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FORSCHUNG/158: Friedrich Knilli, der Begründer der Medienwissenschaft in Deutschland wird 90 - eine Würdigung (idw)


Technische Universität Berlin - 04.02.2020

TU Berlin: Friedrich Knilli zum 90. Geburtstag

"Kultur ist das, was wir leben"
Friedrich Knilli, der Begründer der Medienwissenschaft in Deutschland wird 90 - eine Würdigung


Am 14. Februar 2020 wird Prof. em. Dr. Friedrich Knilli, einer der Begründer der Medienwissenschaft in Deutschland, 90 Jahre alt. Der gebürtige Österreicher leitete von 1972 bis 1998 das Fachgebiet Allgemeine Literaturwissenschaft, Schwerpunkt Medienwissenschaft, an der TU Berlin und gründete hier den Hauptstudiengang "Diplom-Medienberatung". In seiner Forschung fokussierte er sich seit Mitte der Siebzigerjahre auf die Darstellung der Juden in den Medien. Der breiten Öffentlichkeit wurde er durch zahlreiche Bücher, Hörspiele, Filme und Dokumentationen zum Thema bekannt. Große Aufmerksamkeit erregte er insbesondere mit der Biografie "Ich war Jud Süß" über Ferdinand Marian, Hauptdarsteller in dem antisemitischen Propagandafilm "Jud Süß" von 1940.

Eine Würdigung von einem Wegbegleiter, Prof. Dr. Siegfried Zielinski:

"Verwundert oder gar schockiert stehen heute Viele vor einer Welt, die wesentlich durch die neuen Medien bestimmt wird. Im Sekundentakt werden Millionen von Bildern, Tönen und Texten durch die weltumspannenden Netze der Kommunikation gejagt, die globalen Player des Internets lesen uns jeden Kaufwunsch an den Fingerspitzen ab, mit denen wir Tasten und Bildschirme der mobilen Zeitmaschinen bedienen, die uns Tag und Nacht begleiten. Friedrich Knilli haben wir es wesentlich zu verdanken, dass man in Berlin bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert damit begann, die Medien systematisch zu erforschen und ihren kritischen Gebrauch zu unterrichten.

Die neuen Medien sind nicht am Ende des 20. oder gar erst am Beginn des 21. Jahrhunderts mit der Ankunft des Internets als Massenmedium erfunden worden. Sie haben eine weit längere Geschichte. Das gilt auch für ihr Studium, für die kritische Auseinandersetzung mit ihnen. Keimzelle einer neuen Theorie und Praxis in der Erforschung neuer Medien war das 1961 gegründete Institut für Sprache im Technischen Zeitalter an der Technischen Universität Berlin. Zu seiner Unterstützung holte dessen Gründer Walter Höllerer 1962 den jungen Friedrich Knilli aus Graz an die Spree. Wenige Jahre später etablierte der studierte Maschinenbauer, Psychologe und frühe Radioexperte aus Österreich die erste medienwissenschaftliche Abteilung an einer deutschen Universität. Für lange Zeit war es das einzige Institut in Deutschland mit einer dezidiert medienwissenschaftlichen Ausrichtung.

Der Groschenheft-Autor war an der TU Berlin ebenso willkommen wie der Arbeiterschriftsteller, der DDR-Dramatiker und die polnische Theaterlegende

Bei Friedrich Knilli an der TU Berlin zu studieren, war ein großartiges Abenteuer, aber auch eine Herausforderung. Hier konnte man Töne hören und Bilder sehen, die im Übrigen akademischen Kontext als verpönt galten. Kultur ist das, was wir leben und was unser Leben bestimmt - das war sein Motto. Wir analysierten politische Fernsehsendungen wie den sonntäglichen Journalistenstammtisch "Internationaler Frühschoppen", Werbeclips für Fischstäbchen oder Maggi ebenso wie brutale Italo-Western, Kino-Krimis der Schwarzen Serie, kommerzielle pornografische Filme oder gedrucktes und audiovisuelles Propagandamaterial der Nazis. Der Autor der Groschenhefte mit dem Superhelden Jerry Cotton, Heinz Werner Höber, war an der TU Berlin der 1970er Jahre ebenso willkommener Gast wie der Arbeiter-Schriftsteller Max von der Grün, der Dramatiker mit besonderem DDR-Reisepass Heiner Müller oder die polnische Theaterlegende Andrzej Wirth.

