Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → FAKTEN


FILM/027: Filme über Erziehung im Sommerkino (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 158 - Heft 4/17, 2017
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Edukation
Filme über Erziehung im Sommerkino

von Ilse Eichenbrenner


Normalerweise nehme ich die Filme, wie sie kommen. Ich suche nicht verkrampft nach einem Motto. Doch wenn der Schwerpunkt vom Himmel fällt - dann fängt Filmknäcke ihn auf. Begleiten Sie mich bei meiner Exkursion in pädagogische und sonderpädagogische Lebenswelten.

Tiefgreifend anders entwickelt
Kommunion

Irgendwie schaffe ich es nie, zum Dokumentarfilmfestival nach Leipzig zu fahren. Ärgerlich. Umso besser, dass der Gewinner des Young Film Award nun ganz regulär in einige Berliner Kinos kam.

»Kommunion« ist ein kleines Meisterstück der jungen Filmemacherin Anna Zamecka. Der Film läuft nur im Original mit Untertiteln, was zumindest für mich die Faszination nicht beeinträchtigt hat.

Ola ist 14 Jahre alt und hätte eigentlich anderes zu tun - mit den Freundinnen lachen und mit ihrer Clique rumhängen. Aber ihr Bruder Nikodem ist Autist, und seine Kommunion steht an. Also bereitet Ola ihn auf die mündliche Prüfung vor. Es sind Glaubenssätze des Katholizismus, Regeln und Gebote, die über der rigorosen Paukerei den letzten Rest ihrer Sinnhaftigkeit verlieren. Nikodem würde wohl gerne verstehen, was er da immerzu repetieren muss, aber darum geht es ja nicht. Er ist unwillig. In jeder kleinen Pause wedelt er mit den Händen, und Ola muss ihn wieder fokussieren. Ab und zu stößt er Bemerkungen aus, die so skurril sind, dass sie doch immer irgendeinen Nagel auf den Kopf treffen.

Mit Bananenscheiben als Ersatz für Oblaten übt Ola mit ihm die Zeremonie der heiligen Kommunion. Der gutmütige Vater scheint seine Tage in der Kneipe zu verbringen, die Mutter hat sich zu einem anderen Mann abgesetzt.

Die Kamera beobachtet Ola dabei, wie sie morgens die Schulmappe für Nikodem packt. Wie sie sich beim Schleudergang auf die Waschmaschine setzt und gleichzeitig die Spüle festhält, damit nicht alles außer Kontrolle gerät. Sie telefoniert mit der Mutter, um sicherzugehen, dass diese zum wichtigen Ereignis kommt. Nikodem schafft tatsächlich die Prüfung beim Priester.

Die Mutter kommt zu der großen Feier und übernachtet in der engen Wohnung. Ola hofft, dass sie nun bleibt. Doch am Ende dieser klug komponierten Dokumentation schaut der Zuschauer Ola dabei zu, wie diese die Mutter beobachtet, die mit ihrem Köfferchen wieder von dannen zieht. Ich habe mich ab und zu gefragt, wo in dieser so authentisch engen und komplett durchmöblierten Wohnung eigentlich eine Kamera platziert werden konnte. Man ist Ola immer ganz dicht, hautnah auf den Fersen. Für das gerade gegründete Netzwerk für Geschwister psychisch Erkrankter könnte »Kommunion« ein guter Einstieg sein.

Kommunion
Dokumentarfilm; Polen 2016; 72 Min. OmU;
R: Anna Zamecka

*

Life, Animated

Der Dokumentarfilm »Life, Animated« ist Mainstream, war für den Oskar nominiert und lief in Berlin in etlichen Kinos. Das Presseecho war zwiespältig bis kritisch. Also mache ich mir selbst ein Bild.

