten nicht gerade eine Lösung an...

Sehr präsent war auch das Problem der Massenmigration, etwa das berühmte Beispiel der rumänischen Erdbeerpflücker in Spanien. Die Arbeit im Ausland wird nicht länger als lohnenswerte Einkommensquelle gesehen oder als eine gute Gelegenheit, das Land zu verlassen. Während des Protestes sagten viele stattdessen: "Ich will nicht ins Ausland gehen" oder: "Es gefällt mir nicht, dass meine Kinder gezwungen sind wegzugehen."

"Das ist erst der Anfang"

Überraschenderweise verebbte der Protest nicht nach wenigen Tagen. Trotz Schneesturm und fiesen Außentemperaturen versammelten sich die Leute mehr als einen Monat lang jeden Abend am Universitätsplatz. In den ersten Wochen wurden die Reihen hin und wieder mit Leuten aufgefüllt, die an Gewerkschaftsdemos oder Versammlungen der Opposition teilgenommen und sich nach dem Ende ihrer Veranstaltungen unter die Protestierenden gemischt hatten. Nach dem Regierungswechsel im Februar schmolz die Teilnehmerzahl auf dem Platz auf nur noch ca. 100‍ ‍Leute täglich. Die meisten Verbliebenen waren Rentner, Studenten und ein paar NGO-Aktivisten. Vielleicht bedingte die räumliche Anordnung des Universitätsplatzes eine Trennung der Protestierenden: Die den Platz durchschneidende Hauptverkehrsader Bukarests konnte nur zweimal erfolgreich blockiert werden. Die Leute versammelten sich deshalb auf beiden Seiten der Straße. So trafen sich die jüngeren Leute und die politisch Radikaleren auf der einen Seite vor der Universität, während sich die Rentner, die Revolutionsveteranen und andere ältere Leute auf der anderen Seite vor dem Nationaltheater versammelten. Auch wenn das zunächst der Geographie der Stadt geschuldet war, drückte sich hier - nicht zufällig eine Trennung entlang sozialer Unterschiede aus. Die finanzielle Situation der jüngeren Protestierenden ist meist nur halb so verzweifelt wie die der Älteren, sie gehören eher der städtischen Mittelschicht an. Die Trennung verstärkte sich mit der Zeit sogar noch; nach einer Weile entstanden Argwohn und Gerüchte, z.B. "Die auf der anderen Seite sind alle bezahlt".

Jetzt versuchen hauptsächlich Jüngere, weiteren Protest zu organisieren, viele von ihnen sind "Aktivisten" in politischen / kulturellen Initiativen oder NGOs. Sie initiieren politische Diskussionen und andere Aktivitäten, wie etwa einen kollektiven Besuch im Fußballstadion, der leider von der Polizei verhindert wurde.

Trotz alledem besteht die Chance, dass die Leute öfter auf die Straße gehen werden, nachdem sie nun einmal rausgefunden haben, dass es möglich ist und Spaß macht. Die allgemeine pessimistische Stimmung hat sich ein wenig aufgehellt. Aber für eine Radikalisierung der Proteste wird es entscheidend sein, ob die Spaltungen und der Argwohn überwunden werden können.

N., Bukarest, Februar 2012

Raute

Geschlafen wird am Monatsende

"Wer bei der Arbeit schwitzt, wird nie reich davon"
(türkisches Sprichwort)

Jochen Dieckmann: Geschlafen wird am Monatsende
Westend Verlag 2011 278 Seiten | 16,95 Euro

Das Buch "Geschlafen wird am Monatsende" berichtet aus dem Alltag eines internationalen Fernfahrers und gibt so einen Einblick in die Arbeitsbedingungen der Branche.

Der Autor Jochen Dieckmann fuhr ab Ende der 70er LKW. Mit 21 bricht er sein Jurastudium ab und arbeitet als internationaler Fernfahrer. Dabei wechselt er immer wieder die Arbeitgeber, weil die Bedingungen für ihn nicht mehr erträglich sind. Unter anderem fährt er in dieser Zeit für Textilspeditionen von den Produktionsstätten in Süd- und Südosteuropa zu den Händlern im Norden. 1988 hört er wegen Rückenproblemen als Fahrer auf und macht eine Umschulung zum Journalisten, ein Bereich, in den er als Sprecher einer Bürgerinititative gegen Wackersdorf Kontakt hatte. Danach macht er Radio beim Hessischen Rundfunk, fährt Kulturbus, ist in der Presseabteilung eines FDP-Politikers, ... am Ende arbeitslos. Deswegen wird er 2005 wieder Fahrer. Zunächst fährt er für einen deutschen Subunternehmer - der ihn allerdings um den Lohn prellt. Anschließend für eine niederländische Spedition, da dort die Löhne höher sind (und bezahlt werden).

Das ist wohl auch der Grund, warum er trotz extrem schlechter Arbeitsbedingungen recht lange durchhält. Am Ende zieht jedoch auch das nicht mehr und er verlässt die Firma über einen Krankenschein. Um wenigstens noch propagandistisch gegen seine Branche anzustinken, schreibt er "Geschlafen wird am Monatsende". Das Buch hat eingeschlagen wie eine Bombe und wurde bereits in der vierten Auflage gedruckt.

Der Hauptteil des Buches besteht aus Logbüchern, die Touren quer durch Europa und darüber hinaus beschreiben. Eine Tour geht zum Beispiel von den Niederlanden nach Marokko, von da aus mit komplett fertigen - sogar mit Preisschild ausgestatteten - Textilien zurück bis nach Wales.

Daneben erzählt er in Vor- und Nachworten und zwei Reportagen andere Dinge aus seiner Biographie, erläutert die Bezahlung von Truckern und die vorgeschriebenen Lenk- und Ruhezeiten.

Jochen Dieckmann schreibt das Buch durchgängig aus seiner persönlichen Perspektive. Das Buch angenehm und flüssig lesbar, auch wenn er manchmal etwas zu sehr in einen Plauderton verfällt. Dabei hat es durchaus Roadmovie-Qualitäten. Man erfährt viel über den Alltag eines internationalen Fernfahrers. Der Autor erzählt von Disponenten der Speditionen, die die Fahrer wie den letzten Dreck behandeln und sie im Kommandoton und mit permanenten Vorwürfen traktieren; von den Tricks, mit denen die Speditionen die sowieso schon miesen gesetzlichen Arbeitszeitregelungen unterlaufen. Er registriert die Veränderungen im Gewerbe in den letzten 30 Jahren, ohne jedoch die "guten alten Zeiten" zu romantisieren. Getrickst und gegen die Bestimmungen verstoßen wurde auch damals schon.

Auch die Auswirkungen der Krise auf den Transport schneidet er kurz an. So haben niederländischen Spediteure seit dem Kriseneinbruch Zweigstellen in Osteuropa aufgebaut und am Stammsitz vor allem die ausländischen Fahrer entlassen.

Daneben erlaubt er Einblicke in die kapitalistischen Produktion aus der Sicht eines Fernfahrers. Er wird unter riesigem Druck über die Straßen gejagt, um dann, am Ziel angekommen, aus "computertechnischen" Gründen einen halben Tag nicht ausladen zu können oder warten zu müssen, weil die Ware noch produziert wird, während er an die Laderampe fährt. Oft rufen in diesen Wartezeiten auch noch die Disponenten an und üben Druck auf ihn aus, er solle sich beeilen. Zur Just-in-time-Produktion und "Lohnveredelung" gehören auch die viele Leerfahrten und "überflüssige" Fahrten, die zum Beispiel anfallen, weil das Qualitätsmanagement für in Marokko produzierte Waren in Wales gemacht wird. Dabei hat er ein gutes Auge für die Verhältnisse der Arbeiterinnen in den Fabriken, die er anfährt.

