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FESTIVAL/397: 68. Internationale Filmfestspiele in Berlin - Ein zwiespältiges Angebot (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 160 - Heft 2/18, 2018
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Im Kino
Ein zwiespältiges Angebot
Auf dem Schlingerkurs der 68. Internationalen Filmfestspiele Berlin

Von Ilse Eichenbrenner


In jedem Jahr sind Filme im Berlinale-Programm, die das Publikum spalten. Da sind jene, die sich mit Inbrunst ausliefern, die zu Opfergängen bereit sind - Masochisten, Fanatiker, Gläubige. Sie feiern die quälend langen Einstellungen und ausufernden Epen etwa von Bela Tarr, Fred Kelemen oder Lav Diaz. Doch viele verweigern sich.

Der philippinische Regisseur Lav Diaz präsentierte 2017 einen achtstündigen, in diesem Jahr einen nur vierstündigen Film, immerhin im Wettbewerb. Für viele Kritiker war »In Zeiten des Teufels« der Höhepunkt des Festivals. Die anderen zählten die Schrauben im Kinogestühl, die Lampen und Flecken, um die Zeit zu überstehen, oder verließen schlichtweg den Berlinale-Palast. Der dunkle Schwarzweißfilm, in dessen Dämmerung nicht gesprochen, sondern nur sehr sehr schlicht und a cappella gesungen wird, hatte auf mich eine schlafanstoßende, betäubende Wirkung. Ich konnte den Sirenengesängen nicht widerstehen. In einer wachen Minute, nach 90 Minuten, verließ ich das sinkende Schiff.

Sogar einer der mit Spannung erwarteten deutschen Wettbewerbsbeiträge hatte eine austreibende Wirkung: »Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot.« Zwei Stunden lang sah man ein Zwillingspaar, Junge und Mädchen, auf einer Wiese liegen und sich auf das Abitur vorbereiten. Sie philosophieren über das Thema »Zeit« und spielen mit einer Grille. Ist Gewalt ein Riss in der Zeit? In der dritten Stunde okkupieren sie die kleine Tankstelle, bei der sie bisher nur Bier geholt haben, und veranstalten dort ein ausgedehntes Blutbad. Genial, meinen die einen, die anderen freuen sich über die gewonnene Lebenszeit, weil sie schon nach einer Stunde geflüchtet sind.

Die rumänische Regisseurin des Experimentalfilms »Touch me not« erzählt auf der Pressekonferenz, ihre eigenen Probleme mit körperlicher Intimität seien der Auslöser für ihr Filmprojekt gewesen. Sie heuerte professionelle Schauspieler und Sexarbeiter an, dazu Behinderte und deren Pflegekräfte. In kleinen Gruppen wurde über viele Monate geforscht, dokumentiert und per Skype kommuniziert. Herausgekommen ist eine Kreuzung, ein Hybrid aus Doku und Fiktion. In der ersten Szene schwenkt die Kamera von der Nahaufnahme einer Genitalbehaarung über den tätowierten Körper eines Callboys. Er duscht sich, er masturbiert unter den Blicken von Laura Benson. Sie ist eine Profischauspielerin, die eine Frau spielt, der es schwerfällt, sich anfassen zu lassen, »rühr mich nicht an«. Ein Callboy in Frauenkleidung kommt zu Besuch und zieht sich aus. Laura beobachtet durch ein Fenster, wie weiß gekleidete Behinderte mit ihren Partnern/Betreuern/Pflegern an einem Workshop für Körperwahrnehmung teilnehmen, sich streicheln und erkunden. Der Partner des schwerstbehinderten Christian Bayerlein ist Tudor; er hat mit 13 Jahren alle seine Haare verloren, auch die Wimpern. Tudor tut sich schwer, den gelähmten, sabbernden Christian zu berühren; der Zuschauer tut sich schwer, das alles anzuschauen. Viele gehen raus. Im Film geht es immer weiter, auch die weiße Gruppenübung will immer wieder betrachtet sein. Die Ausstattung gleicht einem Labor, kühl und stylish; im Kontrast dazu stehen die eher unbeholfenen Tastbewegungen der Protagonisten. Das alles zu betrachten, könnte überaus aufregend sein, ist es für manche vielleicht auch. Mir und vielen anderen war es nur unangenehm. In den Siebzigern, als ich studiert habe, war es en vogue, in kleinen Frauengruppen gegenseitig mit dem Spekulum die Vagina zu erforschen. Ein Klub, in dem ich nie Mitglied wurde. Muss der Ostblock auch diesen Teil der Hippiezeit nachholen? Warum muss der Zuschauer an dem Selbsterfahrungsprozess einer Künstlerin, einer ganzen Gruppe teilhaben? Die Internationale Jury war auf Krawall gebürstet. Der Goldene Bär für »Touch me not« war nicht die einzige Entscheidung, bei der viele Kiefer nach unten klappten.

