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WILDCAT/032: Leben in der Krise - soziale Kämpfe in Italien


Wildcat 96 - Frühjahr 2014

Leben in der Krise: Soziale Kämpfe in Italien



In Italien werden wieder Häuser besetzt und zwar vor allem in den großen Städten, wo kaum bezahlbare Mietwohnungen zu finden sind. Die anhaltende Krise hat die Situation verschärft. Landesweit werden Fabriken, Klein- und Mittelbetriebe von der Krise weggefegt. Junge Leute finden keine Arbeit. Wer die Miete nicht bezahlen kann, wird gekündigt und geräumt. Überall bilden sich Initiativen, die gegen diese Räumungen vorgehen.

Die Bewegung sucht Anschluss an die großen Kämpfe der 70er Jahre, doch die "Wohnungsfrage" hat sich verändert. In den neoliberalen Zeiten wurden individuelle Lösungen vorrangig: Wer es sich leisten konnte, kratzte alles Geld zusammen (z. B. eine Abfindung), nahm einen Kredit auf und kaufte sich eine Wohnung, weil der Bankkredit günstiger war als die Miete und man selbst Eigentümer wurde.

In der Kampagne geht es viel um "Rechte", zuweilen nimmt sie auch den Charakter eines "alternativen Sozialstaats" an (die radikale Linke besetzt Häuser und besorgt den MigrantInnen Wohnraum). Doch die Dinge scheinen sich hier durch die Politisierung vieler MigrantInnen zu ändern. Trotz der starken Beteiligung an landesweiten Mobilisierungen (70.000 in Rom ohne Gewerkschaften und Parteien) bleiben die Kämpfe bislang von Arbeit und Produktion getrennt - bis auf die Aktionen im Logistiksektor. Das sind die wenigen Punkte, wo mit großer Unterstützung von außen offensive Kämpfe geführt werden. Wir haben einen italienischen Genossen, der in beiden Bereichen aktiv ist, um einen Artikel gebeten. Seine Antwort: "Ich bin von der Tragfähigkeit dieser Bewegung überzeugt. So etwas habe ich im Laufe meines politischen Lebens noch nie erlebt. Ich glaube, dass es Grund für Optimismus und Enthusiasmus gibt, auch wenn die Bewegung mit vielen Problemen zu kämpfen hat (die man hoffentlich in meinem Text erahnen kann)."


Im Laufe der 60er und 70er Jahre entwickelte sich in den Arbeitervierteln in Italien parallel zu den Kämpfen in der fordistischen Fabrik ein Zyklus von sozialen Kämpfen um Wohnungen und Zugang zu Strom und Heizung. Die Industriestädte im Norden, deren Fabriken ihre Tore für die Neuankömmlinge aus dem Süden des Landes öffneten, erfuhren durch den Bau von neuen Wohnvierteln an der Stadtgrenze tiefgreifende städtebauliche Veränderungen. Nicht selten schliefen neu angekommene Arbeiter in Bahnhöfen oder in überfüllten möblierten Zimmern, für die sie exorbitante Mieten an kleine und große Immobilienspekulanten zahlten. Da es keine Lösung für das Wohnungsproblem gab und das Immobilienkapital sich einen guten Teil des Lohns der Arbeiter aneignete, entstand eine selbstorganisierte Bewegung, die zahlreiche Wohnblocks und Wohnungen besetzte. Sie zwang die Zentralregierung wie auch die Kommunalverwaltungen dazu, Sozialwohnungen zu errichten und per Gesetz Miethöhen vorzuschreiben, die die Preise auf dem Immobilienmarkt dämpften. Auf die gleiche Weise wurden von Bürger- und Stadtteilkomitees in Zusammenarbeit mit Beschäftigten der öffentlichen Versorgungsbetriebe Kampagnen zur eigenmächtigen Minderung der Rechnungen organisiert, um die Preise zu senken, die proletarische Familien für Strom und Gas bezahlen.