Seine Beschreibung der Kollegen ist widersprüchlich. Er möchte dem Vorurteil vom dummen LKW-Fahrer ein differenziertes Bild entgegensetzen und betont die Vielseitigkeit und Intelligenz seiner "Lieblingskollegen". Gleichzeitig kotzt er sich ziemlich platt über das Verhalten und die Sprüche von Kollegen aus, die er auf Raststätten treffen muss. Hier macht er mehrfach deutlich, dass er eigentlich lieber ohne Kollegen arbeitet. Gleichzeitig beschreibt er die Solidarität und Hilfsbereitschaft der Fahrer, wenn ein anderer auf der Strecke Probleme hat. Kollegen, die er im Ausland an Orten trifft, wo er zwangsläufig Zeit verbringen muss, stellt er detailliert und empathisch dar.

Durch diese Aufteilung kommen deutsche und holländische Fahrer im Buch eher schlecht weg, während von süd- und osteuropäischen Fahrern ein fast schon romantisches Bild vermittelt wird.

Eine der großen Schwächen des Buches ist allerdings, dass die Motivation, warum er das Buch schreibt, unklar bleibt - vielleicht ist sie ihm selber nicht klar. Er möchte mehr Verständnis für LKW-Fahrer erreichen, was ihm durchaus gelingt, bedient aber trotzdem an einigen Stellen selber Klischees. Er möchte einen Beitrag zur Verbesserung der Situation der Fahrer leisten, gemeinsames Handeln der Fahrer kommt im Buch als Option aber gar nicht vor. Ihm erscheint sie wegen der Vereinzelung der Fahrer nur sehr schwer möglich. Stattdessen erhofft er eine Verbesserung ausgerechnet von Stellen, wo seine eigenen beschriebenen Erfahrungen negativ sind: gesetzliche Regelungen, Polizei, Gewerkschaften und Gerichte. So betont er beispielsweise, dass entgegen der öffentlichen Meinung auch deutsche Polizisten Bestechungsgelder erwarten. Nur halt von den süd- und osteuropäischen Fahrern.

Daneben wird aus dem Buch selbst nicht klar, warum er so lange unter diesen Bedingungen gearbeitet hat, ohne etwas dagegen zu tun. Warum ist er nicht früher gegangen oder hat stärker versucht sich zu wehren? Dieckmann erklärt es im Buch nur mit kurzen Verweisen auf seine Angst vor Arbeitslosigkeit und Hartz IV, ohne darauf einzugehen.

Trotz dieser Schwächen ist das Buch ein lesenswerter subjektiver Bericht, der anhand eigener Erfahrungen die heutigen Arbeitsbedingungen eines internationales Fernfahrers beschreibt und einen Eindruck der Veränderungen in den letzten 30 Jahren vermittelt. Um die LKW-Fahrer-Streiks etwa in Italien und den USA einschätzen zu können, taugt es aber leider nicht.

Unter deutschen Fahrern wurde das Buch mit großer Skepsis aufgenommen. Jochen Dieckmann wurde oft entweder als Journalist gesehen, der auf ihrem Rücken Geld machen will. Oder als Waschlappen, der es versäumt habe, sich selber gegen miese Arbeitsbedingungen zu wehren und er schlicht und einfach "keinen Arsch in der Hose" habe. Solchen Befürchtungen gibt die Aufmachung des Buches à la "Rollende Zeitbomben auf Europas Straßen" auch selbst Nahrung.

Dieckmann hat in einigen Internetforen wie TruckerFreunde.de auf diese Beschuldigungen reagiert und ist dort in die Diskussion eingestiegen. Der Gegenwind aus der Trucker-Community brachte ihn dazu, sich vor Fernsehauftritten mit Kollegen darüber abzusprechen, ob es okay ist, bei bestimmten Sendeformaten und bestimmten Sendungen aufzutreten. So ermöglichte das Buch zumindest unter einigen LKW-Fahrern eine Diskussion über die eigenen Bedingungen.

Raute

Totalschaden

Klaus Gietinger: Totalschaden - Das Autohasserbuch
Westend Verlag 2011, 306 Seiten, 16,95 Euro

"Totalschaden" ist ein Buch mit einer klaren Aussage: Mobilität, die auf Individualverkehr beruht, ist Wahnsinn. Ihr Preis ist extrem hoch und unkontrollierbar. Der Autor Klaus Gietinger (Tatort, Löwenzahn) schreibt Bücher zu historischen Themen wie Rosa Luxemburg, Kronstadt oder zuletzt Waldemar Pabst. Er ist seit Jahren als "Autokritiker" und bei Projekten im Verkehrsbereich (Frankfurt 22, Bürgerbahn statt Börsenbahn) aktiv.

Das Buch ist reißerisch aufgemacht, was schon mit dem Titel anfängt. Jedes Kapitel beginnt mit dem tödlichen Verkehrsunfall eines Prominenten wie James Dean oder Jörg Haider, Kästen mit der Überschrift "Mein Leben als Gaffer" berichten von tödlichen Unfällen, die der Autor selbst miterlebt hat. Die Sprache ist polemisch und bezieht eindeutig Position, wie allein die Begriffe zeigen, die zur Beschreibung verwendet werden: Kinder werden durch die Gesellschaft "verhausschweint", Autokonzerne sind "Dealer", Automagazine "Drogenblätter", usw. Das wirkt teilweise überzogen und aufgesetzt, trotzdem ist das Buch flüssig geschrieben und gut lesbar. Und vor allem ist es informativ und wirkt gut recherchiert - eine Fundgrube spannender Fakten.

Das Hauptargument des Buches ist die hohe Zahl von Menschen, die durch den Straßenverkehr getötet und verkrüppelt wurden: 2010 starben weltweit 1,3 Millionen Menschen, 45 Millionen wurden verletzt. In Deutschland sterben relativ wenige Menschen durch Autos (über 4000), die Zahl der Verletzten (900.000) ist aber eine der höchsten in den industrialisierten Ländern. Die höchsten Todesraten gibt es in den armen Gebieten Afrikas und Südamerikas.

Der zweite Schwerpunkt des Buches dreht sich um das mit dem Autofahren verbundene Freiheitsversprechen, das durch die weltweite Verbreitung des Autos angeblich fast überall eingelöst werden kann. "Freie Fahrt für freie Bürger", als Formulierung zum ersten mal im Nationalsozialismus benutzt, wirkt bis heute, nicht nur in den Slogans des ADAC. Es handelt sich dabei um die individuelle Freiheit, selbst zu bestimmen, wo man hinfährt, sich dem Rausch der Geschwindigkeit hinzugeben, die (Verkehrs-)Regeln zu übertreten.

Gietinger zeigt unter anderem, dass die größere Mobilität für die meisten Leute weder Zeitersparnis noch eine bessere Lebensqualität gebracht hat. Bei der historischen Durchsetzung des Autos waren andere Interessen im Spiel. In den USA wurde es sehr schnell zum Massenprodukt, weil früh auf Fließbandproduktion gesetzt und andere Verkehrsmittel absichtlich zerstört wurden. In Deutschland hat der Nationalsozialismus eine Straßenverkehrsordnung geschaffen, die keine Geschwindigkeitsbegrenzungen mehr kannte, nur noch milde Strafen für Autofahrer vorsah, die Bereiche von Autofahrern und Fußgängern streng trennte und den Autofahrern die "eingebaute Vorfahrt" einräumte. Das Versprechen der Massenmobilisierung konnte aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg umgesetzt werden. Diese Beispiele zeigen, wie das Auto zum zentralen Produkt des "revolutionierten" Kapitalismus wurde, das es bis heute noch ist.

Das letzte Kapitel soll eine Lösung der Problematiken vorstellen. Der Vorschlag beschränkt sich dabei aber auf die technischen Fragen der Fortbewegung und ihrer Organisation: Fußgänger und Radfahrer sollen bevorzugt, der ÖPNV ausgebaut, der motorisierte Individualverkehr abgestraft werden. Die Frage nach der Bedeutung des Produkts Autos für den Kapitalismus, die an andern Stellen durchaus durchscheint, wird nun leider nicht mehr angesprochen. Stattdessen argumentiert der Autor mit angeblich zu schaffenden Arbeitsplätzen und Wachstumsmöglichkeiten - wirklich überzeugend ist das nicht.