Die Suskinds sind eine Bilderbuchfamilie. Der Papa ist Journalist, die zwei Söhne scheinen gesund. Doch der Jüngere, Owen, hört im Alter von drei Jahren plötzlich auf zu sprechen und verändert sich. Autismus wird diagnostiziert. Die ganze Familie liebt Disney-Filme, und der kleine Owen ist von ihnen fasziniert. Nach einem Jahr des Schweigens und anlässlich des Geburtstags seines großen Bruders Walter spricht er plötzlich einen Satz: »Walter doesn't want to grow up, like Mowgli or Peter Pan.« Von nun an experimentiert der Vater: Er imitiert die Stimmen der Disney-Figuren und entdeckt, dass er in diesen Rollen mit Owen kommunizieren kann. Der Film lässt die Eltern zu Wort kommen: Owen hat spezialisierte Schulen besucht, wurde gemobbt, hat dann doch eine erstaunliche Entwicklung gemacht. Viel Zeit widmet der Film der aktuellen Situation. Owen erzählt, dass er sich bei den Disney-Filmen vor allem mit den Sidekicks, also den Gehilfen, identifiziere. Er leitet und moderiert einen kleinen Disney-Filmclub und bereitet sich mit der Hilfe seiner Mutter auf den Auszug in ein betreutes Wohnprojekt vor, in dem er ein eigenes Apartment bewohnt. Die Kamera begleitet den Einzug. Er verliebt sich in eine Mitbewohnerin und ist verzweifelt, als sie sich wieder von ihm trennt. Sie bleiben Freunde. Sehr schön dröselt der Film auf, wie Owen sich mithilfe der Figuren und Storys der Zeichentrickfilme die Welt und die sozialen Beziehungen erklärt. Zwei Themen stehen im Fokus von »Life, Animated«: der Nachweis, dass gerade für Autisten eine Obsession auch eine Coping-Funktion haben kann; und die schwierige Ablösung behinderter Söhne und Töchter von ihren Eltern. Ergänzt werden die Videoclips der Familie und die professionelle Doku-Kamera des Regisseurs von gezeichneten, animierten Szenen, die allzu niedlich geraten sind - zumindest für meinen Geschmack.

Wie gesagt: »Life, Animated« hatte in der Presse ein zwiespältiges Echo. Der Vater und Pulitzer-Preisträger Ron Suskind hatte die Geschichte seines Sohnes bereits in einem sehr erfolgreichen Buch mit dem Titel »Life, Animated: A Story of Sidekicks, Heroes, and Autism« vermarktet, nun taucht er auch noch im Abspann als einer der Produzenten dieses Dokumentarfilms auf. Manche Kommentatoren meinten, der Film sei ähnlich klebrig-zuckrig wie ein Disney-Film. Ein Rezensent fragt sich, weshalb die Jahre zwischen Owens Verstummen und der aktuellen Situation des 23-Jährigen fast vollständig ausgeblendet werden. Keine Ahnung. Ich habe den Film mit skeptischer Grundhaltung konsumiert und für gut befunden. Zielgruppe sind vor allem Profis oder Angehörige, die mit Autisten zu tun haben. Der unterhaltsame Film fördert das Verständnis für die kognitiven Besonderheiten der Betroffenen und die Nöte ihrer loslassenden Eltern. Das muss reichen.

Passend erhielt dann noch der Blog »Wochenendrebell« den Grimme Online Award. Ein Vater bereist mit seinem Sohn die Fußballstadien der Republik auf der Suche nach einem Lieblingsverein. Da der Sohn an einer Autismus-Spektrum-Störung leidet (»Asperger« ist out), kapiert man auf unterhaltsame Weise, dass manche Menschen anders sind als die vielen anders anderen, und das ist gut so. Vater und Sohn sind zwar selbst Experten, lassen aber weitere Experten zu Wort kommen, sodass man als Leser oder Hörer der Podcasts auf beachtlichem Niveau informiert wird.