In & out - Kontraste

Manchmal sind es die Kontraste, die mich erschrecken und berühren. Mal ist es der Zufall, dann wieder die Programmgestaltung, die heiß und kalt, schwarz und weiß schrecklich genial kombiniert.

Vier Männer leben im Freien, also »draußen«. Im gleichnamigen Film haben sie sich eingerichtet in einer Nische unter der Autobahn, im Park, im Wald. Es gibt einige wenige Gegenstände, die ihnen wichtig sind, zu denen es Geschichten zu erzählen gibt. Der Mann mit dem Cowboyhut und dem Einkaufswagen ist ein fanatischer Verehrer von Elvis Presley. Er glüht, wenn er über ihn redet. Er zeigt seine Reliquien. Ein anderer Mann kommt aus Russland, hat gestohlen und dafür gesessen, immer wieder. Nun hängt er an der Nadel. Ja, er könne zu seinen Eltern, aber das sei doch nicht ganz passend. Zwei der Männer haben Kontakt miteinander, aber doch scheint es mir, als suche jeder von ihnen vor allem die Freiheit, auch und vor allem in der Einsamkeit. Besonders bemerkenswert ist der letzte, sehr junge Mann. Ihn hat das Überleben in der Natur schon immer interessiert. Er erzählt von seinem Großvater, der ihm vieles beibrachte. Nun versucht er autark zu leben. Er zeigt stolz sein Pilzbuch; er zeichnet Pflanzen. Das Leben in den Wäldern scheint er als Survivaltraining zu gestalten. Wichtig sind ihm seine Stiefel, sein Messer, seine CamouflagePlane. In einem kleinen Buch notiert er sorgfältig, wann er wo campiert hat. Einige Orte kenne ich, z. B. Kyritz oder Falkensee. Jedes der vier Porträts endet mit der Präsentation der wichtigen persönlichen Utensilien: Sie scheinen über ihren Besitzern zu schweben. Diese Ästhetisierung der Habseligkeiten mag man mögen oder nicht. Ich fand diesen neuen Blickwinkel aufschlussreich. Eigenartig, dass man diese obdachlosen Männer nicht bedauert, sondern eher bewundert. Hat das Leben sie in diese Ecken geworfen, oder haben sie sich dorthin geflüchtet?