Die Spannungen bei der Versorgung mit Wohnraum haben trotz des Niedergangs der Arbeiterkämpfe seit den 80er Jahren keineswegs nachgelassen. Es gab in den folgenden Jahrzehnten verschiedene aktive Komitees für das Recht auf Wohnraum, insbesondere in den Metropolen Mailand und Rom, wo ein wahrer "Wohnungsnotstand" ausgebrochen ist - insbesondere seit den 90er Jahren bzw. seit dem Beginn der Einwanderungsbewegungen aus Osteuropa und anderen Kontinenten. In den autonomen Kämpfen der 70er Jahre wurden Wohnblöcke besetzt, die heute noch gegen Räumungen Widerstand leisten. Inzwischen sind zig andere Wohnraumbesetzungen hinzugekommen, in denen nun proletarische MigrantInnen eine wichtige Rolle spielen. Die neuen Besetzungen stellten sich der Spekulationsblase im Immobiliensektor entgegen, als Letztere gerade ihren Höhepunkt erreichte - dies geschah vor dem Hintergrund, dass die Mietpreisbindung auslief (Equo Canone), ehemalige Industriegelände in Geschäfts- und Bürogebäude umgewandelt wurden, öffentlicher Wohraum privatisiert wurde und Tausende Wohnungen leerstanden. Die etablierten Parteien garantierten die Aufteilung des Bodens unter den Seilschaften der Immobilienbanken und verschafften der privaten Bauwirtschaft mithilfe von Nutzungsänderungen für innerstädtischen Flächen die Möglichkeit für Neubauten. Gleichzeitig wurde der Wohnungsbau durch Preisbindungen reduziert, der nun von privaten Einrichtungen Verwaltet wird. In deren Verwaltungsräten sitzen politisch nominierte Manager, von denen einige den Ruf haben, zur 'Ndrangheta zu gehören, wie zum Beispiel in der lombardischen Wohnungsbaugesellschaft Aler. Dort wurden An- und Verkauf der Sozialwohnungen mit riesigen Finanzlöchern gerechtfertigt, die durch jahrelange Misswirtschaft und Korruption aufgetreten waren. Zugleich standen tausende öffentliche Wohnungen leer, oft in verwahrlostem Zustand. Um einen Wohnungsnotstand abzupuffern, von dem zehntausende Familien betroffen waren - geräumt oder in Zeltstädten an den Peripherien der großen Städte improvisierten die Kommunalverwaltungen Zwischenlösungen, indem sie Heime oder Aufnahmezentren einrichteten, ohne sich jedoch an die Lösung des Problems zu machen.

Die Anspannung im Wohnungssektor war also schon stark, als 2007 die Subprime-Blase platzte. Die darauffolgende Wirtschaftskrise und die Kürzungen im Staatshaushalt, die von der Europäischen Zentralbank und dem IWF den willigen Regierungen von Monti und Letta verordnet wurden, haben die alltäglichen Lebensbedingungen von Millionen Menschen verschlechtert. Die Krise hat definitiv das Modell des fordistischen Sozialpakts begraben, der aus der Vermittlung zwischen Arbeiterkämpfen und der Notwendigkeit des kapitalistischen Kommandos über die gesamte soziale Reproduktion entstanden war. Ein Grundbedürfnis wie das nach einer Wohnung wurde nun vollständig privatisiert und zur Ware gemacht und der Finanzsphäre übertragen. Die Antworten der Institutionen auf den sogenannten "Wohnungsnotstand" zielen nicht auf die Befriedigung der Bedürfnisse tausender Gekündigter und Wohnungsloser, sondern auf die Wiederaufnahme der Verwertungsprozesse da, wo der Mechanismus der Rente blockiert ist: Abgaben auf die Miete für die Wohnungsbesitzer; Aufbau von Barackensiedlungen ähnlich denen nach Erdbeben; individuelle Verschuldung. Die Unterordnung der Wohnungspolitik unter die Erfordernisse des Kapitals hat zu einer Eskalation von Räumungen und Pfändungen geführt. Mit dem Verlust der Arbeit oder dem Druck auf die Löhne waren zahllose Familien nicht mehr in der Lage, den Wohnungskredit oder die Miete zu bezahlen, die sie vor Beginn der Krise ausgemacht hatten. Die Gerichte sind von Klagen wegen Zahlungsverzug lahmgelegt. Der allgemeine Verarmungs- und Homogenisierungsprozess der Lebensbedingungen nach unten wird von Dramen, Verzweiflungstaten und zahlreichen Selbsttötungen begleitet - individuellen "Lösungen" kollektiver sozialer Probleme.