Trotzdem ist es ein lesenswertes Buch, das zum Nachdenken anregt, wenn man sich von der polemischen Sprache nicht abschrecken lässt.

Raute

ArbeiterInnen gegen die Krise?

Anna Leder (Hg.): Arbeitskämpfe im Zeichen der Selbstermächtigung
- Kollektive Gegenwehr in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Österreich und Serbien
Oktober 2011 | Promedia - 224 Seiten | 17,90 Euro

Das Buch will die These von der "Krise ohne Widerstand" (Seppmann) widerlegen. Es versucht das mit zwei Behauptungen: Es finden Kämpfe statt, in denen sich Arbeiterautonomie ausdrückt, und die Gewerkschaften bremsen die Kämpfe. Die AutorInnen verstehen es als Lektüre für eine Bewegung, die "Antwort auf die Krise der repräsentativen Organisationsformen geben und in weiterer Folge auch ein Motor sozialer Umwälzung werden könnte" (S. 12).

Als Eröffnung versucht Christian Frings, den Klassenkampf in der BRD in den letzten zehn Jahren zusammenzufassen und zu gliedern; das legt eine gute Grundlage zur Diskussion und Kritik dieser Kämpfe. Rainer Thomann berichtet in seinem ersten Beitrag über den Kampf der französischen Continental-ArbeiterInnen, im zweiten versucht er eine Geschichtsschreibung der Schweizer Arbeiterkämpfe; Peter Haumer macht dasselbe zu Österreich. Zum Schluss schreiben zwei serbische Genossen zur neueren Geschichte des Balkan.


Autonom und selbstermächtigt gegen "das große System"

Christian stellt die Kämpfe über den Begriff der Produktionsmacht in den Rahmen der Weltsystemanalyse. Vor dem Hintergrund der globalen Krise formt er aus einem Mix von gewerkschaftlichen (Warn-)Streiks, "selbstermächtigten" und wilden Streiks, offensiven Lohnforderungen und defensiven Abwehrkämpfen (etwa gegen Betriebsschließungen) eine "globale Streikwelle seit 2007".

Können sich aus dieser Streikwelle "größere Bewegungen entwickeln, die den historischen Entwicklungspfad des ganzen Systems ändern"? Das hänge "nicht allein von ihnen" ab: "In seiner stabilen Phase ist ein System in der Lage, [...] Widerstand zu absorbieren und in einen Motor seiner eigenen Entwicklung zu verwandeln. ... Gerät aber die Struktur selbst ins Wanken, können schon kleinste Erschütterungen eine lawinenartige Dynamik auslösen, in der die Menschen Veränderungen in Gang setzen, die sie noch gar nicht ins Auge gefasst hatten. Der [...] Flügelsehlag des Schmetterlings kann den globalen Sturm auslösen [...]." (S.17)

Die Stelle ist problematisch, weil er von einem gegebenen systemischen Rahmen ausgeht. Er fragt nicht danach, wie dieses System selber durch die Arbeit historisch geformt und täglich konstituiert wird. Sein Ansatz, "das Verhältnis zwischen den kleinen kapillaren Revolten (...) und der Stabilität oder Brüchigkeit des großen Ganzen im Auge (zu) behalten", geht in die richtige Richtung, verliert aber eine Entwicklungsperspektive aus den Augen. Er nimmt zwei große Periodisierungen vor:

Erste Periodisierung: Der Wendepunkt 2004

Die Kämpfe ab 2004 markieren einen Wendepunkt hin zu "neue[n] Tendenzen der Autonomie" (S.23). Als Beispiele führt er an: die Montagsdemos, Opel, Gate Gourmet, AEG, BSH, die Lokführer, die Emmely-Kampagne und die Betriebsbesetzungen (Nordhausen) bis bin zu den Kämpfen bei Krisenausbruch (Leiharbeiterlnnen, Takata-Petri, Daimler, GHB, etc.). Er fasst diese Phase in drei Punkten zusammen:

1.‍ ‍Streiks sind von der Gewerkschaft im Aufschwung nicht erwünscht, sie spaltet die ArbeiterInnen, deswegen machen sie ihr eigenes Ding. Die Ausgrenzung durch 'ihre' Gewerkschaft erleben sie als strukturellen Rassismus; der Gewerkschaftsapparat behandelt sie als dumme, unwissende Ausländer. Die Linken tragen zur "Bagatellisierung oder Banalisierung" bei, "weil sie die Brisanz und Möglichkeiten" ihrer Kämpfe nicht erkennen. (S. 44)

2.‍ ‍Die ArbeiterInnen erreichen "fast überall mehr über die Arbeitsgerichte als durch gewerkschaftlichen Widerstand" (S. 45) - dieser Prozess trägt zu Individualisierung und Staatsgläubigkeit bei. Wobei ...

3.‍ ‍die Prekarisierung und Leistungsverdichtung an den Fließbändern zunimmt, was dort zu kurzen wilden Streiks führt. Leider gäbe es "nur sehr wenige Berichte" über die "verborgene Stätte der Produktion".

Zweite Periodisierung: Die Brüche

Die drei historischenjahre 1945 - 1968 - 1989 bilden zugleich den "Bruch mit der alten Arbeiterbewegung" (S. 48). Der Wiederaufbau war ein "heftig umkämpfter Prozess" (S. 49). "Der eigentliche soziale Kitt [...] war [...] die ständige 'Unterfütterung' [...] mit neu rekrutierten Arbeitskräften." (S. 50). Und aus diesem "sozialen Kitt" Unterfütterung wurde sehr schnell der Aufstand der ArbeiterInnen aus dem Süden "gegen den Plan" (S. 51).

In den 80ern wurde die Macht der ArbeiterInnen in ihren Zentren zersetzt. Parallel zur Niederlage der Stahl-, Werft- und Bergarbeiter entstanden vor allem im Transportbereich "neue und offensive Kämpfe" (S. 53). Die Gewerkschaft wird eher benutzt, die ArbeiterInnen organisieren sich über Koordinationen selber. Ende der 80er "sah es [...] nach einem neuen Aufflammen von betrieblichen Kämpfen aus": Stahlarbeiter gingen mit HausbesetzerInnen auf die Straße, in Frankreich kämpften 1987 die Eisenbahner und 1988 die Krankenschwestern... Aber im "inszenierten Taumel" ging das wieder unter (S. 55): Wiedervereinigung, Pogrome, zweiter Golfkrieg, Jugoslawien-Krieg.

Die Wende zum Besseren sieht er 1995/96 in Frankreich ("erster Streik gegen die Globalisierung"; in Paris entstanden 1996 die sans papiers), global 1999 in Seattle, mit Verspätung in Deutschland 2004.

"Produktionsmacht" und Arbeiterautonomie?

Probleme habe ich mit seinem von Beverly Silver übernommenen Begriff von Produktionsmacht. Christian spricht diese den Catering-ArbeiterInnen von Gate-Gourmet zu, den AEG- und BSH-ArbeiterInnen ab. Sein Argument ist vor allem, dass ein Flughafen nicht verlagert werden kann. Warum eigentlich nicht? Ein Flughafen ist vielleicht noch weniger als eine Industrieproduktion an eine spezifische Arbeiterklasse vor Ort gebunden. Insofern drückt der Begriff der Produktionsmacht an dieser Stelle mehr eine momentane Verhandlungsmacht von Arbeitern aus denn eine Suche nach einer in der gesellschaftlichen produktiven Kooperation (Marx) begrabenen Macht.