Die junge Filmemacherin Zita Erffa ist mit ihren Eltern und Geschwistern immer wieder umgezogen. Sie hat in vielen Ländern gelebt und spricht mehrere Sprachen. Die Sommer haben die Geschwister und viele Freunde, alle aus besseren Kreisen, in christlichen Camps verbracht, organisiert von den »Legionären Christi«. Das war zwar schön, aber niemals wollten sie so leben wie diese Priester, da waren sich die Geschwister einig. Doch plötzlich entschied Bruder Laszlo - zu dem sie ein besonders enges Verhältnis hatte - sich den Legionären Christi anzuschließen. Acht Jahre lang durfte die Familie nur einmal jährlich Kontakt zu ihm haben. Zwölf Jahre insgesamt dauert die Ausbildung zum Priester. Nun erhält Zita Erffa bedingt durch Missbrauchsvorwürfe gegen den inzwischen verstorbenen Gründer der Sekte plötzlich eine Drehgenehmigung: Die Gemeinschaft will sich öffnen und zeigen, dass alles in bester Ordnung ist. Sie fliegt nach Connecticut. Bruder und Schwester begegnen sich, sind aufgeregt und ungeheuer verlegen. Die Kamera beobachtet Vorträge und Gebete, die tägliche Hausarbeit, die Gottesdienste und Gesänge und ein Fußballspiel. Armut, Zölibat und strengste Regeln machen den Bruder offenbar glücklich; er lacht viel, vielleicht ein wenig zu viel. Er versucht seine Entscheidung zu erklären, und sie versucht vorsichtig zu verstehen, obwohl sie noch immer enttäuscht und schockiert ist. Eine fremde Welt, ein unterworfenes Leben in festen Bahnen, in ständiger Gemeinschaft und innerlicher und äußerlicher Uniformität?

Zwei extreme Lebensformen, frei gewählt, oder schicksalhafte Fügung? »The Best Thing you can do With Your Life«, meint der angehende Priester in diesem gleichnamigen Dokumentarfilm.

Der Psych-Faktor

Selbstverständlich durchforste ich vor Berlinale-Antritt immer alle Kurzbeschreibungen nach Diagnosen, Störungen und dem Psych-Faktor. Die Fundstücke erhalten oberste Priorität bei der Programmplanung.

Um die Notizen eines Psychotherapeuten soll es in »Sleeping Bears« gehen. Nichts wie hin. Die Berlinale bemüht sich inzwischen intensiv um die ersten Folgen internationaler Serien - man will Netflix und Konsorten auf den Fersen bleiben. »Sleeping Bears« ist eine israelische Serie, und ich hoffe inbrünstig auf die Fortsetzung, am besten synchronisiert. Im Mittelpunkt steht eine turbulente Familie, die in einem schönen Haus in ländlicher Umgebung lebt. Die Mutter ist Lehrerin an einer Schule für schwierige Jugendliche und in psychotherapeutischer Behandlung. Plötzlich tauchen Drohbriefe auf, die sehr intime Sätze aus ihren Therapiegesprächen enthalten. Völlig aufgelöst will sie ihren Therapeuten zur Rede stellen, doch der ist soeben tödlich verunglückt. Die gezeigten ersten beiden Folgen der Serie sind glänzend inszeniert, humorvoll und lebensnah. Das Programmheft verspricht: »Eine eigentlich private Geschichte wird zum Streifzug durch die israelische Gegenwart mit all ihren Abgründen.«

Steven Soderbergh zeigt uns in »Unsane - Ausgeliefert« endlich eine richtige, institutionelle Psychiatrie. Eine junge Frau ist umgezogen und arbeitet hart in ihrem neuen Job. Ein sexueller Kontakt mit einem Mann löst einen schweren akuten Angstzustand aus. Sie führt ein Krisengespräch in einer Poliklinik, wo die Therapeutin auch nach Suizidgedanken fragt. Ja, sie habe durchaus derartige Gedanken, meint sie, und unterschreibt artig das Formular, das ihr vorgelegt wird. Pflegekräfte geleiten sie auf die Station, die sie nun wegen der akuten Selbstgefährdung nicht mehr verlassen darf. Sie ist vorläufig untergebracht. Sie argumentiert, wird laut und wehrt sich, so kommt die Fremdgefährdung noch dazu; sie wird fixiert und zwangsmediziert und ist benebelt. Männer und Frauen sind in ihrem Schlafsaal gemeinsam untergebracht; die einzige Therapie besteht in der nachdrücklichen Vergabe von Psychopharmaka. Die junge Frau kämpft mit allen Mitteln um ihre Freiheit - vergeblich. Schließlich landet sie in einer riesigen Isolierzelle. So schnell also kann man in den USA interniert werden - solange die Krankenkasse bezahlt, und das sind üblicherweise sieben Tage. Wenn die Kasse nicht mehr zahlt, wird man als geheilt entlassen. Dies zumindest behauptet der Autor des Drehbuchs bei der Pressekonferenz im Anschluss und erhält dafür reichlich Beifall. Doch zurück zum Film und seinem schlichten Plot. Soderbergh wäre nicht Soderbergh, wenn er nicht ein zweites, suspensefähiges Topos einführen würde. Es gibt - so viel sei verraten - einen üblen Stalker in diesem Psychothriller. Mein Fazit? Soderbergh hat schon bessere Filme gemacht. Für viele war sowieso ein technisches Detail der eigentliche Knüller: Gedreht wurde mit dem iPhone. Dass der Film - holterdiepolter - mal kurz die Psychiatrie stigmatisiert, gerät darüber ganz aus den Augen. Doch wir vergessen nicht.