Um eine Vorstellung vom Umfang zu geben: 2007, vor Beginn der Krise, gab es 43.000 Räumungsgesuche, die Zahl stieg auf 68.000 im Jahr 2012. Im selben Zeitraum hat sich die Zahl der tatsächlich durchgeführten Räumungen von 22.000 auf 27.000 erhöht. Die angespannte Wohnungssituation konzentriert sich tendenziell auf die Regionen in Mittel- und Norditalien. Allein auf die Lombardei, wo 16 Prozent der italienischen Bevölkerung wohnen und wo 20 Prozent des BIP produziert werden, entfallen 33 Prozent aller Räumungsgesuche in Italien, 25.000 von insgesamt 70.000. Dies hängt hier stark mit der steigenden Arbeitslosigkeit zusammen: Von 3,4 Prozent im Jahr 2007 kletterte sie 2012 auf 7,9 Prozent. Im selben Zeitraum haben sich parallel dazu die Räumungen verdoppelt.

Die Bewegung in den Stadtteilen und Städten hat deshalb Beratungsstellen für das Recht auf Wohnraum geschaffen und zusammen mit den von Räumung bedrohten Bewohnern oder Wohnungslosen eigene Komitees aufgebaut. Seit Jahren Vergeht nun kein Tag, an dem man nicht vom kleinen Provinznest bis ins Großstadtquartier der Metropole Pickets gegen Räumungen sieht, mit denen die Komitees den Gerichtsvollzieher in Polizeibegleitung physisch daran hindern, die Zwangsräumung durchzuführen. In Städten, in denen es Widerstand gegen Räumungen gibt, sinkt die Zahl der ausgeführten Räumungen, wie zum Beispiel in Mailand und Turin.

Der Wellenschlag des Klassenkampfs ist in den Besetzungen von Wohnungen sowie städtischen und privaten Wohnblocks spürbar, die aufeinander folgen, ohne sich um polizeiliche Räumungen zu kümmern, die häufig den Prozess der Wiederaneignung des gesellschaftlichen Reichtums unterbrechen. Die Bewegung protestiert systematisch gegen die öffentlichen Institutionen, von den städtischen Wohnungsämtern bis zu den Ministerien oder den Regionalregierungen. Dabei unterbrechen sie die normalen Arbeitsabläufe von Politik und Verwaltung, besetzen Büros, bauen vor den Palästen der Macht Zeltstädte von Wohnungslosen auf, ganz im Stil der spanischen Bewegung der Indignados.

Die anwachsende Bewegung findet eine solide Basis vor, ein Netz von bereits in den Stadtteilen agierenden Gruppen: die seit Jahren aktiven Koordinationen für das Recht auf Wohnraum; die Migrantenvereine mit ihren Erfahrungen der letzten Jahre aus den Kämpfen für Legalisierung und gegen die rassistische Politik der Gesetze Turco-Napolitano und Bossi-Fini; die Studentenkollektive als treibende Kraft gegen die Kürzungen der Regierung bei den Schulen und gegen die Gelmini-Reform der Universität, die sozialen Zentren der Stadtteile und die Basisgewerkschaften. In der Gegenüberstellung mit den bisherigen Kämpfen zeigt sich, welch riesigen Sprung die neue heterogene Klassenzusammensetzung gemacht hat. In Rom kämpfen an sogenannten "Aneignungstagen" mehrmals im Jahr ItalienerInnen und MigrantInnen aus unterschiedlichen Communities gemeinsam. Dabei besetzen sie an einem einzigen Tag zehn Wohnblocks. Die Hauptstadt ist sicherlich der fortgeschrittenste Punkt der Häuserbewegung. Hier geben unzählige Besetzungen von Wohnraum Tausenden von Leuten ein Dach über dem Kopf.

Besondere Bedeutung haben die Kämpfe von MigrantInnen und Asylsuchenden: Letztere halten in Turin seit einem Jahr vier Wohnblöcke im Olympischen Dorf besetzt. Dieses wurde für die Winterolympiade 2006 errichtet und danach aufgrund der Spekulation von Banken und Immobiliengesellschaften auf seine Umwandlung in ein Wohnviertel sich selbst überlassen. Die mehreren hundert BesetzerInnen haben auch mobilisiert, um Aufenthaltspapiere zu erhalten und die Turiner Stadtverwaltung in die Knie gezwungen. An ihrer Seite stehen Uni-Studenten, die sich wegen der Kürzung der Stipendien keinen Schlafplatz auf dem freien Markt mehr leisten können. Ausgehend von den Kämpfen der Studierenden gegen das Gelmini-Gesetz 2010 wurden von Turin bis Palermo und von Bologna bis Rom zahlreiche leerstehende Universitätsräume besetzt und in selbstverwaltete Studentenheime verwandelt, die auch Orte für politische Arbeitsgruppen sind, und zwar nicht nur für die Studierenden, sondern auch für junge prekär Beschäftigte.

Diese dienen nicht nur als Wohnraum, sondern auch für andere wichtige Dinge genutzt: Italienisch-Kurse für AusländerInnen, als Arbeitszimmer für Studierende, Beratungsstellen für das Recht auf Wohnraum, medizinische Volksambulanzen, Volxküchen, Komitees und Treffpunkte für den Stadtteil und Sporthallen.

Der Kampf für das Recht auf Wohnen ist also ein Werkzeug zur Neuzusammensetzung der Klasse, weil er Tausende verschiedener alltäglicher Widerstandshandlungen gegen die Austeritätspolitik miteinander verbindet. Der Kurs, den das landesweite Netz für das Recht auf Wohnen "abitare nella crisi" [Wohnen in der Krise], die Komitees gegen die Verwüstung der Landschaft und kämpferische Gewerkschaften im letzten Sommer eingeschlagen haben, ermöglichte den Aufbau einer gemeinsamen Mobilisierung für die landesweite Demo am 19. Oktober in Rom, deren Höhepunkt die Belagerung der Ministerien für Wirtschaft und Infrastruktur mit einer Zeltstadt war. Die Ablehnung des von der Troika erzwungenen spending review und des Fiskalpakts geht einher mit dem Nein zur Verschwendung öffentlicher Gelder und zur Plünderung der Umwelt (TAV, Muos [Satellitenkommunikationssystem der NATO auf Sizilien], Expo 2015).

"Die Austerität kippen mit einem einzigen Großprojekt: Wohnung, Einkommen und Würde für alle" war die Parole des Protestes in Rom im Oktober. Die Demonstration war sicherlich kein Blitz aus heiterem Himmel, sondern eine politische "Wette" der organisierten Netzwerke der Bewegung, Ergebnis eines beharrlichen, methodischen und manchmal aufreibenden Aktivismus.

Diese Anstrengungen haben den zersplitterten kämpfenden Klassensegmenten, die sich quasi unterirdisch in den letzten Jahren der Sparpolitik widersetzten, eine Neuzusammensetzung in einem autonomen politischen Raum ermöglicht rund um die Bewegung für das Recht auf Wohnen.