Die Leerstelle, dass sich aus der Verhandlungsmacht einzelner Arbeitergruppen keine revolutionäre Perspektive ergibt, ersetzt Christian durch Stücke aus der Weltsystemanalyse. Die "Zentren des Klassenkampfs" verschieben sich in den Süden, damit wankt die Weltordnung. Das wird nochmal verstärkt durch die Alphabetisierung, was zu führerlosen Aufständen (Tunesien, Ägypten) und "zunehmender Selbstermächtigung von Unten" gegen Staat und hierarchische Organisationen führt. (S. 56)

Die Beobachtung ist richtig, die Herleitung fraglich: Die "Führerlosigkeit" der Revolten ist mehr in der steigenden Einbindung der Arbeit einer weitgehend urbanisierten ländlichen Bevölkerung in die tw. internationale Arbeitsteilung denn in einem gestiegenen Bildungsniveau begründet.

Am Ende schrumpfen die "autonomen Klassenkämpfe in der BRD" (Titel des Aufsatzes!) innerhalb der Weltsystemanalyse zusammen und bleiben damit eigenartig wirkungslos. Hier müssten wir genauer rausarbeiten, wo und wie sich - wenn schon - Arbeiterautonomie ausdrückt. Die von Christian angeführten Beispiele sind zwar in der Anzahl ordentlich und widerlegen die Behauptung von der "Krise ohne Widerstand"; insofern ist sein Beitrag wichtig und eröffnet eine notwendige Debatte. Diese sollten wir aber mit Trennschärfe führen, denn von Autonomie können wir nicht überall reden (etwa bei der Emmely-Kampagne). Die Grenzen der Kämpfe müssen wir im Auge behalten.


Selbstermächtigung oder Klassenkampf?
Continental: Die Löwen von Clairoix

Rainer Thomann sieht im Kampf der französischen Continental-ArbeiterInnen, dass die "Betroffenen ihr Schicksal selber in die Hand nehmen". "Das [...] übliche [gewerkschaftliche] Ritual wird auf eine sehr direkte und handfeste Art durchbrochen." (S.68) Er erzählt, wie sich die Belegschaft bemühte, internationalen Kontakt zu anderen (Continental-)ArbeiterInnen herzustellen und wütend einen Teil der Werkseinrichtung demolierte. Staat und hilflose Gewerkschaften versuchten, durch Hinhalten und Beruhigungen die Wut und Entschlossenheit der ArbeiterInnen zu zertreten. Eine geplante gemeinsame Demo in Hannover von französischen, mexikanischen und deutschen KollegInnen kam nicht zustande. (S. 73) Vor dem Werk in Aachen wurden die ArbeiterInnen von der Polizei erwartet, sie änderten ihre Route Richtung Sarreguemines, wo sie spontan das Werk besetzten. Das aber war den KollegInnen dort zu unvermittelt. Thomann geht leider nicht auf dieses Problem ein. Dementsprechend fremd mutet es an, wenn er die Aktion als "erfolgreich" bezeichnet und im nächsten Satz davon redet, dass die "Contis" nun "wussten", dass sie "allein standen im Kampf" (S. 75).

Das Bild widerspricht überhaupt an vielen Punkten der Darstellung französischer GenossInnen. Der Kampf stand unter gewerkschaftlicher Kontrolle. Niemand von den ArbeiterInnen versuchte anfangs "internationalen Kontakt" herzustellen, z.B. zum Werk nach Sibiu in Rumänien zu fahren, wohin verlagert werden sollte. Außerdem reagierten einige KollegInnen in Sarreguemines deshalb feindlich, weil die "Löwen" eigenmächtig in die Fabrik stürmten ohne vorher was zu sagen. Abgesehen davon hatte die Belegschaft schon 2007 einer Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich zugestimmt, somit eine schmerzhafte Niederlage schon hinter sich.

Selbstermächtigung in Österreich: Zwischen Befriedung und Revolte

Peter Haumer beschäftigt sich grob mit drei historischen Phasen von (Arbeits-)Kämpfen in Österreich: Erstens militante, teils offensive Streiks und Revolten gegen die Durchsetzung von Teuerungen, die mit der Hilfe von Gewerkschaft und SPÖ niedergeschlagen wurden (1911, 1950), zweitens betriebliche Abwehrkämpfe gegen Schließungen und Verschlechterungen 1978-2003, zu deren Scheitern die Betriebsräte und Gewerkschaften einen erheblichen Beitrag leisteten und drittens "abgesagte Streiks" 2009. Dazwischen liegen zwei Kämpfe im Sozialbereich (Krankenhausbeschäftigte 1988/89, Kindergärtnerinnen 2009), die im Unterschied zu den Auseinandersetzungen im produktiven Sektor wesentlich weniger durch die Institutionen zertrampelt werden konnten. Die Beiträge zu den Abwicklungen sind vom Konjunktiv durchzogen: Wäre - hätte - könnte. "Eventuell kam der Streikabbruch am Freitag zu früh, vielleicht wäre es besser gewesen, das Wochenende abzuwarten und zur Durchbrechung der Isolation am Montag in der Früh eine Betriebsversammlung abzuhalten, auf der über die Fortsetzung oder den Abbruch des Streiks entschieden hätte werden können." (Die Zangtaler Bergarbeiter [1988], S. 109) "In Österreich wären die wesentlichen Industriebetriebe ab Montag still gestanden." (Der EisenbahnerInnenstreik [2003], S. 119) Das öffnet den Horizont, wie es anders hätte gehen können und in Zukunft gehen könnte, aber es wirkt etwas hilflos. Peter spricht nicht aus, dass die Kämpfe Grenzen hatten: Sie kamen nicht über die Erhaltung der Arbeitsplätze hinaus. Sein Aufsatz leidet zudem unter dem Fokus auf die Betriebsräte und deren Handeln und Nicht-Handeln.

Am Schluss flüchtet er sich in eine Bewegung, die nichts mit ArbeiterInnen, nur mit Arbeiterinstitutionen (ÖGB!), zu tun haben wollte: Die Studiproteste 2009 hätten gezeigt, "dass es möglich war, auf die eigenen Kräfte zu vertrauen und mit Tausenden AktivistInnen über viele Wochen hinweg nach eigenen Regeln selbstbestimmt zu kämpfen." (S. 138). Damit ersetzt er Inhalt - die StudentInnen kritisierten nicht die Klassengesellschaft, sondern verteidigten "ihre Bildung(sprivilegien)" - mit Form: Hauptsache er kann sie in "selbstbestimmt" oder "selbstermächtigt" gießen.

Schweiz: Arbeiterwiderstand im "Land des Arbeitsfriedens"

"War die Schweiz seitjeher [...] eine Oase sozialen Friedens?" (S. 142)‍ ‍Rainer Thomann spannt den Bogen vom Bau des Gotthard-Eisenbahntunnels 1872 und der "Zeit der Hochkonjunktur" ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs über den Kriseneinbruch 1973 bis hin zum "Wunder von Bellinzona" und der Schließung der Kartonfabrik Deisswil.

Ein sehr lesenswerter Abschnitt, die Darstellung der vielen, oft wilden Streiks beantwortet deutlich die eingangs formulierte Frage. Erwähnenswert der Streik beim Gleisbaumaschinenhersteller Matisa 1976, in dem die Arbeiter die Spaltung in Schweizer und Migranten auch "über den Streik hinaus" überwinden konnten.

Dabei kommt er zu einem Fazit, das quer zu dem steht, was sonst im Buch behauptet wird: "Die Gründe für erfolgreiche, wie auch für gescheiterte oder fehlende Arbeitskämpfe liegen [...] tiefer, als der schematische Mythos von der grundsätzlich 'kämpferischen Basis' und der 'verräterischen Führung' vortäuscht." (S. 168) Auch wenn das im Folgenden leider nicht deutlich wird, er will das anhand der jüngsten Beispiele in Bellinzona, Deiswill und der INNSE in Italien zeigen.

