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BERICHT/117: Brasiliens Kindersoldaten - Polit-Rapper filmte ihren Alltag (Klaus Hart)


Klaus Hart Brasilientexte - 22. Februar 2008

Polit-Rapper MV Bill aus der Tropa-de Elite-Stadt Rio de Janeiro filmte ihren grausamen Alltag

Lula zum Handeln aufgefordert


Brasiliens Kindersoldaten:
"...junge kinder mit Waffen die einfach anderre kinder erschossen haben die sie gerade mal schief angeschaut haben..."
(Lesermail)


Ein vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 von TV Globo, Brasiliens größter Fernsehanstalt, erstmals ausgestrahlter Dokumentarfilm über die Kindersoldaten des organisierten Verbrechens hat viele Brasilianer tief erschüttert und nachdenklich gemacht. Erstmals wurde detailliert gezeigt, wer jene Kinder und Jugendlichen sind, die den Parallelstaat der Slums neofeudal beherrschen und die Slumbewohner terrorisieren. Der von dem populären Polit-Rapper MV Bill konzipierte Streifen klagt die Autoritäten des Landes an, vor diesem zweiten Brasilien die Augen zu verschließen, den Krieg, den Genozid in den Slums hinzunehmen. (Lesermail am Textschluß!)

MV Bill, mit richtigem Namen Alexandre Pereira Barbosa, stammt aus Rios Slum "Cidade de Deus", der durch den Film "City of God" auch in Deutschland bekannt geworden ist.

Wer durch die Fußgängerzonen brasilianischer Großstädte geht, macht eine überraschende Entdeckung: Direkt vor den Augen der Polizei, und sogar vor Lateinamerikas Leitbörse in Sao Paulo, verkaufen Jugendliche ganz offen CDs mit den Gewalthymnen der führenden Verbrechersyndikate des Tropenlandes. "Die Polizeieinheiten kommen hier nicht durch, ich feuere los, lege alle von denen um", heißt es da, "ich bin Bandit." Das Comando Vermelho (Rotes Kommando, Brasiliens führende Verbrecherorganisation, so ein anderer Rap, "wird dich ins Jenseits befördern - mit Granaten und MG-Salven wirst du in ein Sieb verwandelt, denn mit dem Comando Vermelho ist nicht zu spaßen." In weiteren Raps wird das deutsche Sturmgewehr der Marke Heckler und Koch ebenso gelobt wie die genauso häufig zum Killen verwendete Uzi aus Israel. Und natürlich fehlen auch direkte Aufrufe zum Gebrauch harter Drogen nicht: "Los, Porra, Caralho, schnupfe Kokain - schnupfe, schnupfe, schnupfe - geh in die Ecke und zieh dir das Zeug rein." Ivete Sangalos Hit "Festa" bekam eine Banditenversion: "Jetzt geht der Krieg los - das Comando Vermelho kündigt es an..."


"Slums in Kriegssituation"

Auch der sozialkritische Politrapper MV Bill hatte in seiner Jugend beim organisierten Verbrechen, im Drogenhandel Rio de Janeiros mitgemischt, dann aber früh die Seiten gewechselt. Jahrelang interviewte er Minderjährige, die von den Gangstermilizen rekrutiert worden waren - Kinder und Jugendliche, die anstatt noch zu spielen oder in die Schule zu gehen, mit harten Drogen handeln, mit NATO-Mpis feuern oder Handgranaten werfen, Angehörige rivalisierender Milizen, Slumbewohner auf bestialische Weise liquidieren, sogar lebendig verbrennen. Eine Hausangestellte kommt nach der Arbeit in den Slum zurück - direkt neben ihrer Katentür findet sie den Kopf des Nachbarn aufgespießt. Das demokratisch regierte Rio de Janeiro hat etwa genauso viele Einwohner wie Kuba, indessen auffällig andere Sozialindikatoren.

"Die Slums leben in einer Kriegssituation - die Männer dort hören nicht auf, sich gegenseitig zu töten", sagt Rapper MV Bill. "Von den Sechzehnjährigen, die wir interviewten, hatten die meisten schon keine Väter mehr. Und die Kinder dieser Sechzehnjährigen standen kurz davor, Waisen zu werden. Denn mit sechzehn Jahren ist für die meisten dieser Banditen schon Schluß, dann sind sie tot. Vor unseren Augen spielt sich ein regelrechter Genozid ab."

Nicht zufällig herrscht in den Slums ein deutlicher Frauenüberschuß. MV Bill beschrieb auch, wie mutmaßliche Vergewaltiger von Banditenkommandos unter Teilnahme der Slumbewohner gelyncht werden: "Die Typen griffen ihn, schnitten ihm den Schwanz ab, zwangen ihn, einen Damenslip anzuziehen, schlugen ihn zusammen, töteten ihn daraufhin. Selbst Arbeiter, die mit der Sache überhaupt nichts zu tun hatten, griffen sich ein paar Knüppel und hauten auf ihn drauf. Es gibt so vieles, das eigentlich ungerecht ist. Aber im Falle von Vergewaltigern... Vielleicht wäre das noch ein Delikt mehr, wegen dem man gegen mich ermitteln könnte, aber ich habe auf den Mann ebenfalls mit draufgehauen. Ich bereue das nicht, nein." In einem Rap von MV Bill heißt es: "Tarado na Favela perde a mao, perde o pau" (Ein Sittenstrolch verliert in der Favela die Hand, den Schwanz). Rapper MV Bill zeichnete Gespräche mit über einem Dutzend Kindern und Jugendlichen auf - als sein Dokumentarfilm jetzt ausgestrahlt wird, sind fast alle schon im Slumkrieg umgekommen - nur einer überlebte, sitzt im Gefängnis.

"Ich habe keine Zukunft - also mache ich das hier", sagt ein junger Bandit. "Damit habe ich zwar auch keine Zukunft, aber wenigstens verdiene ich Geld, werde überall mit Respekt behandelt." Was willst du später mal werden, fragt MV Bill einen kleinen Jungen: "Wenn ich größer bin, werde ich Bandit", antwortet der - und ist inzwischen schon tot. "Wir führen ein verrücktes Leben - jeden Tag kann es einen treffen", sagt ein anderer Jungbandit. "Drei Söhne meiner Mutter sind hier schon getötet worden." Er wurde der vierte.

Rapper MV Bill berührt tief, daß Zehntausende von Minderjährigen einerseits gefürchtete neofeudale Gangster sind, andererseits noch so viele kindliche Züge aufweisen, Kinderträume haben. "Einer, der häufig Leute hinrichtete, sagte mir: Wenn ich hier raus könnte, würde ich gerne in eine Zirkusschule gehen, um ein Zirkusclown zu werden. Da dachte ich - heute bringt er so viele zum Weinen, doch hätte er andere Chancen, würde er die Leute zum Lachen bringen!"

Die Drogenhändler im Kindesalter wissen sehr genau, was ihre Ware bei den Kunden anrichtet: "Das hier ist Kokain, das zerstört das Leben des Menschen. Und das hier ist Crack - das deformiert die Person völlig." Mädchen, Frauen seien scharf auf junge Banditen, wegen deren Macht und Prestige.

Auch in Deutschland argumentieren manche, daß die Drogenfreigabe, die Entkriminalisierung von Rauschgift zur Senkung der Kriminalitätsrate führen würde. MV Bill widerspricht dem vehement: "Drogenliberalisierung löst das Problem überhaupt nicht - die Drogenbanditen suchen sich dann eben andere schwerkriminelle Geschäftsfelder." Für Brasiliens organisiertes Verbrechen ist der Drogenhandel seit jeher nur eine von zahlreichen Aktivitäten. Bei den Filmaufnahmen erlebte MV Bill mehrfach Szenen des Todes: "Der Jugendliche Sabugo war vom Banditenkommando der Favela dazu eingeteilt, mit Leuchtraketen vor dem Herannahen von Polizei zu warnen - nur schlief er immer im Dienst, wodurch Banditen festgenommen werden konnten. Die Typen beschlossen deshalb, ihn zu töten. Wir versuchten das zu verhindern. Einer hatte das Handy am Ohr und erhielt den Befehl: Zwei Schüsse ins Gesicht von Sabugo. Danach haben sie ihn angebrannt. Alles direkt vor unseren Augen! In Situationen, in denen es möglich war, haben wir sowas zu verhindern versucht. Nur hatten wir in verschiedenen Situationen eben Pech."

MV Bill wendet sich auch gegen Scheinheiligkeit in der Rapszene: "Es gibt viele Leute in den Slums, inclusive Schwarze, die Rap singen, welche nicht wollen, daß das Elend beseitigt wird - weil sie sonst kein Thema mehr hätten." Und der Machismus? "In der Favela lernt man, daß ein richtiger Mann der ist, der schon mit einer Vierzehnjährigen pennt."


Rapper MV Bill bei Lula

Nicht wenige Brasilianer befürchten, daß Brasiliens organisiertes Verbrechen sich nach diesem Dokumentarfilm an Rapper MV Bill tödlich rächen wird. Doch der appelliert an die Gesellschaft, an die Regierung: "Heute haben wir zwei Brasilien. Doch man kümmert sich nur um das eine, vergißt das andere. Doch dieses andere Brasilien ist gewachsen, ist ein Monster geworden. Über dieses Brasilien haben wir die Kontrolle verloren. Für mich sind Brasiliens Rassen-und Sozialprobleme gravierend. Wir leben mit diesem Mythos der Rassendemokratie, die schlichtweg nicht existiert. In Salvador da Bahia wurden 2005 mehr als 250 junge Schwarze durch Todesschwadronen auf bestialische Weise ermordet, ein wahrer Genozid. Doch die Gesellschaft rührt das überhaupt nicht, niemand ist wegen dieser Toten besorgt. Die Schwarzenbewegungen dort starteten eine Kampagne unter dem Motto: Reagiere, oder du wirst tot sein - die Weißen bitten um Frieden, damit sie reich bleiben können und die Schwarzen bitten um Frieden, damit sie am Leben bleiben...Jene, die die öffentliche Meinung formen und über Brasiliens Reichtum verfügen, ist völlig egal, was wir diskutieren, was wir erleiden. Bei Vorträgen in London glaubten die Briten nicht, was ich denen über die Sozialkontraste, den Blick der Reichen auf die Armen schilderte. Viele dort kennen Brasilien doch nur über Karneval, Fußball und diesen Kult um die Ärsche der brasilianischen Frauen, wissen nicht mal, daß es hier Schwarze gibt. Die Privilegierten der brasilianischen Gesellschaft wollen nicht, daß unsereiner aus den Favelas denkt. Die wollen, daß wir ignorant bleiben, um weiter als Manövriermasse dienen zu können."


Fußball-WM, Brasilienklischees, Ronaldo, Rassismus

Während man in Europa Fußballstars wie Ronaldo lächerlich stupide vergöttert, schauen politisierte Schwarze Brasiliens natürlich genauer hin. Brasilianerinnen nennen Ronaldo öffentlich einen "ekligen machistischen Frauenaufreißer", brasilianische Nachrichtenmagazine zitierten Ronaldos Erläuterung, weshalb er bei seinen Reisen nie Gepäck, sondern nur die Kreditkarten dabei habe: "Mit einem Koffer zu fahren, ist typisch für Arme." Sein Vermögen wird auf weit über hundert Millionen Euro geschätzt. Der dunkelhäutige Ronaldo bezeichnete sich öffentlich als Weißer, was ihm MV Bill noch als Zeichen von Unbedarftheit und fehlender Information durchgehen läßt: "Ronaldo lebt unter Weißen, die ihn wegen seines Bankkontos schwerlich diskriminieren dürften. Wenn er allerdings derartiges erklärt oder sagt, daß sein Kraushaar schlecht ist und deshalb abrasiert werden muß, bewirkt er hier im Kopf von jenen große Verwirrung, die ihn verehren und meinen, er wäre einer wie sie. Aus den Favelas dürfen doch nicht nur Fußballspieler und Musiker wie ich, oder Kriminelle kommen - es müßten endlich auch Minister, Doktoren, Unternehmer, Former der öffentlichen Meinung sein."

MV Bill, so berichteten Qualitätszeitungen, stieß bei den Dreharbeiten auf vieles, was in dem Dokumentarfilm nicht gezeigt wurde: So machen bereits neunjährige Slummädchen Oralsex mit Drogenbanditen - und bekommen dafür Kokain. Weil Staatschef Lula und seine Regierung in den bisherigen Amtsjahren all diese Zustände hinnahm, bat MV Bill nach der Ausstrahlung des Dokumentarfilms um eine Audienz im Präsidentenpalast - und bekam sie auch. Der Polit-Rapper überreichte Lula das zum Film gehörende gleichnamige Buch "Falcao - Meninos do Trafico" und forderte von der Regierung, endlich etwas zur Lösung des Problems zu tun. "Wir wissen nicht, was Lula unternehmen wird", sagte MV Bill anschließend, "wir haben jedenfalls unseren Teil beigetragen." Gemäß TV- und Presseberichten reagierte der Staatschef bei der Audienz ungeschickt und verunsichert auf die Kritik von MV Bill. Lula beklagte, die Fernsehprogramme zeigten nur Gewalt - in Brasilien ziehe man es derzeit leider vor, keine positiven Nachrichten zu verbreiten. MV Bill, 194 groß, wird immer wieder gefragt, ob er in die Politik gehen, bei Wahlen kandidieren will: "Nichts davon. So wie das System in Brasil ist, gibt es keinen Raum für Leute mit positiven Absichten. Hier kann man nichts ändern. Ich sollte eigentlich optimistisch sein, bin aber von Pessimismus umzingelt. Wenn ich an Brasiliens Politik denke, packt mich die Hoffnungslosigkeit, denn obwohl die Arbeiterpartei ein paar gute Sachen realisiert hat, hätte ich nie gedacht, daß sie dermaßen tief in diesem Meer der Korruption drinstecken würde. Die Angst hat die Hoffnung besiegt. Ich habe Angst vor meiner Zukunft, der Zukunft meiner Kinder. Angst vor der Zukunft Brasiliens."

MV Bill traf sich neben Lula auch mit zahlreichen anderen Figuren der Politikerelite, hoffte auf ein Mindestmaß an Interesse, Kooperation. Indessen hat er heute den Eindruck, daß sich nichts bewegen wird. "Unglücklicherweise habe ich keine Hoffnung."

Just vor der Fußball-Weltmeisterschaft stehen diese Berichte zur gravierenden Menschenrechtslage in der Tat in interessantem Kontrast zu jenen teuren Image-Kampagnen, die auch von Kulturminister Gilberto Gil geführt werden. Der Diktaturgegner, Schriftsteller und grüne Kongreßabgeordnete Fernando Gabeira, einst im Westberliner Exil, zur Menschenrechtslage in Rio de Janeiro: "Ich habe nie ignoriert, daß es dort geheime Friedhöfe gibt - und Öfen in den Felsen, wo man Menschen lebendig verbrennt..."


Rio und Haiti

Die Qualitätszeitung "Folha de Sao Paulo" berichtete jetzt über den deutschstämmigen südbrasilianischen Soldaten Tailon Ruppenthal, 22, der vom Einsatz in der Haiti-Friedenstruppe mit einem Paniksyndrom heimgekehrt war. "Ich habe gesehen, wie Menschen lebendig verbrannt worden sind. Als ich annahm, neben mir läge ein totes Schwein, schaute ich genauer hin und stellte fest, daß es die Überreste eines verbrannten dreijährigen Mädchens waren. Einmal dachte ich, es handelte sich da um eine Barrikade aus brennenden Autoreifen - doch dann sah ich aus der Nähe, daß es Menschen waren. Bei Schußwechseln mit Milizen mußte ich Leute auffordern, vor uns aus der Schußzone zu gehen. Sie blieben mitten im Kreuzfeuer - als ob es ihnen nichts ausmachte, das eigene Leben zu verlieren." Augenzeugenberichte dieser Tendenz gibt es seit Jahren auch aus Slums von Rio - nicht indessen aus dem soziokulturell vergleichsweise hochentwickelten Teilstaat Rio Grande do Sul des Soldaten Ruppenthal.


LESERMAIL:

Hallo ich bin dennis und habe in der Favelas gelebt und einieges mit bekommen bandenkriege, Drogenhandel, und junge kinder mit Waffen die einfach anderre kinder erschossen haben die sie gerade mal schief angeschaut haben überfälle gemscht haben und frauen fergewaltiegt haben.

ich selber war lange im drogenhandel mit eingewikelt mein Vater wurde da erschossen von einem 9 Jährigen jungen der im das gelt glauen wollte doch statdesen nam er seine seele und ich war mit meiner mutter und meiner schwester alleine.

dann hatten wier beschlossen das ich nach deutschland ins heim gehe attte erst angst dafor aber ich hatte schon am ersten tag viele Freunde gefunden einer davon war der Robin wier haben durch dick un dünn gehalden und ich binn dem leben in der Favelas entwichen bin auch froh drumm.

Das war ein kleiner schnitt aus meinem leben.

mit freuntlichen Grüßen

Dennis Da consie'saro


Erstveröffentlichung 2006
Wiederveröffentlichung am 22. Februar 2008 aufgrund der Lesermail

Zum Autor:
Klaus Hart ist seit 1986 Brasilienkorrespondent
für Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz.


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Quelle:
Klaus Hart Brasilientexte, Februar 2008
Aktuelle Berichte aus Brasilien - Politik, Kultur und Naturschutz
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Internet: www.hart-brasilientexte.de/


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2008