Man hat die Belagerung am 19. Oktober als eine Wette bezeichnet; heute scheint sie zumindest teilweise gewonnen, da sich der Protest danach in der Fläche verankert hat. Im Winter waren während einer landesweiten Aktionswoche vom 15. bis 22. Januar gemeinsame und koordinierte Kämpfe möglich: Pickets gegen Räumungen in ganz Italien; fünf große Demos mit Verkehrsblockaden in Rom gegen die Privatisierung des öffentlichen Nahverkehrs, alle in Verbindung mit dem Streik der Beschäftigten der Verkehrsbetriebe; darüber hinaus Blockaden der Transportarbeiter vor den Toren der Lagerhäuser von Granarolo in Bologna; dann die Belagerung des Kundenservice von Versorgungsunternehmen in Mailand, Brescia, Turin und Cremona, um ein Ende der Strom- und Gassperren bei säumigen Zahlern zu erreichen; schließlich ein Picket an den Kassen eines Supermarkts in Pisa, um Einkaufsgutscheine zu fordern und neue Besetzungen von Wohnraum in Turin, Mailand, Genua, Florenz, Rom und Neapel.

Die zahllosen verstreuten Konflikte in den Bergtälern, in den Außenbezirken der Großstädte, an den Logistikpolen - rund um die Verkehrsknotenpunkte wie Pilze aus dem Boden geschossen -, in den Fabriken, die verlagert werden sollen, sie alle sind Ausdruck einer neuen Klassenzusammensetzung, aus der heraus ein lang andauernder Stellungskrieg geführt und die offene Feldschlacht vermieden wird. Die Zusammensetzung schließt politizistische Abkürzungen ebenso aus wie den Blanko-Auftrag an selbsternannte Vertreter der Kämpfe. Sie begegnet dem Klammergriff der Krise lebendig und vielschichtig in den alltäglichen Kämpfen um die Reproduktion der Klasse und flüchtet sich nicht in Meinungskampagnen. Die Bewegung lehnt jegliche institutionelle Vermittlung klar ablehnt und will eine politische Schicht nicht dulden, die das Elend verwaltet.

Von den kleinen Dörfern des Valsusa, dem wichtigsten Kampf außerhalb der Städte ist ein Kampfschrei ausgegangen, der durchdrang bis zu den zergliederten und vielschichtigen Realitäten der Metropolen. Er schallt bis an die Grundmauern der Machtburgen in Rom, wo sein Widerhall zu einem einzigen und entschiedenen Schrei verschmilzt: "Que se vayan todos" [Sie sollen alle abhauen]. Niemand will sich mehr mit den Brosamen zufriedengeben, die barmherzig von den reich gedeckten Tischen einer immer deutlicher diskreditierten und unglaubwürdigen politischen Schicht gespendet werden. In diesem Sinn bedeutet "Einkommen" für die Bewegung heute, wie autonom sie nach ihren Bedürfnissen leben kann, den Anteil an gesellschaftlichem Reichtum, Gütern und Dienstleistungen, der dem Kapital entrissen und entzogen werden kann, und zwar auf dem Weg der direkten Aneignung. Der Antrieb geht von Teilen der Klasse aus, die allmählich und nach und nach anwachsen, da sich dem Kampf neue Segmente aus der von der Austeritätspolitik proletarisierten Mittelschicht anschließen.

Was die Möglichkeiten der Ausweitung der antagonistischen Bewegung angeht, so gibt es zwei interessante, zweifellos auf Teilaspekten beruhende Erfahrungen. Die erste ist auf Turin beschränkt und betrifft die Mobilisierung vom 9. Dezember. Hatte anfangs dazu die Sogenannte "Bewegung der Mistgabeln" aufgerufen, so hat sie sehr bald die Grenzen der kleinen Organisationen hinter sich gelassen, die zu den ersten Demonstrationen aufgerufen hatten. Sie hat sich autonom organisiert und radikale Protestformen gefunden - von Straßenblockaden bis zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Einige der am Protest beteiligten sozialen Sektoren (Markthändler, Kleinhändler aus den Vierteln, junge Proletarier aus der Peripherie) gehören zu denen, die am meisten von der Krise betroffen sind. Bei dieser Gelegenheit haben sie auf den Straßen der piemontesischen Metropole ihre Wut rausgelassen und eine erhöhte Bereitschaft zum Kampf bewiesen. Dass sich zumindest ein Teil der antikapitalistischen Bewegung von Turin für diese Proteste interessierte, machte eine Debatte in der ganzen Bewegung möglich: Ist es sinnvoll, sich auch in Bewegungen zu engagieren, die in aller Widersprüchlichkeit Unzufriedenheit artikulieren, die keinen eindeutigen Widerspruch zur kapitalistischen Gesellschaft formulieren?