Manchmal führt die Suche nach psychiatrischen Sujets in eine Sackgasse, dann wieder in die Irre. Kein Wunder. »Our Madness« beginnt im Bettensaal einer psychiatrischen Klinik in Maputo, der Hauptstadt von Mosambik. Die Patientin Ernania spielt auf dem Drahtgeflecht ihres Bettes, entlockt ihm Töne, die anderen spielen mit. Eines Tages steht das Tor der Klinik offen, und Ernania läuft weg. Sie landet an seltsamen Orten. Sie trifft auf ihren Sohn und auf ihren Mann, beide verschwinden wieder. Aus ihrem Bettrost, in der Klinik noch ein Musikinstrument, ist plötzlich eine Art Flugapparat geworden, den sie durch die Gegend schleift. Die Landschaften ändern sich, pittoreske Schauplätze werden aufgesucht, bei dieser Flucht, diesem Irr- und Traumweg durch Afrika. Ich habe es aufgegeben, nach einer Botschaft zu suchen, und mich den schönen schwarzweißen Bildern überlassen.

Geflüchtete

Wie schon im letzten Jahr war das Elend der geflüchteten Menschen eines der zentralen Themen. Hier nur ein ganz kleiner Ausschnitt: Im Wettbewerb lief der Dokumentarfilm »Eldorado« des Schweizers Markus Imhoof. Zum Thema Flucht hat er einen sehr persönlichen Zugang, weil seine Familie 1941 ein italienisches Mädchen aufgenommen hatte. Imhoof reist zum Mittelmeer und erhält eine Drehgenehmigung auf einem der riesigen Marineschiffe der Aktion »Mare Nostrum«. Das Schiff nimmt vor der lybischen Küste 1.500 Menschen auf. Die Bilder sind erschreckend, gleichzeitig arbeiten die Rettungsmannschaften militärisch straff koordiniert. Für das einzelne Schicksal bleibt da kein Raum. Derartige Bilder hat man schon gesehen, zuletzt in »Fuocoammare«, dem Gewinnerfilm von 2016. Doch Imhoof geht weiter. Er besucht die Aufnahmelager, die illegalen Camps auf den Tomatenplantagen, das sogenannte Ghetto. Dort arbeiten nur die Männer, natürlich schwarz, die Frauen werden zur Prostitution gezwungen. Er folgt den Familien im Zug und ist dabei, wie sie an der Schweizer Grenze zurückgewiesen werden. Imhoof versucht auch Fluchtursachen wie unsinnige Subventionen anzusprechen. Mir fällt auf, dass man sich auf erschreckende Weise an das Elend gewöhnt hat. Es bleibt das übliche Seufzen und Schulterzucken.

In »Styx« trifft eine Frau, verkörpert von einer phänomenalen Susanne Wolff, die bisher jede noch so schwierige Situation beherrschte, an ihre Grenzen. Sie arbeitet als Notärztin und macht als Soloseglerin einen Trip zu einer Insel in der Nähe von St. Helena. Sie weiß, was sie tut, Adrenalin bringt sie erst auf die richtige Betriebstemperatur. Jeder Griff sitzt. Sie schwimmt auf dem offenen Meer, scheucht die Yacht durch den Sturm. Auch als in ihrer Nähe ein völlig überfülltes Flüchtlingsboot auftaucht, reagiert sie zunächst überlegt und beherzt. Sie legt jede Menge Wasserflaschen bereit; sie informiert die Küstenwache. Sie wirft einen Rettungsring aus und zieht einen Jungen an Bord. Nun wird sie nicht nur von ihrem Gewissen, sondern auch noch von dem Jungen bedrängt. In der Dunkelheit hören sie die Schreie und das Klatschen der Körper, die im Meer versinken. So vielen Menschen kann sie nicht helfen, und sie darf es nicht. Die Küstenwache verbietet es strikt. Ihr Dilemma wird immer größer. Natürlich ist der Zuschauer am Ende nicht so verzweifelt wie die Medizinerin - aber fast.

Ein Wartesaal und ungleich größerer Transitraum ist der »Zentralflughafen Tempelhof«. Ein Filmemacher aus Südamerika durfte zunächst überhaupt nicht, dann sehr limitiert über ein Jahr hinweg in dieser berühmt-berüchtigten Notunterkunft für Flüchtlinge drehen. Tempelhof beherbergt zwei extrem unterschiedliche Welten auf einem Gelände: die Notunterkunft mit ihren fragil abgetrennten Schlafkabinen und den vielen Flüchtlingen im Wartestand; und auf dem riesigen Freigelände die alternative Kultur der Großstadt, die Skater und Flieger, die Stadtgärtner mit ihren Hügelbeeten, die Jogger, Hunde und Kinder. Einen Durchgang zwischen diesen Welten gibt es nur in eine Richtung: Die Geflüchteten dürfen auf das Freigelände, doch die Unterkunft ist bewacht und abgeriegelt. Man erfährt, dass manche Asylanten dachten, die großen Ausstellungsstücke auf dem Gelände seien die Maschinen, mit denen sie nun unverzüglich wieder in die Heimat geflogen werden sollten. Die jungen Männer - deren Wartezeiten, deren Langeweile und deren Gänge durch die Mühlen der Bürokratie der Film dokumentiert - lachen über diese Ängste. Am Ende hat es einer von ihnen geschafft. Er zieht aus, er wird eine Ausbildung machen. Er wird viel allein sein. Inzwischen sind die Asylsuchenden ausgezogen, und - just wenn ich diesen Text schreibe - finden Obdachlose im Zentralflughafen Schutz vor der Kälte.

Ein höheres Wesen

Als bester männlicher Darsteller wurde das Milchgesicht Anthony Bajon prämiert. In »Das Gebet« verkörpert er den 22-jährigen Drogenabhängigen Thomas, der nach einer Überdosis in einer katholischen Gemeinschaft in den Bergen landet. Er zittert und zuckt sich durch den Entzug und passt sich allmählich an. Es gibt strenge Regeln, unter denen er enorm leidet. Er läuft weg, kehrt aber nach der Begegnung mit der Tochter eines Mitarbeiters, der unten im Dorf lebt, wieder zurück. Er findet sich ein, lernt die Gebete auswendig. Doch seine Frömmigkeit wird angezweifelt, z. B. von einer Oberin in Gestalt der heiligen Hanna Schygulla. Sie ohrfeigt ihn mehrfach, weil er behauptet, seine Gebete seien echt. Bei einem gemeinsamen Ausflug in die Berge stürzt er ab, erwacht aber am Morgen ohne Blessuren. Dies wertet er als Zeichen Gottes, er wird Priester. Der Film lässt am Ende offen, ob sich Thomas für das Zölibat oder die Liebe entscheidet. Bestechend ist die völlig unromantische Beobachtung dieses eher schlichten jungen Mannes, der sich dank der klaren Strukturen und der freundlichen Dynamik seiner Mitbewohner erstaunlich weiterentwickelt. Der Film missioniert nicht, aber er respektiert die Mission.

Eine schwere Abhängigkeitserkrankung bedarf einer Ersatzdroge. Für manche ist es Gott, für andere die Kunst, auch wenn sie vielleicht ein wenig gotteslästerlich daherkommt.

John Callahan war ein bekannter Cartoonist, dessen Autobiografie »Don't Worry, He Won't Get Far on Foot« Gus Van Sant jetzt verfilmt hat. Joaquin Phoenix spielt den übermütigen Trinker mit einer ihn selbst und andere umwerfenden Fröhlichkeit. Er trinkt sich zugrunde. Bei einer nächtlichen Autofahrt mit einem Flaschenbruder kommt es zu einem schweren Unfall, und Callahan wacht mit einer Querschnittslähmung auf. Er sitzt im Rollstuhl, kann auch die Arme kaum bewegen. Mithilfe eines Betreuers kann er wieder in seiner eigenen Wohnung leben, wo er unverändert fröhlich weitertrinkt. Schließlich landet er doch, wenngleich sehr skeptisch, bei einem eher ungewöhnlichen Meeting der lokalen Anonymen Alkoholiker. Donny hat das opulente Haus von seinen Eltern geerbt. Der langhaarige, schwule Moderator ist klar und freundlich. Die Gruppenmitglieder (unter ihnen Beth Ditto und Udo Kier) geben Kontra und begleiten den aufmüpfigen John Callahan gleichzeitig bei den berühmten Zwölf Schritten. Das ist keineswegs dröge, sondern ungeheuer witzig, wenn John z. B. auf der Suche nach seinem höheren Wesen bei den Geschlechtsorganen von Raquel Welsh landet. So what! Donny ist auch hier großzügig, in anderen Punkten aber sehr streng. John Callahan fängt an zu zeichnen - mit zittriger Hand, den einen Arm mit dem anderen stützend. Seine Cartoons, die den Film illustrieren, sind wirklich, wirklich komisch. Seine Sprüche sind witzig, und er bringt auch die Leser der Zeitschrift in Aufruhr, in der inzwischen seine Werke abgedruckt werden. Es ist ein schöner Recovery-Prozess, der hier dokumentiert wird. Callahan rast mit seinem Rollstuhl über die Bordsteine - und kippt auch mal um. Die jugendlichen Skater des Viertels bewundern ihn. Dass dann auch noch die Liebe in Gestalt seiner bildschönen ersten Physiotherapeutin Einzug in sein Leben hält, ist das einzige Tüpfelchen auf dem i von Kitsch.

Eine Klasse für sich

Wo soll man nun Gerd Kroskes Dokumentation »SPK Komplex« einordnen? Trotz eines leichten Psych-Faktors fällt es mir schwer. Denn es geht in diesem Film über das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) Heidelberg (1970-1971) nur ganz am Rande um psychisch Kranke, Psychotherapie und Psychiatrie. Am ehesten ist es noch die italienische Psychiatrie, die dank der vielen Einblendungen von Carmen Roll Erwähnung findet; sie hat nach ihrer Inhaftierung wegen der Mitgliedschaft in zwei kriminellen Vereinigungen (SPK und RAF) in Triest gearbeitet und ist dort bis heute aktiv. Leider gibt es keine Kommentare aus der deutschen Psychiatrie; Kroske ist es angeblich nicht gelungen, die involvierten und noch lebenden Psychiater - z. B. Heinz Häfner - vor die Kamera zu bekommen. Kroske hat die Geschichte des SPK erforscht, er hat nach den Übergängen, dem Scharnier zur RAF gesucht, und er hat Zeitzeugen gefunden und befragt. Die einzelnen Personen tragen im Film keine Namen, es fehlen also die üblichen »Bauchbinden«. Im Presseheft und auf der Homepage des Arsenal-Kinos lassen sich die fehlenden Informationen jedoch finden. Die meisten dieser Zeitzeugen kamen nach der ersten öffentlichen Vorstellung auf die Bühne, z. B. Lutz Taufer, Karl-Heinz Dellwo und Carmen Roll, die zur RAF gegangen waren. Besonders eindrucksvoll sind die Schilderungen Ewald Goerlichs, den man auch bei der Veranstaltung der Stiftung für Soziale Psychiatrie und des Psychiatrie Verlags am 22. November 2017 in Hamburg erleben durfte: »Wir wären besser bei Hegel geblieben.« Die historischen Fakten sind nicht zuletzt seit Christian Pross' wunderbar differenziertem Buch »Wir wollten ins Verderben rennen« bekannt. (Unterschiede zwischen Kroske und Pross gibt es vor allem in der Bewertung, in der Einordnung.) Der Film wird bereits am 19. April ganz regulär in die Kinos kommen. Wer sich für die Studentenbewegung und das SPK interessiert, dem sei ein Kinobesuch - unbedingt in der Gruppe - ans Herz gelegt. Bei den Vorstellungen im Rahmen der Sektion Forum hat sich nämlich gezeigt, dass der Film zu heftigen Diskussionen anregt und viele Erinnerungen an eigene Sehnsüchte und Kämpfe weckt. In jeder Vorstellung meldete sich hinterher ein Zeitzeuge, der selbst im SPK war, der ähnliche Wege gegangen war oder sowieso alles besser wusste. »Total misslungen«, fand ein Diskutant. Darüber muss gesprochen werden.

Weitere Berlinale-Filme auf
www.psychiatrie.de/filme



Don't Worry, He Won't Get Far on Foot
USA 2018; 113 Min.;
R: Gus Van Sant
D: Joaquin Phoenix, Jonah Hill, Rooney Mara
(Kinostart: Sommer)

draußen
Dokumentarfilm
Deutschland 2018; 80 Min.;
R: Johanna Sunder-Plassmann,
Tama Tobias-Macht

Eldorado
Dokumentarfilm
Schweiz/Deutschland 2018; 92 Min.;
R: Markus Imhoof

In Zeiten des Teufels
Philippinen 2018; 230 Min.;
R: Lav Diaz
D: Piolo Pascual, Shaina Magdayao, Angel Aquino

La Prière - Das Gebet
Frankreich 2018; 107 Min.;
R: Cédric Kahn
D: Anthony Bajon, Damien Chapelle, Hanna Schygulla

Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot
Deutschland/Frankreich/Schweiz 2018; 174 Min.;
R: Philip Gröning
D: Josef Mattes, Julia Zange

Our Madness
Mosambik/Guinea-Bissau/Katar/Portugal/Frankreich
2018; 90 Min.;
R: João Viana
D: Ernania Rainha, Bernardo Guiamba

Sleeping Bears
Israel 2017; 73 Min.;
R: Keren Margalit
D: Noa Koler, Yossi Marshek, Alma Zak

SPK Komplex
Dokumentarfilm
Deutschland/Italien 2018; 111 Min.;
R: Gerd Kroske
(Kinostart: 19. April)

Styx
Deutschland/Österreich 2018; 94 Min.;
R: Wolfgang Fischer
D: Susanne Wolff, Gedion Oduor Wekesa

The Best Thing you can do With Your Life
Dokumentarfilm
Deutschland/Mexiko 2018; 93 Min.;
R: Zita Erffa

Touch me not
Rumänien/Deutschland/Tschechische Republik/Bulgarien/Frankreich
2018; 125 Min.;
R: Adina Pintilie
D: Laura Benson, Christian Bayerlein, Tómas Lemarquis

Unsane - Ausgeliefert
USA 2018; 98 Min;
R: Steven Soderbergh
D: Claire Foy, Joshua Leonard, Jay Pharoah
(Kinostart: 29. März)

Zentralflughafen THF
Dokumentarfilm
Deutschland/Frankreich/Brasilien 2018; 97 Min.;
R: Karim Aïnouz

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Eleanor & Colette: Nicht ohne meine Zustimmung

Am 3. Mai 2018 wird der US-Spielfilm »Wenn dir Flügel wachsen« in unsere Kinos kommen. Das Drehbuch beruht auf der Geschichte der echten Eleanor Riese, die in den Achtzigerjahren ein wichtiges Recht für alle Psychiatriepatienten im Staat Kalifornien erkämpfte. Noch immer wird in medizinischen Lehrbüchern die sogenannte Riese-Anhörung erwähnt. Dass die spannende Geschichte ein gutes Ende hat, ist also hiermit bereits verraten.

Eleanor Riese leidet an den Folgen einer Hirnhautentzündung. Sie gilt - trotz Abitur - als leicht geistig behindert und hat eine erhöhte Anfallsbereitschaft. Außerdem wurde eine Schizophrenie diagnostiziert. Sie lässt sich bereitwillig medikamentös behandeln und begibt sich vor allem zur medikamentösen Einstellung immer wieder in die psychiatrische Abteilung des St. Mary-Hospitals in San Francisco. Sie reagiert mit zunehmenden Blasen- und Nierenproblemen auf das verordnete Neuroleptikum; andere Medikamente wirken nicht oder verstärken die Beschwerden noch.

Im Film und im »Fall Eleanor Riese« geht es um die Phase der kurzfristigen Unterbringung (3. bis 17. Tag) gegen den Willen des Patienten, ein in den USA übliches Prozedere. Bis zu dem hier vorgestellten Urteil wurden die Patienten in dieser Phase ohne »informed consent« medikamentös behandelt, also ohne Einwilligung. So muss es auch Eleanor Riese in einer besonders demütigenden Lage erleiden, und genau gegen diese Praxis im Staat Kalifornien klagt sie. Sie beauftragt eine Patientenanwältin, Colette Hughes, die sich wiederum zur Unterstützung an den Verfassungsrechtler Morton Cohen wendet. Gemeinsam nehmen sie den Kampf auf. Vor Gericht bleibt Colette Hughes eher im Hintergrund; dass sie vor ihrem Jurastudium zehn Jahre als Krankenschwester, davon fünf in der Psychiatrie, gearbeitet hat, hilft der Sache aber enorm: Im Gegensatz zu dem ausgefuchsten Juristen kennt sie sich aus mit dem Klinikalltag inklusive Neuroleptika. Der Kampf durch die Instanzen sei hier nicht in allen Details verraten. Es geht auf und ab, und Colette Hughes wendet sich an viele psychiatrische Kliniken, bis sich das Blatt wendet. Am Ende unterstützt sogar die American Psychological Association das Vorhaben - und der State Court California entscheidet 1987, dass auch zwangseingewiesene Patienten das Recht haben, über die Anwendung von Antipsychotika informiert zu werden und mitzubestimmen. Eine unfreiwillige Behandlung ist (abgesehen von definierten Ausnahmen) nur mit einem richterlichen Beschluss möglich:
www.apa.org/about/offices/ogc/amicus/riese.pdf.

Natürlich erinnert der Film an die deutsche Debatte um Zwangsmedikation der letzten Jahre - ich finde, das macht ihn besonders interessant und regte die Produktion möglicherweise an. Denn er wurde mit deutschen Fördermitteln finanziert, und entscheidende Szenen wurden in Köln gedreht.

Hauptdarstellerin Helena Bonham Carter nutzt die Gelegenheit und zieht als drollige Nervensäge Eleanor alle Register; Hilary Swank verkörpert die total verspannte Anwältin mit Bravour. Ganz allmählich kommen sich die beiden Frauen näher. Es menschelt also auch im Film und in der gemeindepsychiatrischen Szene San Franciscos, bis sich Eleanor am Ende stolz auf ihrem neuen Sofa drapiert.

Eleanor & Colette
USA 2017; 115 Min.
R: Bille August
D: Helena Bonham Carter, Hilary Swank, Jeffrey Tambor
(Kinostart: 3. Mai 2018)

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 160 - Heft 2/18, April 2018, Seite 47 - 52
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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E-Mail: info@dgsp-ev.de
Internet: www.dgsp-ev.de
Zeitung "Soziale Psychiatrie": www.dgsp-ev.de/unsere-zeitschrift
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2018

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