Ähnlich wie man heute für die schnellen telematischen Medien deren Einmaleins lernen muss, um sie sinnvoll nutzen zu können, lehrten Friedrich Knilli und sein kleines Team an der TU Berlin ein neues ABC für den Umgang mit audiovisuellen Medien. Die erste Einführung in die Film- und Fernsehanalyse von Friedrich Knilli und seinem Assistenten Erwin Reiss wurde 1971 veröffentlicht. Noch im selben Jahr folgte die erste Semiotik des Films mit Beiträgen des jungen Umberto Eco, Pier Paolo Pasolinis und Kenneth C. Knowltons, der 1963 bereits eine Methode entwickelt hatte, mit Hilfe eines Computers Film-Animationen herzustellen.

Adolf-Grimme-Preis und wichtigste Anlaufstelle für die junge akademische Medienszene in Deutschland

Für das Buch zu der Fernsehdokumentation "Auf, Sozialisten, schließt die Reihen! - Deutsches Arbeitertheater 1867-1918" wurde Friedrich Knilli 1971 mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet. Er avancierte zum Star und zur wichtigsten Anlaufstelle für die noch ganz junge akademische Medienszene in Deutschland. Er wurde "Unser Marshall McLuhan", der, im Gegensatz zu dem kanadischen Super-Star der Medientheorie Herbert Marshall McLuhan, auch noch über spannende Anschlüsse an die Kritische Theorie verfügte, an Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, an Bertolt Brecht oder Walter Benjamin.

Friedrich Knilli wurde zu Vorträgen in die USA eingeladen, die Verlage rissen sich um die Veröffentlichung seiner Ideen. Hanser druckte 1973 nicht nur die "Neuen Ansichten einer künftigen Germanistik", in denen Friedrich Knilli neben Hans-Magnus Enzensberger, Gert Mattenklott und dem jungen Peter Sloterdijk seine Positionen zum Verhältnis von Massenmedien und Literaturwissenschaft vorstellte. 1974 veröffentliche der Verlag in seiner legendären gelben Reihe auch das erste überaus kritische Medienmagazin in Buchform mit dem provokanten Untertitel "Im deutschen Reich der Zwerge, Riesen und Schutzengel. Mythen von Kirche und Kapital", das Friedrich Knilli mit seinem Team herausgab.

Curricula zur Medienberatung, Auseinandersetzung mit der NS-Filmproduktion und fiktive Autobiografie "Ich war Jud Süß"

Parallel zur Ausarbeitung von Curricula zur "Kultur- und Technikvermittlung", zur "Medienberatung" und zur Etablierung einer jungen Forschungsszene mit den Medien im Zentrum installierte Friedrich Knilli in den folgenden Jahren zwei Schwerpunkte an der TU Berlin. Wiederum völlig einmalig befasste er sich mit der Verbesserung von technischen Dokumentationen als neuer und künftig immer wichtiger werdender Form der Textkommunikation. Und er begann seine jahrzehntelange Forschung zur Analyse der Kulturindustrie der deutschen Nazis, die für ihn immer wieder in der Auseinandersetzung mit "Jud Süß" (1942), dem antisemitischen Paradestück der NS-Filmproduktion, kulminierte. Schließlich schlüpfte er sogar in die Rolle des Hauptdarstellers von Veit Harlans berühmt-berüchtigtem Film und schrieb dessen fiktive Autobiografie - "Ich war Jud Süß - Die Geschichte des Ferdinand Marian", die der Henschel-Verlag 2000 und 2010 veröffentlichte.

Wie die Nazis die Köpfe und Herzen der Menschen eroberten, die sie unterstützten, vor allem wie Künstlerinnen und Künstler sich in den Dienst der NS-Mordfabrik stellen und einfach mitmachen konnten - diese drängenden Fragen lassen Friedrich Knilli bis heute nicht los. Bei dieser radikalen Aufarbeitung macht er auch vor der eigenen Familiengeschichte nicht halt. "Höllenfahrt" heißt das Hörspiel über den "Aufstieg und Fall des Herrenschneiders Josef Knilli in Graz", das er 2018 für das Radio inszenierte und mit zahlreichen anderen Medien begleitete. Mit diesem Medienexperiment knüpft der Begründer der deutschen Medienwissenschaft 60 Jahre nach seiner legendären Kritik am "Deutschen Schallspiel" nicht nur an seine alte Zuneigung zum Radio wieder an. Er unterstreicht auch noch einmal, wie wichtig für ihn die Wechselwirkung von Medientheorie und Medienpraxis immer gewesen ist. Kritisches Denken und Machen durchdringen einander. Der Stoff der Höllenfahrt soll nun zur Vorlage für ein Fernsehspiel werden. Friedrich Knilli hat noch viel vor."

Prof. Dr. Siegfried Zielinski, Berlin, Januar 2020



Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution52

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Technische Universität Berlin, 04.02.2020
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Februar 2020

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