Life, Animated
Dokumentarfilm; USA 2016; 92 Min.;
R: Roger Ross Williams

*

Früh krümmt sich, was ein Häkchen werden will
Ich. Du. Inklusion

Und dann kam plötzlich ein ganzer Schwung mit Dokumentarfilmen zum Thema »Schule und Erziehung« in die Kinos. Los ging es am 4. Mai mit »Ich. Du. Inklusion«. Ein Film, über den in der Schulszene heftig diskutiert wird. Als ich an einem späten Vormittag das kleine Kino aufsuchte, war ich die einzige reguläre Besucherin. Einer großen Gruppe von jungen Lehrerinnen respektive Referendarinnen hatte ich diese Sondervorführung zu verdanken. Regisseur Thomas Binn ist auch Sozialpädagoge, und seine Projektarbeit »Die Schule der Tiere« durchzieht den Film. Jedes Tier ist anders behindert: Schlangen haben keine Beine, Löwen können überhaupt nicht fliegen. Die Proben für das kleine Theaterstück führen auf originelle Weise in den Grundgedanken der Inklusion ein. Also alles paletti? Der Zuschauer nimmt teil am ersten Inklusionsjahrgang der Geschwister-Devries-Schule in Uedem und beobachtet dabei vor allem fünf Schüler mit und ohne Unterstützungsbedarf. Die seelische, geistige und soziale Einschränkung ist nicht offensichtlich: Bei einem kleinen Jungen wurde ADHS diagnostiziert; ein anderer ist nach Einschätzung der Lehrerinnen auf dem Stand eines Dreijährigen und verlässt schließlich die Klasse aus familiären Gründen. Die häusliche Situation, die Arbeit der Schulhelferinnen und Lehrerinnen wird beobachtet; sie alle sind hochgradig engagiert und kommentieren den Inklusionsprozess sehr kritisch. Der Rektor sieht vor allem die Politiker in der Verantwortung. Inklusion muss auch finanziert werden. Die Eltern der Kinder mit Unterstützungsbedarf klagen über die bürokratischen Hürden, bis alles begutachtet und bewilligt ist. Wer nicht, wie ich, ohnehin komplett überwältigt ist von der ungeheuren Mühe, so viele Kinder gleichzeitig zu beaufsichtigen und zu fördern, der mag hier viele Anregungen finden. Ich fand - ehrlich gesagt - die betroffenen Kinder für die Diskussion des Themas zu wenig behindert.

Die Verflechtung der inklusionsfreundlichen Szenen der »Schule der Tiere« und die eher skeptische Begleitung der realen Akteure verhindern, dass der Film allzu tendenziös wird. Obwohl: Anscheinend war die Inklusion in Nordrhein-Westfalen wahlentscheidend. Eine klare Tendenz!

Ich. Du. Inklusion -
Wenn Anspruch auf Wirklichkeit trifft
Dokumentarfilm; Deutschland 2017; 91 Min.;
R: Thomas Binn

*

Zwischen den Stühlen

Mit großem Getöse angekündigt wurde auch »Zwischen den Stühlen«. Ein Dokumentarfilm, der drei angehende Lehrkräfte begleitet. Sie machen ihr Referendariat an drei unterschiedlichen Schultypen: in der Grundschule, der Realschule und am Gymnasium. Hier erfahren wir kaum etwas über die Schüler, aber umso mehr über den Alltag und die Einstellung der jungen Pädagogen. Sie stehen vor den viel zu großen Klassen und versuchen, zu Wort zu kommen. Allein die Disziplinierung der Kinder und Jugendlichen wirkt wie eine nicht zu bewältigende Dressuraufgabe, und die drei haben unser Mitgefühl. Doch damit nicht genug: Der Unterricht wird von externen Prüfern beobachtet und minutiös bewertet; auch hier steht eine Prüfung am Ende, und nicht jeder besteht sie. Immer wieder werden in diesem Film Fragen nach dem Sinn und Zweck dieser Domestizierung aufgeworfen: Geht es nicht nur darum, die Kinder zu biegen und sie an die Leistungsgesellschaft anzupassen, in der sie ohnehin kaum eine Chance haben? Die junge Frau, die am stärksten an diesem gesellschaftlichen Auftrag zweifelt, geht schließlich sogar zum Schauspielunterricht, um mit einer besseren Präsenz die Aufmerksamkeit der Schüler zu gewinnen.

Dieser Film wird mit englischen Untertiteln gezeigt. Glücklicherweise. Denn sämtliche Darsteller nuscheln. Wer (wie ich) nicht hören kann, muss lesen.

Zwischen den Stühlen
Dokumentarfilm; Deutschland 2016; 106 Min.;
R: Jakob Schmidt

*

Schule, Schule - Die Zeit nach Berg Fidel

Und was ist inzwischen aus den Kindern der ersten Inklusionsklassen geworden? »Berg Fidel« war 2011 die erste filmische Langzeitbeobachtung, die sich ganz und gar auf die Seite der Befürworter geschlagen hatte. »Berg Fidel« ist der Name dieser inklusiv arbeitenden Grundschule im gleichnamigen Stadtteil in Münster. Die Regisseurin Hella Wenders konzentriert sich vor allem auf vier Kinder; drei von ihnen werden wir in der Fortsetzung wieder treffen. Sie porträtiert die beiden Brüder Jakob und David, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Jakob hat Trisomie 21 und kann sich kaum artikulieren; David kann aufgrund eines Stickler-Syndroms schlecht sehen und hören und ist mit Abstand der Kleinste, wirkt dabei aber mit seinen elaborierten Monologen hochbegabt bis altklug. Wer den Vater der beiden googelt, stößt immerhin auf einen Professor für Liturgie. Die große Anita stammt aus dem Kosovo, möchte Model werden und ist von Abschiebung bedroht. »Berg Fidel« feiert geradezu die Unterschiede der Kinder. »Jakob kann gut trösten« ist einer der Kernsätze, denn jedes Kind könne ja irgendetwas besonders gut. Die gemeinsame Beschulung endet mit dem Abschluss der 4. Klasse, die Wege müssen sich trennen.