Die zweite wichtige Gegebenheit ist die fortschreitende Umbildung der Beratungsstellen für das Recht auf Wohnen. Sie haben in letzter Zeit ihren Interessenradius von der Wohnungsfrage auf die Energieversorgung der Haushalte erweitert. Hier vollzieht sich einerseits ein natürlicher Prozess, da zahlreiche von Räumung bedrohte Familien außer der Miete auch die Strom-, Wasser- und Gasrechnungen nicht bezahlen können. Andererseits handelt es sich auch um einen wichtigen politischen Schritt, der den Kampf für neue Gruppen öffnet: spontane Aktionen, Belagerung und Besetzung von Kundenzentren der Energieversorgungsunternehmen; Protest gegen die Privatisierung der kommunalen Betriebe und die damit erzwungene Individualisierung der Bedürfnisbefriedigung; Protest gegen die Verwüstung der Landschaft durch Müllverbrennungsanlagen durch ebendiese privatisierten Entsorgungsbetriebe; Durchsetzung von Moratorien für Strom- oder Gasabschaltungen sowie von Sozialtarifen oder Gratislieferungen. All das sind Voraussetzungen für einen minimalen Lebensstandard.

Die Verwandlung der Mieterberatung in eine wirkliche soziale Beratung geht auch in die Richtung, die Spur der Neuzusammensetzung weiterzuverfolgen, die sich am 19. Oktober auf den Straßen Roms andeutete, wo "Teilbereiche" zusammentrafen, die mit unterschiedlichen Motiven und auf unterschiedliche Art Widerstand gegen die Austeritätspolitik leisten. Zur Vertiefung dieses Diskurses trägt sicherlich bei, dass sich an die Beratungsstellen für das Recht auf Wohnraum häufig ArbeiterInnen wenden, die mit ihren elenden Löhnen weder Miete noch Stromrechnungen bezahlen können. Reinigungskräfte von Subunternehmen, Landarbeitet, Verladearbeiter im Logistikbereich, um nur ein paar Beispiele zu nennen, allesamt Sogenannte working poor, die sich nicht darauf beschränken, ihre eigenen Wohnungen gegen die Räumung zu verteidigen, sondern sich auch am Ort der Arbeit selbst organisieren. Ein Versuch, diese sozialen und arbeiterorientierten Kämpfe miteinander zu verbinden, wird dort gemacht, wo die Beratungsstellen ein Treffpunkt für verschiedene Auseinandersetzungen werden. Das neue besetzte Zentrum Social Log in Bologna zum Beispiel entstand im Wunsch, die verschiedenen im Kampf engagierten Subjekte miteinander zu verbinden, und zwar gerade in dieser Stadt in der Emilia, die ein neuralgischer Punkt für die letzten Mobilisierungen der Transportarbeiter war. Die Verbindung zwischen sozialen Kämpfen und Arbeiterkämpfen muss aber noch vertieft werden: insbesondere in jenen Gegenden von Mittel- und Norditalien, in denen eine zunehmende Zahl von Wohnungsräumungen eine Folge von Arbeitslosigkeit durch Entlassungen und komplette Fabrikschließungen ist und in denen die Gewerkschaftsverbände die Entlassungen kampflos hinnehmen.

Die Rolle der Sozialberatungen steht im Zentrum der Überlegungen der AktivistInnen in ganz Italien, insbesondere seit der Mobilisierung vom 19. Oktober. Die Beratungen sind bis heute der politische Raum für ein Zusammenkommen von AktivistInnen und sozialen Gruppen, sie sind das Werkzeug, das die aktive und solidarische Beteiligung der Geräumten an den Aktivitäten der Komitees für das Recht auf Wohnen möglich gemacht hat. Die enorme Zahl von Räumungen und die staatliche Repression gegen Besetzungen zwingen die Bewegung zu intensiver Aktivität. Diese geht aber einher mit einem Prozess der antikapitalistischen Politisierung durch die Kämpfe: die Versammlungen, der Alltag in den besetzten Häusern, die Demos, Auseinandersetzungen mit der Polizei, all dies sind Momente, in denen die italienischen und migrantischen Wohnungslosen selbst zu ProtagonistInnen der Kämpfe werden. Ohne diesen Prozess, in dem die Betroffenen zu Hauptdarstellern werden, würden sich die Komitees höchstwahrscheinlich aufreiben und ihre Energien in einer rein "sozialstaatlichen" Dienstleistung aufbrauchen. Am Ende wären sie unfähig, sich den umfangreichen Aktivitäten zu stellen, welche die Zuspitzung des Wohnungsnotstands erfordert.

Der eingeschlagene Kurs, auf dessen Bahn die Bewegungen in den Dschungel der Krise eindringen, gewinnt erst an Fahrt; aber die langsame Wühlarbeit von Tausenden von Maulwürfen in allen Städten Italiens lässt hoffen. Die Gegenseite fürchtet sicherlich schon die Folgen. Wie bereits bei der No-TAV-Bewegung im Valsusa verteilt sie weniger Trostpflaster, um den Dissens zum Schweigen zu bringen, sondern greift zur Waffe der Repression. So haben die Richter freiheitsbeschränkende Maßnahmen gegen 17 römische Militante und Hausbesetzer verhängt. Grund dafür waren Auseinandersetzungen mit der Polizei beim Gipfel von Staat und Regionalregierungen am 31. Oktober, gegen den die Bewegung für Wohnraum mit einer Belagerung protestiert hat. Die Bewegung wird sich auch durch verstärkte Repression nicht aufhalten lassen, gegen die sie auch schon zweimal auf die Straße gegangen ist, am 22. Februar und am 15. März. Sie wird im kommenden Frühjahr neue Mobilisierungen lostreten. Eine nationale Demo gegen die von der Troika aufgezwungene Austeritätspolitk findet am 12. April in Rom statt. Im Zentrum der Aufmerksamkeit wird die "Jugendfrage" stehen - dies angesichts einer Arbeitslosigkeit von 40 Prozent bei den unter-24-jährigen. Der EU-Gipfel zu diesem Thema findet im Juli statt, wenn Italien mit der neuen Regierung Renzi die EU-Präsidentschaft innehat. Doch die Opposition gegen Renzi wird vor allem die Ablehnung des Pakets signalisieren, das erstens aus einem "Wohnungsplan" besteht, der in Artikel 5 die Reaktivierung von Anschlüssen an das Versorgungsnetz in besetzten Häusern verbietet - ein direkter Angriff auf die Wohnungsbewegung -, und zweitens dem "Jobs Act", dem Regierungsvorschlag zu Arbeitsmarkt und sozialen Abfederungen, der von der Hartz-IV-Reform in Deutschland inspiriert ist.


Ein Video über den Kampf der "Facchini" bei Granarolo von Labournet.tv:
http://labournet.tv/video/6666/granarolo-vom-20-bis-zum-25-januar-eine-woche-der-leidenschaft

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Quelle:
Wildcat 96 - Frühjahr 2014, S. 33 - 37
Eigendruck im Selbstverlag, V.i.S.d.P.: P. Müller - Wildcat
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Mai 2014