Der unbefristete Besetzungsstreik gegen die Umstrukturierung der Bahnunterhaltswerkstätte in Bellinzona konnte einen Großteil der Bevölkerung miteinbeziehen. Die Arbeiter organisierten nicht nur Demos, Kundgebungen, Konferenzen und Geldsammlungen, sie gingen in die Gemeinden und Schulen, im Werk fanden Konzerte, Theater, Aktivitäten für Kinder und geführte Rundgänge statt, eine Demo mit 10.000 Menschen zog durch Bellinzona, die "größte [...] aller Zeiten" (S. 173). In einem Theaterstück verarbeiteten die Frauen die Streikerfahrung, "die andere Hälfte des Widerstands" (Selbstbezeichnung, S. 172) ging selber in die Öffentlichkeit.

Nach einem Monat Streik waren die Pläne zurückgezogen und "die Macht im Betrieb" lag "noch immer völlig in den Händen" der Arbeiter: Alle Entscheidungen, u. a. Überstunden, müssen mit dem Streikkomitee abgesprochen werden; und dieses wiederum kann jederzeit Betriebsversammlungen einberufen.

Keine drei Monate später beginnt der Kampf bei INNSE in Mailand, von dem ein Arbeiter sagt, sie hätten von Bellinzona gelernt, "wie man Propaganda macht" (S. 174). Ein intensiver, länderübergreifender Erfahrungsaustausch führt zum zweiten erfolgreichen Abwehrkampf in kurzer Zeit. Die INNSE-Arbeiter wurden wie ihre Schweizer Kollegen zum Symbol für "die Selbstermächtigung der Arbeitskämpfe, die unkontrolliert überall aufflammten" (S. 180).

Zu Deisswil hatten wir in den letzten Wildcats eine Buchbesprechung und eine Antwort der UnterstützerInnengruppe, die dieses Problem diskutieren. Wie im Österreich-Beitrag auch hier wieder der Konjunktiv, diesmal ein Arbeiter selber: "Wir hätten viel radikaler vorgehen sollen: Eben auch gleich vom ersten Tag an die Bude zu blockieren [...]. Das wäre sicher gut gewesen." Nicht nur für die DeisswilerInnen "ist diese Erkenntnis zu spät gekommen"! (S. 189)

Als "wirksame Waffe" erscheinen Thomann Besetzungen, weil sie "das Allerheiligste der bürgerlichen Legalität beiseite schieben: das Privateigentum an Produktionsmitteln" (S. 181). Dabei beschwört er die Ideologie der Arbeiterselbstverwaltung.

Deindustrialisierung und ArbeiterInnenwiderstand in Serbien

Eingangs beschreiben Milenko Sreckovic und Ivan Zlatic, wie Arbeiterselbstverwaltung und Arbeiterräte als Antwort auf die Krise der stalinistischen KPJ von oben angeordnet wurden. Allerdings hatten die ArbeiterInnen ein gewisses Mitbestimmungsrecht und ein "ausgeprägtes Bewusstsein über Gemeineigentum" (S. 196), weil die Selbstverwaltung auf Betriebsebene die ArbeiterInnen über Investitionen u. a. im Gesundheits- und Sozialbereich entscheiden ließ, wenn sie dafür einen Teil ihres Lohns abgaben. In den 1960ern kam es zu Protesten von ArbeiterInnen und StudentInnen gegen die "rote Bourgeoisie".

Aber "erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre haben sich die Streiks politisiert" (S. 198). Ende der 80er kam es zu "Hunderten von Streiks" mit Schwerpunkt im heutigen Kroatien. Die Kämpfe im Bau-, Metall- und Bergbausektor "verbreiteten eine klassenkämpferische Atmosphäre", der Einsatz von Militär sei "diskutiert" worden (S. 199) tatsächlich gibt es Berichte über Panzereinsätze gegen ArbeiterInnen.

Zwischen 1989 und 2001 wurde das Gemeineigentum der ArbeiterInnen enteignet. Anhand von vier Beispielen behandeln Sreckovic und Zlatic den Angriff des kriminellen Komplexes aus Unternehmern und Staat auf die Anteile der ArbeiterInnen, die über ein (Klein-)Aktionärssystem an den Firmen beteiligt sind. Sie wehren sich mit Streiks, Besetzungen und juristischen Mitteln gegen Schließungen und vorsätzliche Bankrotts. Im ersten Fall, Jugoremedija, erringen sie einen Sieg. Einer der Streikführer wurde 2007 zum Geschäftsführer und die Fabrik ist die einzige, von ArbeiterInnen-AktionärInnen geführte in Serbien. Die anderen Fälle sind bis heute nicht abgeschlossen, die ArbeiterInnen eines Elektrobetriebs, einer Bäckerei und des Eisenbahnherstellers Sinvoz warten schon seit Jahren auf ihre Löhne.

Dagegen organisieren die Belegschaften Solidarität und wehren sich überregional gegen Restrukturierungs- und Privatisierungspläne. Schade, dass die Autoren am Ende offen lassen, wo und ob die Klasse neue Kampfformen und Forderungen - nicht an, sondern gegen den Staat - entwickelt.


Unterstützen, hingehen ... und mitmachen!

Am Ende des Buchs kann man sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass die Autoren ihren roten Faden verloren haben. Die einzelnen Beiträge sind etwas zufällig, oft wird nicht klar, was sie sagen möchten. Wollen sie Selbstermächtigung an die Stelle des Klassenkampfs setzen und damit eine andere Vorstellung von Revolution anregen? Die seltsame Distanz zwischen den AutorInnen und den ArbeiterInnen, die sich durchs Buch zieht ("wir, die UnterstützerInnen" und "sie, die ArbeiterInnen"), ist jedenfalls gewollt. Ist dies Ausdruck eines gewerkschaftlichen Geistes, der sich an der (Selbst-)Definition gewerkschaftlicher (oder gewerkschaftsnaher) AktivistInnen orientiert? Mit der Kategorisierung von "die" ArbeiterInnen wird der Mythos vom einheitlichen Klassensubjekt wiederbelebt.

Ziel des Buchs sei die "Kämpfe im Sinne ihrer AkteurInnen zu beschreiben" (S. 12) - dabei verrennen die Autoren sich oft in Beschönigungen und beseitigen unangenehme Widersprüche in den Kämpfen. Wo drückt sich jetzt genau (eine zunehmende?) Arbeiterautonomie aus? Wo benutzen die ArbeiterInnen die Gewerkschaft nicht nur, sondern wenden sich von ihr ab, entwickeln eigene Zusammenhänge? Das Buch kann die eingangs erwähnten Behauptungen nicht belegen.

Das entkräftet aber nicht ihre Botschaft: die Kämpfe auf Arbeit unterstützen, hingehen! Dabei gilt es aber aufzupassen, dass wir uns nicht nur als "UnterstützerInnen" sehen, sondern ebenso als ArbeiterInnen, die im Ausbeutungsprozess feststecken und die Kämpfe nicht als heilige Kuh behandeln, deshalb mit unserer Kritik hinterm Berg halten.


Randnotizen

"Man kann nicht einerseits 'radikale Aktionen' versuchen wie die Demo in Deutschland oder zuletzt in Sarreguemines und gleichzeitig nach einem Boss rufen, der die Fabrik übernehmen soll, oder den Staat auffordern, Continental zu verstaatlichen. (...) Wenn man sich einmal auf die Erpressung durch die Bosse eingelassen hat, ist es sehr schwer, das wieder umzudrehen."

Es stimmt übrigens gar nicht, dass der Unternehmer die BSH-ArbeiterInnen nicht mehr gebraucht hätte; siehe Wildcat 74: Interview mit einem Arbeiter aus dem Hausgerätewerk


Literaturhinweise

Werner Seppmann: Krise ohne Widerstand, Berlin, 2010.

Rainer Thomann: Betriebsbesetzungen als wirksame Waffe im gewerkschaftlichen Kampf, eine Studie aktueller Beispiele, 2009.

Wildcat 90: Steven Colatrella - In unseren Händen liegt eine Macht, eine weltweite Streikwelle ...

Wildcat 86: Das Ende des "Massenarbeiters" im Stuttgarter Raum.

Wildcat 84: Bossnapping und andere Vorkommnisse in Frankreich

Wildcat 82: Ägypten - Land am Nil, Land im Aufruhr

Wildcat 81: Wie machen wir's öffentlich?

Wildcat 89: Der geplante Tod einer Fabrik

Wildcat 90: Deisswil - Zum Verhältnis von UnterstützerInnen und ArbeiterInnen

Wildcat 61: Arbeiterklasse und Nationalismus in Jugoslawien, bzw. Materialiensammlung zum Krieg im Kosovo/Ex-Jugoslawien, http://wildcat-www.de/dossiers/krieg/nato99r.pdf

Raute

Buchbesprechung
Gegen die Arbeit
Über die Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936-38

Michael Seidman: Gegen die Arbeit. Über die Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936-38
Mit einem Vorwort von Karl Heinz Roth und Marcel van der Linden
Verlag Graswurzelrevolution, Münster 2011. 477 Seiten | 24,90 Euro.

Lange zirkulierte der Text auf Englisch im Nerz, erst in den letzten Jahren wurde er von kleinen linken Gruppen in andere Sprachen übersetzt und veröffentlicht. 20 Jahre nach Erscheinen der englischsprachigen Ausgabe ist Workers against Work von Michael Seidman im letzten Herbst nun auf Deutsch erschienen. Andreas Förster hat aus einer wilden Rohübersetzung von wildcat- und FAU-Leuten, die in einem Moment von Euphorie über die Entdeckung eines solchen Buches entstanden war und dann jahrelang brach lag, einen gut lesbaren und durch viele Hinweise ergänzten Text gemacht, der diskutiert werden kann.

Seidman legte seiner Dissertation, die er 1982 fertig stellte, eine Sozialgeschichte des Kampfs gegen die Arbeit schreiben vor, wie er sich in zwei bedeutenden Bezugspunkten der Linken darstellte: der Revolution in Spanien 1936/1938 und den Fabrikbesetzungen im Mai/Juni 1936‍ ‍in Frankreich, die zur Volksfront-Regierung führten. Er beschreibt ein massenhaftes und kollektives Arbeiterverhalten, das die "Lockerungen" des Fabrikregimes dazu benutzt, das Arbeitstempo zu reduzieren, sich mehr freie Zeit zu nehmen, gegen Akkordarbeit und Überstunden zu kämpfen. Darin wurden die ArbeiterInnen zum Teil von "ihren" Gewerkschaften unterstützt, zum Teil unterliefen sie deren Ziele durch ihr Verhalten. Ein Großteil der ArbeiterInnen in Barcelona war laut Seidmans Untersuchung nicht zu Opfern in Form von Mehrarbeit und Lohnverzieht bereit, um die Republik zu verteidigen; Fehlzeiten, Krankmachen, Sabotage nahmen zu. In Paris führte die von der Volksfront-Regierung eingeführte Verkürzung der Arbeitszeit (freies Wochenende und bezahlter Urlaub) und Umverteilung der Arbeit an die Arbeitslosen nicht dazu, dass die ArbeiterInnen sich aus Dank dafür mehr anstrengten: Die Produktivität sank just in den Jahren, als Frankreich gegen Deutschland aufrüsten wollte. Doch der letzte Generalstreik 1938 ging verloren, die Arbeitszeit wurde wieder erhöht, die aufrührerischen ArbeiterInnen entlassen.

Seidman stützte sich bei seiner Untersuchung der materiellen Bedingungen in der Produktion vor allem auf Archivmaterial: Zeitungsartikel, Propaganda-Plakate, interne Wirtschaftsberichte, Unternehmerpresse usw. Er belegt damit, dass der Widerstand gegen die Arbeit die gesamten 30er Jahre hindurch anhielt. Unter Linksregierungen verstärkte er sich, während die Repression der auf sie folgenden Regierungen ihn eindämmte, aber nie beseitigen konnte. Er gehörte zur Kultur der Arbeiterklasse. Seidman bezeichnet diese eher individuellen und verborgenen Kampfformen als Klassenkampf.

Sein Fazit ist, dass die Revolution bzw. Volksfront in Spanien wie in Frankreich nicht an äußeren Umständen oder Auseinandersetzungen innerhalb der Volksfront gescheitert sind, sondern schlicht und einfach am Unwillen der Arbeiter zu arbeiten. Die Schuld für die Diskrepanz zwischen den ArbeiterInnen und "ihren" Gewerkschaften gibt er dem "Produktivismus" der Arbeiterparteien an der Macht.

Kritik des Produktivismus

Im ersten Teil des Buches über Barcelona wird dargestellt, wie sich die Regierung und insbesondere die Gewerkschaften UGT und CNT dem Problem stellen, in der Situation des Bürgerkriegs die Produktion aufrechtzuerhalten und die Betriebe weiterzuführen, die zum Teil von ihren Besitzern verlassen wurden. Hier bewegen sie sich im Widerspruch, einerseits materielle Verbesserungen für die ArbeiterInnen zu erwirken, andererseits aber von denselben ArbeiterInnen angesichts der verheerenden Versorgungslage Mehrarbeit zu fordern. Der Autor übt insbesondere Kritik an den gesellschaftlichen Utopien des Anarcho-Syndikalismus, die sich in den städtischen Agglomerationen in ihrer Technikbegeisterung kaum von kommunistischen oder sozialdemokratischen der damaligen Zeit unterscheiden: die Vision einer Arbeitsgesellschaft, in der die ArbeiterInnen ein geachtetes und auskömmliches Leben führen, in der sie in guten Wohnungen leben und sich von ihrem Lohn ein privates Auto kaufen können.

Dass ausgerechnet die CNT in diese Rolle kam, führt Seidman auf die "Rückständigkeit" der Bourgeoisie in Spanien zurück, die "ihrer Aufgabe", der Entwicklung des Kapitalismus durch Investitionen und Rationalisierung der Produktion, nicht nachgekommen war, sondern in einem autoritär und mit der katholischen Kirche stark verquickten Staat von ihrer Rente lebte. Die "modernen" Industrien waren sämtlich in der Hand von ausländischen Kapitalisten - was auch das Beharren der Anarchosyndikalisten auf einer "nationalen" industriellen Basis erklärt. So machte sich auch die CNT oder Teile davon zum Fürsprecher moderner Produktionsmethoden und einer "wissenschaftlichen Betriebsführung", sprich Taylorismus. Sie sahen darin die einzige Möglichkeit, in Spanien eine moderne Ökonomie zu entwickeln, die die Versorgung der Bevölkerung sicherstellt und verbessert. Erstes Anliegen war aber natürlich, den Bürgerkrieg zu gewinnen. Die Akkord-Arbeit war abgeschafft worden, aber die Mehrheit der ArbeiterInnen arbeitete nicht freiwillig mehr. Als Appelle allein nicht halfen, um das Produktionsniveau aufrechtzuerhalten, griffen die Gewerkschafter in der Rolle der Betriebsleiter bald zu finanziellen Anreizen, wie sie auch in der Sowjetunion üblich geworden waren.

Frankreich war aber im Gegensatz dazu kein rückständiger Kapitalismus, hier gab es eine entwickelte Industrie, u.a. Fahrzeug- und Flugzeugbau. Die spontane Bewegung der Betriebsbesetzungen im Mai/Juni 1936‍ ‍hatte Millionen von ArbeiterInnen erfasst, die die Arbeit niederlegten und aus ihren Produktionshallen für mehrere Wochen Festsäle machten, in denen gegessen, getrunken und getanzt wurde.

Am 4. Juni trat die erste Regierung Blum an ein Bündnis der linken Parteien mit der aufgeklärten Bourgeoisie - und leitete eine Reform der Arbeitsbeziehungen ein: sie gestand den ArbeiterInnen das Recht auf Streik und die Wahl von Gewerkschaftsvertretern in den Betrieben zu. Die Arbeitszeit wurde auf 40 Stunden verkürzt, um Arbeitslosen Arbeit zu verschaffen. Gleichzeitig wurden Betriebe verstaatlicht, um in größeren Einheiten und mit staatlichen Geldern eine effektive Rüstungsindustrie aufzubauen.

Die Einführung des langen Wochenendes und von bezahlten zwei Wochen Urlaub machte "Produzenten" zu "Konsumenten". Als "produktivistisch" kritisiert hier Seidman, dass die offizielle gesellschaftliche Utopie dennoch auf die Arbeit ausgerichtet blieb - und die Gewerkschaft CGT dies mittrug: die autogerechte Stadt, die räumliche Trennung von Produktion und Reproduktion und von "Freizeit" als bewusst gestaltete Zeit, die der körperlichen und geistigen Ertüchtigung dienen soll.

Die Hoffnungen des liberalen Bürgertums auf die Delegierten als stabilisierende Kraft in den Fabriken wurden jedoch zerstört. Die "Grundeinstellung" der Pariser Fabrikarbeiter war "gegen die Chefs", wer das Arbeitstempo erhöhte und die Fabrikdisziplin durchsetzte, galt als Faschist. Statt unter den verbesserten Bedingungen auch besser zu arbeiten, führten zahlreiche ArbeiterInnen einen wie Seidman es nennt - "Guerilla-Krieg gegen die Arbeit": Boss napping, Fernbleiben von der Arbeit, früher nach Hause gehen, Krankmachen, Sabotage-Aktionen. Die Arbeitsproduktivität ging zurück - während zahlreiche ArbeiterInnen zusätzlich eingestellt wurden. Der symbolische Gipfel dieses Arbeiterunmuts war zweifellos die nicht rechtzeitige Fertigstellung des Arbeiterpavillons für die Weltausstellung 1937, der das fortschrittliche Bündnis feiern sollte.

Die politischen Auseinandersetzungen waren laut Seidman den meisten ArbeiterInnen ziemlich egal. In Barcelona zeigten sie wenig Engagement an der Front wie im Hinterland, in Paris nutzten sie die entspanntere Situation und arbeiteten weniger. In beiden Ländern traten sie zwar massenhaft den Gewerkschaften bei, um ihre neuerworbenen Rechte abzusichern. An den Versammlungen nahm aber immer nur eine Minderheit teil. Es etablierte sich eine Macht der Delegierten, die die Personalpolitik der Betriebe kontrollierten. Während diese in Frankreich ihre erste Priorität in der Verteidigung der 40-Stunden-Woche statt der Aufrüstung gegen Deutschland sahen und mit ihrer Führung in Konflikt gerieten, sah sich die CNT in Barcelona schließlich genötigt, Kampagnen gegen "Parasitentum" und Trunkenheit zu führen.

"Arbeit ist der Fluch der trinkenden Klasse"

In einem Text von 2011 über die "Wechselfälle" seines Buches(1) erzählt der Autor, wie er als junger Wissenschaftler durch seinen Studienaufenrhalr in Paris 1979-82 mit der linksradikalen Szene in Kontakt kam, die die Arbeitsverweigerung kultivierte. Über sie bekam er Zugang zu klassischen französischen Texten, die die Arbeiter nicht als potentiell perfekte Produzenten sehen, sondern als widerständisch, die das Recht auf Faulheit propagierten. Erst 1968 wurde diese Haltung in der Parole der Situationisten "Arbeitet niemals!" wieder offensiv vertreten und fiel auf fruchtbaren Boden. Dies veränderte nachhaltig Seidmans Blick auf die Arbeiterklasse. Mit dem neu gewonnenen Schlüssel untersuchte er nun die Jahre 1936-38 in Barcelona und Paris - und zwar nicht als Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Fraktionen der Linken, sondern im Hinblick auf die Verhältnisse in der Arbeit bzw. das Verhalten der ArbeiterInnen.

Sein Resümee legt nahe, dass er eine "Arbeiterdemokratie" am Arbeitsplatz (Arbeiterkontrolle der Produktion) nicht für möglich hält und dass Industriegesellschaften eines starken und repressiven Staates bedürfen, der die ArbeiterInnen zum Arbeiten bringt.

Damit setzte er sich zwischen alle Stühle der akademischen und marxistischen Labour History. Er widersprach sowohl denen, die behaupteten, die ArbeiterInnen hätten sich mit dem Fabriksystem ausgesöhnt, als auch einer Arbeitergeschichtsschreibung, die den anhaltenden Widerstand gegen die Arbeit gerne ignoriert oder auf "Rückständige" oder "Parasiten" reduziert hatte - weil sie ihn nicht erklären konnte. Denn er widersprach ja ihrer Sichtweise von einer Arbeiterklasse, die sich selbst neu erschafft durch Arbeit. Ebenso handelten und handeln die Organisationen der Arbeiterbewegung, wenn sie einerseits Reduzierung der Arbeitszeit, der Vorgaben usw. fordern, andererseits den gesellschaftlichen Konsens zur Arbeit nicht antasten oder gar eine Verherrlichung der Arbeit betreiben, die die Menschen adle. Damit konnten sie sich lange Zeit zum Vermittler zwischen einer materialistisch handelnden Arbeiterklasse, die vor allem weniger arbeiten und ihren Konsum ausweiten wollte, und einer auf industriellen Fortschritt ausgerichteten Bourgeoisie machen. Seidman belegt in seiner Untersuchung, dass die wirklich in den Parteien oder Gewerkschaften Engagierten eine Minderheit waren, die sich mit der Gleichgültigkeit der großen Masse und ihrem "falschen Bewusstsein" auseinandersetzen musste. Diese Gleichgültigkeit stärkte aber auch die Tendenz zur Zentralisierung und Bürokratisierung der Apparate.

Im Vorwort zur ersten Ausgabe des Buches 1991 fasst Seidman seine Erkenntnisse zusammen. Er wendet sich nicht nur explizit gegen jeden fortschrittszentrierten ("marxistischen") Blick auf die Geschichte, die den Übergang von der "Klasse an sich" zur "Klasse für sich" postuliert oder ein sich entwickelndes einheitliches "Klassenbewusstsein" am Werk sieht. Darüber hinaus wirft er auch den Anarchosyndikalisten, die diese Sichtweise nicht teilen, eine Ideologie der Arbeit und der wirtschaftlichen Entwicklung vor.

Dem "Arbeitsplatz-Utopismus" (bei dieser Formulierung ist unklar, ob er meint, dass die Arbeiter einen Arbeitsplatz wollen, also ein sicheres Einkommen, und auf die Arbeit gerne verzichten, oder eine Utopie, die auf der Arbeit beruht) stellt er eine utopische Dimension des Widerstandes entgegen, die zwar über keine klare Zukunftsvision des Arbeitsplatzes oder der Geschichte verfügte, aber die Reduzierung der Lohnarbeit auf ein Minimum. wollte. Er sagt, der Widerstand der Arbeiter könne nicht durch die Arbeiterkontrolle der Produktion beseitigt werden, sondern nur durch Abschaffung der Lohnarbeit selbst.

Eigenleben eines Buchs

Nachdem die offizielle Wissenschaft mit seinem Werk nicht viel anzufangen wusste, fand das Buch in Kopien und Netz-Versionen im linken Milieu Verbreitung - und zwar vor allem außerhalb der USA (die erste Übersetzung war eine ins Japanische!). Dort hat es unabhängig von seinem Autor ein Eigenleben entfaltet.(2) Diese Leute hätten eben besser als die Akademiker begriffen, dass die "Arbeiterbewegung" häufig eine Anstrengung der Basis war, um dem Arbeitsplatz und einer verhassten Arbeit zu entkommen, kommentiert Seidman heute. Im kurzen Vorwort zur deutschen Ausgabe von 2011 weist er darauf hin, dass die Kritik des "Produktivismus" auch helfe, den Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa oder den Übergang der chinesischen Regierung zu intensiveren Ausbeutungsformen zu verstehen.

Befreiung von der Arbeit statt Befreiung der Arbeit

Zugleich distanziert er sich aber auch ein Stück weit von seiner damaligen Herangehensweise. Es sei ihm in seinem Buch nicht gelungen, die "Geschichte von unten" auf eine solidere Grundlage zu stellen. Gegen die damals vorherrschende Sozialgeschichtsschreibung habe er "den kollektiven Charakter des Widerstands gegen die Arbeit" überbetont und dabei die "individualistische Grundlage vieler dieser Verweigerungen" vernachlässigt. Verstärkt worden sei dieser "blinde Fleck" durch die "utopische Perspektive", aus der heraus er das Thema behandelt habe.

Statt auf eine kollektive Utopie setzt Seidman heute eher auf den Individualismus oder die "gesunde Skepsis der einzelnen (!) Lohnabhängigen" gegenüber Ideologien, die sie überzeugen wollen, sich für eine Sache zu plagen - wobei er in einer Reihe "Nationalismus, Faschismus, Sozialismus, Kommunismus und Anarchosyndikalismus" anführt. Der einzig unbesiegbare Widerstand gegen Diktatur liege beim Individuum.(4)

So fällt das Buch, das fast 30 Jahre nach seiner Abfassung nun auf Deutsch vorliegt, ein wenig aus der Zeit. Geschrieben mit dem drive der 1970er und 1980er Jahre, ist es auch ein Rückblick auf die damalige linksradikale Diskussion. Vom rebellierenden Individuum auszugehen, hat gut funktioniert gegen starke Parteiapparate, die den Arbeiterkampf eingeschlossen haben, oder gegen einen dominanten Arbeiterreformismus. Aus der Addition von tatsächlich verbreiteten "subversiven" Verhaltensweisen versuchte man, ein kollektives Klassenverhalten zu konstruieren - wobei die Gefahren, die darin lagen, schon früh sichtbar waren. Nach dem Zusammenbruch des Gegners standen dann die Individuen alleine da, von ehemals "subversiven" Verhaltensweisen blieb häufig nur Rückzug ins Private und manchmal Abzockermentalität übrig. Der Neoliberalismus konnte mit seinen "Angeboten" direkt an dieser Vereinzelung ansetzen und die kapitalistische Restrukturierung einleiten: Wenn Ihr nicht arbeiten wollte, könnt Ihr Euch ja selbständig machen, mit Aktien spekulieren...

Seidmann sieht das Problem durchaus, wenn er heute schreibt, dass die kollektive Interpretation des Widerstands gegen die Arbeit in den 1990er Jahren neu überdacht worden sei. Mit der Zerstörung der auf Arbeit basierenden Solidarität habe der Kapitalismus aus dem Lohnarbeiter ein konsumeristisches Individuum in einer kapitalistischen Gesellschaft gemacht. Aber wie kann vom Individuum aus Solidarität entwickelt werden?

Diese Frage stellen sich Gilles Dauvé und Karl Nesic in ihrem Text Arbeiter verlassen die Fabrik.(3) Auch wenn uns ihre Lösung nicht überzeugt, halten sie zumindest am zentralen Problem fest: wie kann sich in der heutigen Situation ein kollektives Projekt entwickeln?

Lesen!

Gegen die Arbeit enthält eine Fülle von interessantem Material - vor allem zu den Betriebsbesetzungen in Paris gibt es nichts Vergleichbares in deutscher Sprache. Es zerstört Mythen - das ist immer gut! - und provoziert bis heute alle diejenigen, die sich einbilden, "man" könne den Kommunismus errichten und die Arbeiter würden einfach weiter arbeiten und die Dinge produzieren, die die Gesellschaft angeblich benötigt. Aus Fabrikarbeit wird nicht einfach "selbstbestimmte Tätigkeit", wenn sie "selbst verwaltet" wird. Für ArbeiterInnen bedeutet "Revolution", sich vom ewigen Druck der verhassten Arbeit zu befreien. Alle Projekte von Arbeiterkontrolle der Fabrik, Selbstverwaltung der Produktion usw. mussten und müssen sich diesem Problem stellen.(5)

Das Buch behandelt eine Schlüsselepoche der linken Geschichte und stellt Fragen, die wieder hochaktuell sind. Seine Stärke liegt darin, dass er tatsächlich eine historische Untersuchung angestellt hat. Die Antwort darauf, wie eine soziale Revolution aussieht, in der die Abschaffung der Arbeit und die Entfaltung der Persönlichkeit im Vordergrund steht, sollten wir uns nicht von Michael Seidman erwarten. Wie es zu einem kollektiven Widerstand kommen kann, ist nicht (mehr) seine Fragestellung. Das müssen wir schon selbst diskutieren.

Michael Seidmans Redemanuskript von den Veranstaltungen im November, in: Graswurzelrevolution 363, www.graswurzel.net/363/seidman.shtml alternativ: http://www.linksnet.de/de/artikel/27064


Anmerkungen

(1)‍ ‍Michael Seidman, The Strange History of Workers against Work". The Vicissitudes of a Book, Echanges, September 2011. In diesem Text zählt er auch die gesamte akademische und linke Kritik an seinem Buch seit seinem Erscheinen auf.

(2)‍ ‍... worüber Seidman allerdings nicht nur glücklich war. Von einer sich als "kommunistisch" bezeichnenden Gruppe in Frankreich verlangte er, sich als "Kommunisten" ernst zu nehmen und den ins Französische übersetzten Text kostenlos zu verteilen. Andernfalls wolle er die Rechte einen anderen "weniger ausbeuterischen" Verlage geben... (a.a.O.)

(3)‍ ‍Gilles Dauvé/Karl Nesic, Arbeiter verlassen die Fabrik, Beilage zu Wildcat 68. Schon in der Broschüre Lieben die Arbeiter die Arbeit? hatten sie thematisiert, dass mit der Zersetzung der sozialistischen Arbeitsethik durch die Arbeiterkämpfe in den 1960er/70er Jahren mit der "Arbeiteridentität" auch das Verständnis vom unversöhnlichen Gegensatz zwischen Arbeitern und Kapital gefallen sei. Es habe zwar keinen Sinn, Bewusstsein vor dem Handeln zu schaffen, aber für den wirklichen Durchbruch brauche es ein Mindestmaß an Glauben daran, dass die beteiligten Menschen in der Lage sind, die Welt verändern, dass sich die Menschen selbst als Akteure der geschichtlichen Veränderungen begreifen und danach zu handeln versuchen. (Gilles Dauvé/Karl Nesic, Lieben die ArbeiterInnen die Arbeit?, Beilage zu Zirkular 65 noch lieferbar, alternativ auf www.wildcat-www.de.

(4)‍ ‍Bisher wurde wenig über das Buch diskutiert. In der syndikalistischen Website Barrikade aus Hamburg gab es einen aufbrausenden Aufruf zur Kritik von Seidmans Buch. Die Beiträge dazu versuchen aber v.a., die eigene Strömung in Schutz zu nehmen.
http://syndikalismus.wordpress.com/2011/11/05/gegen-die-arbeit-aufruf-zur-diskussion/

(5)‍ ‍Ganz aktuell gibt es den Vorschlag, die pleite gegangene Drogeriekette Schlecker in eine Kooperative überzuführen. Vgl. auch die Begeisterung über die Fabrikation des "Strike Bike" vor fünf Jahren.

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Quelle:
Wildcat 92 - Frühjahr 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. April 2012