Nun kommt fünf Jahre später die Fortsetzung in die Kinos: Was ist aus den vier Grundschülern der inklusiven Grundschule »Berg Fidel« geworden?

Die beiden Brüder Jakob (Down-) und David (Stickler-Syndrom) besuchen eine private Montessori-Schule. Trotz seiner enormen Leistungen wurde David von allen weiterführenden Schulen abgelehnt. Beide sind hier gut integriert und haben sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten weiterentwickelt. Jakob hat Lesen und Schreiben gelernt und hält vor seiner Klasse eine Art Referat zum Thema »Pinguine«. Er wird schnell wütend, ist aber noch immer der große Tröster für seine Mitschüler. Könnte er vielleicht Gärtner werden? Im Abspann ist zu lesen, dass kein Betrieb bereit war, ihm einen Praktikumsplatz zu geben. Sein kluger Bruder David hat angefangen zu komponieren, ist ein wenig gewachsen und reflektiert sehr gut seine sozialen Bedürfnisse und Chancen. Seine Freunde sind für ihn das Wichtigste. Was er einmal werden will? Gut aussehend, groß, beliebt. Vielleicht Astronom. David wird nach Abschluss der 10. Klasse ein Gymnasium besuchen.

Anita, die von Abschiebung bedrohte große Schülerin aus dem Kosovo, musste als einzige Schülerin von »Berg Fidel« in eine Förderschule für Lernbehinderte. Einen Abschluss konnte sie dort nicht erwerben. Nun besucht sie ein Berufskolleg, auf dem sie schließlich den Hauptschulabschluss erlangt. Besonders glücklich ist sie über ihren gesicherten Aufenthalt. Die Zeit in der Förderschule bezeichnet sie als vergeudet. Nun sei sie für immer als behindert abgestempelt.

»Schule, Schule - Die Zeit nach Berg Fidel« ist weniger kohärent als der erste Teil. Das ergibt sich aus den unterschiedlichen Wegen und Entwicklungen. Wenders versucht, durch rasche Szenenwechsel und thematische Schwerpunkte etwas Spannung zu erzeugen. Langweilig ist der Film nicht; ich empfand ihn als etwas zerfleddert und unübersichtlich. Form spiegelt Inhalt, könnte man konstatieren. Nicht nur das Leben der kleinen Protagonisten ist auseinandergerissen. Filmstart ist am 21. September. Ich konnte den Film bei einer Pressevorführung Anfang August sehen, bei der die Journalisten etwas abgegessen wirkten. »Schon wieder so ein Schulfilm« war noch der mildeste Kommentar.

Die hier besprochenen »pädagogischen« Dokus werden sicher noch ab und zu gezeigt, fast alle wurden von TV-Sendern mitproduziert. Nach der Auswertung im Kino werden sie auf DVD oder als Stream zu erhalten sein. Außerdem gibt es eine ungewöhnliche Fülle von Hintergrundinformationen und Material auf Flyern und natürlich auf den Websites im Internet. Geben Sie einfach den Filmtitel ein. Für Veranstaltungen mit Diskussionen zum Thema »Inklusion« sind alle diese Filme sehr gut geeignet.

Berg Fidel - Eine Schule für alle
Dokumentarfilm; Deutschland 2011; 87 Min.;
R: Hella Wenders

Schule, Schule - Die Zeit nach Berg Fidel
Dokumentarfilm; Deutschland 2017; 90 Min.;
Filmstart: 21. September 2017
R: Hella Wenders

*

Young Adults
Berlin Rebel High School

Der Mai brachte nicht nur einen frühen Sommer nach Berlin, sondern auch einen Dokumentarfilm über die in Berlin berühmt-berüchtigte Schule für Erwachsenenbildung, SFE genannt, geistig und räumlich verortet im alten Kreuzberg. »Berlin Rebel High School« gibt einen intimen Einblick in das Engagement der Pädagogen und in die basisdemokratische Selbstverwaltung, die man längst auf dem Müllhaufen der Geschichte wähnte.

Regisseur Alexander Kleider hat auf der SFE sein Abitur gemacht und ist noch immer begeistert. Das macht den Film zu einer Hommage, zu einer Liebeserklärung - ohne die kritischen Punkte zu ignorieren. Wer wird überhaupt aufgenommen? Wer putzt den Gemeinschaftsraum, und wie funktioniert ein externes Abitur? Gespannt folge ich den Lernversuchen der eigenwilligen und doch so typischen Kandidaten, die nach Jahren des Kiffens und Gammelns einen zweiten Anlauf wagen. Vor allem sechs junge Leute begleitet die Kamera beim Lernen, bei Besuchen in ihren Heimatkäffern, beim Hoffen und Verzweifeln. Die charismatische Mitarbeiterin im Schulbüro erklärt die Regeln und fasst den zweijährigen Schulbesuch in drei Phasen zusammen: die Euphorie nach der Aufnahme, die Ernüchterung, und die produktive Panik vor der externen Abiturprüfung. Natürlich fragt man sich gleich am Anfang, wie das denn funktionieren kann - ohne Noten, ohne Prüfungen, ohne autoritäre Pauker. Und man lässt sich als Zuschauer anstecken von der Begeisterung der ersten Woche: So bunt, so quirlig, so lebendig ist das Kollektiv der 320 Schüler. Man ist fast beruhigt, als dann bei schönstem Sommerwetter die Klassenräume fast leer bleiben. Doch dann legen im Winter alle noch mal los: Sie büffeln und fragen sich gegenseitig ab und sind total aufgeregt. Nicht alle sechs bestehen im ersten Anlauf, aber im zweiten. Immer wieder kommen die Lehrer zur Sprache: eigenwillige, optimistische und freundliche Männer und Frauen, die kaum etwas verdienen, und später (die Rentenhöhe ist jeweils eingeblendet) auf Grundsicherung angewiesen sein werden. Die Freude an der Erkenntnis, am gemeinsamen Lernen und das Wecken verborgener Talente scheint ihnen zu genügen.

Dem sozialpsychiatrischen Blick ist es wohl zu verdanken, dass ich diese Schule als wichtigen Ort der beruflichen, schulischen und sozialen Teilhabe für unsere Klienten markiert habe.

Berlin Rebel High School
Dokumentarfilm; Deutschland 2017; 97 Min.;
R: Alexander Kleider

*

ACT! Wer bin ich?

Rosa von Praunheim porträtiert in seinem neuesten Dokumentarfilm die Theaterpädagogin Maike Plath, die mit jungen Neuköllnern - mit und ohne Migrationshintergrund - arbeitet. Plath hat im Schuldienst begonnen und versucht seit einigen Jahren mit Kursen und Workshops auf dem harten Markt der Berliner Off-Szene zu überleben - Karten für die Fördermitgliedschaft bei ACT lagen im Kino aus. Ihre »partizipativ-biografische Methode« vermittelt sie in Workshops und auf ihrem Youtube-Kanal. Die Doku lässt alle zu Wort kommen, sogar Maike Plaths Eltern, und zeigt Ausschnitte aus mehreren Produktionen. Der Leidenschaft der Akteure vor und hinter der Bühne kann man sich kaum entziehen. Plath hat enorme pädagogische, wenn nicht gar therapeutische Ambitionen. Sie will die Kids und jungen Erwachsenen dazu animieren, selbstbewusst und sozial zu agieren. Ein klein wenig hat es die Anmutung eines Werbefilms - für eine gute Sache. Wer sich für Theaterpädagogik interessiert, kann hier sicher viele Anregungen finden. Maike Plath erklärt ihre Methode sehr ausführlich in einer ganzen Abfolge von Videos auf Youtube.

ACT! Wer bin ich?
Dokumentarfilm; Deutschland 2017; 87 Min.;
R: Rosa von Praunheim

*

Tote Mädchen lügen nicht

Vielleicht hat der eine oder andere SP-Leser die Debatte um die Netflix-Serie »Tote Mädchen lügen nicht« mitbekommen; sie ist im Internet zu verfolgen. Amerikanische Fachgesellschaften und die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention warnen ausdrücklich - vom sogenannten Werther-Effekt ist die Rede. Ich habe mir die sieben Folgen unter diesem Aspekt angeschaut. Der Originaltitel, basierend auf einer Romanvorlage, lautet »13 Reasons Why«. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Schüler, der vierzehn Tage nach dem Suizid einer Mitschülerin ein Päckchen mit sieben Audiokassetten erhält. Darauf schildert das Mädchen in verschiedenen Strängen die Ereignisse an der Schule, die zu ihrem Entschluss geführt haben, und die der Film in immer neuen Rückblenden zeigt: beste Freundinnen, Mobbing, Verrat, Vergewaltigung, Liebeskummer. Die für ein jugendliches Publikum konzipierte Serie ist formal und inhaltlich differenziert und anspruchsvoll, auf jeden Fall aber spannend und als Einführung für einen älteren Menschen (wie Filmknäcke) in die Welt der Schließfächer, Schulbälle und sozialen Medien gut geeignet. Der Film hebt sich deutlich ab von der Albernheit der sogenannten »Highschool-Komödien«. Vor ihm zu warnen halte ich für kontraindiziert - in den einschlägigen Foren sind ganz andere Trigger zu finden.

Tote Mädchen lügen nicht
Serie (Netflix); USA 2017; 13 Folgen;
R: Brian Yorkey
D: Katherine Langford, Dylan Minnette

*

To the bone

Ebenfalls mit den entsprechenden Warnungen versehen ist der Netflix-Film »To the bone«. Man ahnt - es geht um Magersucht. Auch diesen gut gemachten Spielfilm hat sich Filmknäcke zu Gemüte geführt. Die zwanzigjährige Ellen leidet seit vielen Jahren an Magersucht. Der Film begleitet sie in die verschiedenen Teile ihrer Patchworkfamilie, zu deren Sorgen und Verzweiflung, und sehr ausführlich in die therapeutische Gemeinschaft mit einem unkonventionellen Arzt, gespielt von Keanu Reeves. Das Zusammenleben essgestörter Menschen wird gezeigt, unter ihnen sogar ein junger Mann, der sich in Ellen verliebt. Sie läuft weg. Nachdem Ellen von ihrer alternativ lebenden Mutter wie ein Säugling mit einem Fläschchen gefüttert wurde, wendet sich möglicherweise alles zum Guten. Ob dieser Film junge Menschen mit und ohne Essstörung gefährdet? Ich bezweifle es.

To the bone
Film (Netflix); USA 2017; 107 Min.;
R: Marti Noxon
D: Keanu Reeves, Lily Collins, Leslie Bibb

*

Begabt - Die Gleichung eines Lebens

Auch das amerikanische Mainstream-Kino sprang auf den Inklusionszug auf: aber von vorne. Die extrem hochbegabte Mary lebt bei ihrem Onkel. Ihre Mutter, eine geniale Mathematikerin, hat sich suizidiert. Mary soll möglichst normal aufwachsen, spielen und mit ihrem einäugigen Kater Fred herumtoben. Doch bei der Einschulung in eine normale Grundschulklasse fällt sie mit ihren ungeheuren mathematischen Fähigkeiten sofort auf. Die Rektorin informiert die Großmutter, die auf Exklusion in eine auf Hochbegabte spezialisierte Institution besteht. Es folgt ein Streit um das Sorgerecht vor Gericht, den das örtliche Jugendamt schließlich mit der Aufnahme in einer Pflegefamilie zu beenden versucht. Mit weiteren Wendungen findet die Handlung ein leidlich versöhnliches Ende. Der Film ist unterhaltsam und bemüht sich um eine differenzierte Betrachtung des Phänomens »Hochbegabung«. Dabei nerven ein paar Ungereimtheiten und fette Klischees im Drehbuch; doch die aufmüpfigen Zahnlücken der kleinen Mary tragen diesen modernen Märchenfilm dann doch in die Zielgerade.

Begabt - Die Gleichung eines Lebens
USA 2017; 101 Min.;
R: Marc Webb;
D: McKenna Grace, Chris Evans

*

Genug von Inklusionsfilmen? Dann können Sie sich »Simpel« mit David Kross als geistig behindertem Bruder von Frederik Lau ja sparen. Läuft ab November auch in Ihrem Kino.

Simpel
Deutschland 2017; 113 Min.;
Filmstart: 9. November 2017
R: Markus Goller
D: David Kross, Frederick Lau,
Devid Striesow, Emilia Schüle

Aktuelle Filminfos ständig unter:
www.psychiatrie.de/filme

*

Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 158 - Heft 4/17, Juli 2017, Seite 53 - 57
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/511 002, Fax: 0221/529 903
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.dgsp-ev.de
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Mai 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang