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INTERVIEW/003: Arnold Schölzel, Chefredakteur jW, zu Fragen linker Pressearbeit (SB)


Interview mit Arnold Schölzel am 30. November 2011 in Hamburg


Als Chefredakteur der linken Tageszeitung junge Welt (jW) hat es Arnold Schölzel mit Herausforderungen und Problemen besonderer Art zu tun. Dem Schattenblick berichtete er nach einer Veranstaltung zur Kontroverse um den sogenannten "linken Antisemitismus" [1] über Entwicklungen, die die jW zum Teil selbst zum Gegenstand hatten.

Arnold Schölzel - Foto: © 2011 by Schattenblick

Arnold Schölzel
Foto: © 2011 by Schattenblick

Schattenblick: Könnte man nicht sagen, daß 2011, was die Breitenwirkung betrifft, ein erfolgreiches Jahr für die junge Welt (jW) ist?

Arnold Schölzel: Das trifft zu. Das fing natürlich mit der Rosa-Luxemburg-Konferenz an und setzte sich die ganze Zeit fort in Hinsicht auf Gesine Lötzsch und Inge Viett. Ich erinnere mich, daß immer noch mit Bezug auf Inge Viett zwei Tage vor der Rosa-Luxemburg-Konferenz vor dem Terrorismus, der am 1. Mai unmittelbar bevorstünde, gewarnt wurde. Das ging noch den Sommer über so weiter. Dann kam der 13. August und diese Titelseite, die uns viel Kritik, aber wesentlich mehr Zuspruch eingebracht hat. Wir können auch ökonomisch in diesem Jahr nicht klagen.

SB: Es hat sich also nicht so ausgewirkt, wie es sich die Gegner der jW erhofft haben, nämlich daß es zu einer Abwanderung von Lesern oder Abonnenten kommt?

AS: Mich haben zwei Dinge in der Reaktion der Führung der Linkspartei auf die Titelseite vom 13. August sehr erstaunt. Erst einmal, daß man dort offenbar wirklich die Vorstellung hatte, die jW sei in irgendeiner Art und Weise abhängig von der Partei oder sogar von ihren Anzeigen, die sie bei uns in sehr geringer Anzahl schaltet. Wir haben von der Linkspartei nur einen Bruchteil dessen an Anzeigengeldern kassiert als zum Beispiel die taz. Ich glaube, es waren über 100.000 Euro, die die taz allein von der Linkspartei erhalten hat. Trotzdem hat man sich offenbar eingebildet, uns ernsthaft schaden zu können. Der zweite Punkt ist, daß ich wirklich nicht erwartet habe, daß dieser Boykottaufruf in der Linken über die Linkspartei hinaus einen unglaublichen Solidaritätseffekt mit der jW bewirkt. Da hat man offenbar eine Grenze überschritten und einen Punkt erreicht, wo viele Leute sagen, das geht einfach nicht, auch wenn ich mit der Sache nicht einverstanden bin. Das haben wir wegen dieser Seite und anderer Dinge auch zu hören bekommen. Aber daß eine der wenigen linken Tageszeitungen dann auch noch bewußt kaputtgemacht werden soll, ist der blanke Irrsinn. Das hat dann tatsächlich dazu geführt, daß der Zuspruch zugenommen hat.

SB: Hinsichtlich der Rede Inge Vietts auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz gab es ein gerichtliches Verfahren gegen Sie.

AS: Paragraph 19 im Pressegesetz des Landes Berlin besagt, daß der Verbreiter einer Straftat selbst eine Straftat begeht. Das war zu prüfen. Die Staatsanwaltschaft hat einfach, wie auch im Verfahren gegen Inge Viett, behauptet, es handelte sich um die Billigung konkreter Brandstiftungen gegen Bundeswehrfahrzeuge und -anlagen in Berlin und Brandenburg, obwohl das im Text nun wirklich nicht drin stand. Der Richter hat mich dann in erster Instanz vom Vorwurf freigesprochen, verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes zu sein, mit der Begründung, im Pressegesetz steht nur drin, daß die Presse berichten darf. Ob sie hinterher oder vorher berichtet, spielt offensichtlich beim Gesetzgeber keine Rolle, zumal es sich ja um den Diskussionsbeitrag gehandelt hat, den wir vorangekündigt haben. Der Staatsanwalt hatte den Text nach eigenem Bekunden weder gelesen noch sich groß darum gekümmert. Schon während der Verhandlung hat er angekündigt, durch mindestens drei Instanzen gehen zu wollen, da er eingesehen habe, daß er hier keine großen Chancen hat. Das ist ein politisch motivierter Verfolgungswille, würde ich sagen, der durch die juristische Problematik und durch das Gewicht, das dieser Text hat, in keiner Weise gerechtfertigt ist.

SB: Das Verfahren gegen Sie ist jetzt abgeschlossen?

AS: Nein, die Staatsanwaltschaft hat Berufung eingelegt.

SB: Jetzt ist es zu einer Verurteilung von Inge Viett gekommen, während Thies Gleiss, gegen den am gleichen Tag in einem ähnlich gelagerten Fall verhandelt wurde, ein Freispruch erging. Hing sein Fall ebenfalls mit der jW zusammen?

AS: Richtig. Er hat im Mai 2010 nach den Sondierungsverhandlungen in Nordrhein-Westfalen zwischen Grünen und SPD auf der einen und der Linkspartei auf der anderen Seite geschrieben, daß in diesen Gesprächen von den Grünen und der SPD zuerst verlangt worden ist, daß die Linkspartei ihr Verhältnis zur DDR und den Mauertoten klärt. Dem entgegnete Gleiss in der jW sinngemäß, daß es SPD und Grüne waren, die "Mördersoldaten" nach Afghanistan geschickt hätten und sie doch ersteinmal ihr Verhältnis zum Krieg überprüfen müssten, weil dort wesentlich mehr Menschen getötet wurden als an der Mauer. Deswegen wurde er in erster Instanz zu 2500 Euro Geldstrafe verurteilt. In der zweiten Instanz wurde er freigesprochen, weil die Richterin ähnlich wie im Soldaten-sind-Mörder-Urteil 1932 gesagt hat, es handelt sich um eine allgemeine Debatte. Da darf auch zugespitzt formuliert werden, da tritt das Persönlichkeitsrecht hinter dem Recht auf Meinungsfreiheit zurück. Es ist auch niemand konkret beleidigt worden. Wer beleidigt worden wäre, hätte klagen können, sagte die Richterin. So viel ich weiß, galt sein Vorwurf der SPD und den Grünen, nicht der Bundeswehr.

SB: Wird gegen die jW häufiger aufgrund des Persönlichkeitsschutzes Klage erhoben? Das wäre dann eine spezifische Form, journalistische Möglichkeiten einzuschränken.

AS: Nein, das ist lange nicht geschehen. Das ist sehr selten.

SB: Also handelt es sich dabei zumeist um politische Vorwürfe.

AS: Ja, immer wenn juristisch kein eindeutiger Straftatbestand gegeben ist, aber es zweifellos eine Diskussion unter den Juristen darüber gibt, und wenn dann nach meinem Wissen die Staatsanwaltschaft an der langen Leine zum Beispiel von Politikern der CDU läuft, die eben auch Anwälte sind und das Strafverfahren hinter den Kulissen betreiben. Das war im letzten Jahr der Fall, als ein Strafverfahren gegen einen Interviewpartner von uns und gegen mich als Verbreiter und Verantwortlicher eingeleitet wurde. Der hatte gesagt, der Herr aus Hohenschönhausen sei pathologisch, was man daran erkennen könne, daß er noch die Eskimos auf ihre Stasi-Vergangenheit hin untersuchen lassen würde. Da ist dann tatsächlich, wie mir bekannt ist, ein CDU-Rechtsanwalt, der in Berlin eine große Nummer in der CDU spielt, hinter den Kulissen tätig geworden und hat die Staatsanwaltschaft veranlaßt, eben nach dem Freispruch in erster Instanz in Berufung zu gehen. Diese mußte sich dann vom Vorsitzenden Richter im Landgericht allerdings anhören, daß es schon ein starkes Stück sei, so etwas angesichts der Aussichtslosigkeit überhaupt zu probieren. Das ist ein politisch motivierter Feldzug der Berliner Justiz, die offenbar irgendwelche Punkte sammeln will.

SB: Wie kommt ein Titel wie der des 13. Augusts redaktionell zustande, wird das auch kontrovers diskutiert?

AS: Ich war nicht da, sondern in der Zeit in Urlaub, und kenne das auch nur von meinen Kolleginnen und Kollegen. Es war so, daß alle ohnehin schon von dieser Wallfahrts-Atmosphäre, die vor dem 13. August entfacht wurde, abgestoßen waren. Und als dann am Donnerstag abend noch verkündet wurde, am Sonnabend würden in Berlin um 12 Uhr mittags die Glocken geläutet und daß dann alles eine Minute lang still steht, da haben sich einige gesagt, jetzt reicht es, jetzt muß man dagegenhalten. An dem, was dabei herausgekommen ist, haben sich mehrere Leute beteiligt. Diese 28 Sätze waren insgesamt eine Provokation gegen diesen Schwefelgestank und dieses Weihrauchfaßgeklimper, die um den 13. August entfaltet wurden. Und wie das so ist bei politischem Antiklerikalismus schießt man doch über das Ziel hinaus. Es war eine Provokation mit satirischen Bestandteilen, 28 Jahre Club Cola oder so, was übrigens gar nicht stimmt. Die gab es erst seit 1967. Aber auch ernstgemeinte Sachen: 28 Jahre kein Krieg, wo uns übrigens jetzt junge Journalisten aus Niedersachsen, die bei uns waren, die Frage gestellt haben: Ja, aber damals war doch Kalter Krieg und die Leute hatten Angst. Wenn wir ihnen dann sagen, ja, aber in den ersten zehn Jahren nach 1990 sind allein in Jugoslawien 200.000 Leute ums Leben gekommen, insbesondere bei den auch von Deutschland initiierten Nachfolgekriegen, hatten die das überhaupt nicht auf dem Schirm.

SB: Die Redaktion stand also im wesentlichen geschlossen hinter der Aktion.

AS: Ja. Es gab eher Diskussionen über die Sonderbeilage, die wir zum 13. August gemacht haben, weil einigen zum Beispiel der Punkt fehlte, daß das natürlich auch eine Notmaßnahme war. Doch gegen die Seite 1 wurde überhaupt nichts eingewendet. Wer behauptet, das sei eine Art Feier gewesen und man wolle die Mauer wiederhaben, der redet Unsinn.

SB: Auch die Linke Medienakademie (LiMa) hat sich gegen die jW gestellt, aber das scheint eine längere Geschichte zu sein.

AS: Sagen wir mal so, es gab bei uns im Verlag und in der Redaktion unterschiedliche Auffassungen, wie wir mit der Linken Medienakademie umgehen. Aus meiner Sicht war es immer ein Unternehmen jener Leute, über die wir heute abend hier gesprochen haben, also antideutsch und taz-orientiert. Wir standen ihr sehr distanziert gegenüber. Dann war es aber so, daß Teilnehmer der Linken Medienakademie wohl gesagt haben sie verstehen nicht, warum die junge Welt nicht geladen ist und irgendwelche Angebote macht. Also haben wir Angebote gemacht und uns insofern daran beteiligt. Eigentlich sollte auch eine Veranstaltungsreihe stattfinden, die dann aber nicht zustande gekommen ist, weil die taz nicht zulassen wollte, daß ich im taz-Gebäude als Diskussionspartner auftrete. Da wird dann meine Tätigkeit für die Staatssicherheit herausgeholt. Gut, wenn sie nicht wollen, haben wir damals gesagt, dann eben nicht. Wir haben eine Zeitlang kooperiert, aber nachdem sie dieses lächerliche Theater aufgeführt haben, war Schluß. Die taz hat sich dazu mit am blödesten, geradezu unterirdisch geäußert.

SB: Im Grunde genommen kann es für die Linke gar kein Streitpunkt sein, wie man zur taz steht, weil sie eine eindeutige Karriere in die bürgerliche Mitte gemacht hat.

AS: Ja sicher. Ich betrachte die taz nicht als linke Zeitung, aber das Neue Deutschland und die taz arbeiten nicht nur dort zusammen, auch sonst habe ich den Eindruck, daß sie in jeder Beziehung viel miteinander gemacht haben.

SB: Es gab noch einen anderen Disput dieses Jahr, nämlich die Auseinandersetzung in Athen zwischen Autonomen und Anarchisten auf der einen und der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) auf der anderen Seite. So wurde Heike Schrader heftig aus der autonomen Ecke dafür kritisiert, daß sie die KKE in Schutz genommen habe. Wie verhält sich die jW in solchen Konflikten und zu außerparlamentarischen Bewegungen im allgemeinen?

AS: Heike Schrader hat sich aus meiner Sicht bemüht, die Position beider Seiten in Athen darzustellen. Diese Kritiken kenne ich nicht. Ich habe manchmal bloß den Eindruck, man verwechselt da wirklich die Botschaft mit dem Boten. Unser Bestreben ist, als jW präsent zu sein, wo wirklich relevante gesellschaftliche Bewegungen entstehen, das heißt im außerparlamentarischen Raum, ob das jetzt Wendland war oder Stuttgart 21, ob Occupy oder andere Entwicklungen. Dort versuchen wir schon, uns zu präsentieren und auch Interessenten zu gewinnen, weil wir immer wieder feststellen, daß es einen großen Bedarf nach einer Zeitung wie die jW gibt, die nach wie vor vielen nicht bekannt ist. Das versuchen wir natürlich zu ändern. Für uns bleibt die Arbeit in den Gewerkschaften bzw. die Berichterstattung über das, was in den Gewerkschaften und Betrieben los ist, vorrangig. Das ist immer noch die größte Organisation der Arbeiterbewegung in der Bundesrepublik. Mein Eindruck ist schon, daß wir ungeachtet der winzigen Auflage mit entsprechend geringer Reichweite unter vielen linken Gewerkschaftlern inzwischen einen Namen haben und auch zur Pflichtlektüre geworden sind. Daran arbeiten wir weiter.

SB: Die jW hat sich in der Palästina-Frage sehr eindeutig positioniert und auch zum Thema Libyenkrieg klar geäußert, stößt aber damit in der Linken nicht unbedingt auf Zustimmung, zumal einige Linke den Libyenkrieg tatsächlich befürwortet haben. Da finden Sortierungen statt. Müßte sich die jW da nicht überlegen: Bewegen wir uns nicht vielleicht in eine Außenseiterposition hinein, die für uns auch von unserer Verbreitung her schlecht wäre?

AS: Man könnte es jetzt etwas großkotzig so formulieren: Die jW hat, was Krieg, Frieden und andere Entwicklungen der letzten 20 Jahre angeht, immer recht behalten. Das hilft einem aber nichts, weil man damit auf weiter Flur ziemlich allein ist. Das ist ein echtes Problem, aber natürlich kein Grund, Positionen, für die wir gute Argumente haben und bei denen wir immer wieder feststellen, daß wir damit sehr viele Verbündete finden, aufzugeben, auch wenn in der Kriegsfrage heftig daran gearbeitet wird, die Linke auseinanderzudividieren und zu spalten. Die Position, ich kann sie immer nur wiederholen, ist: Die UN-Charta ist auf das klassische Souveränitätsrecht der Staaten gegründet und nicht auf Interventionismus auf der Grundlage von Selbstmandatierung der NATO oder der westlichen Wertegemeinschaft. An dieser Position werden wir auch weiter festhalten, weil ich der Meinung bin, daß der eigentliche Zivilisationsbruch, der nach 1990 eingetreten ist, im fortschreitenden Rechtsnihilismus auf völkerrechtlichem Gebiet besteht. Das war in den Jugoslawienkriegen und dann insbesondere beim NATO-Luftkrieg 1999 mit Selbstmandatierung - auch nach völkerrechtlichen Maßstäben ohne Mandat der UNO - illegal. Diesen Rechtsnihilismus, der auch innenpolitisch fortschreitet, werden wir allerdings bekämpfen, denn damit wird nun wirklich eine Errungenschaft der europäischen Neuzeit zur Debatte gestellt wie noch nie in der Geschichte. Und ich bin mir sehr bewußt, was ich damit sage, auch in Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg.

Noch nie wurde in dieser Art und Weise so offen propagiert, daß man nach Belieben Gelegenheitskriege führt. Ich erinnere nur daran, daß Herr Sarkozy mal eben so im Vorbeigehen die Pfründe zweier Milliardärsfreunde in Côte d'Ivoire gesichert hat, unter Einbeziehung von dort stationierten UNO-Truppen, von seinen eigenen Truppen ganz zu schweigen. Das ist inzwischen die Realität, über die fast niemand mehr redet. Das ist eine so zentrale Frage, daß ich dafür auch in Kauf nehme, wenn das nicht jeder ohne weiteres versteht. Ich habe vorhin die Geschichte erzählt, daß die jungen Leute schon nicht mehr den Jugoslawienkrieg von 1999 als bewußten Krieg von Rot-Grün hier in Deutschland wahrnehmen, daß deutsche Bomber 1999 zum dritten Mal in einem Jahrhundert, nach 1914 und 1941 Belgrad zerschossen haben. Das ist schon nicht mehr im Gedächtnis. Es wachzuhalten und darin eine eindeutige Linie zu fahren, halte ich allerdings für eine sehr wichtige Angelegenheit. Ich bin letztendlich auch optimistisch, daß wir dieses Alleinstellungsmerkmal, das wir da tatsächlich immer mehr haben, vielleicht auch wieder verlieren werden. Schön wäre es.

SB: In der jüngst ausgebrochenen Debatte um den sogenannten Rechtsterrorismus schwingt der Vorwurf mit, daß es sich dabei um eine DDR-spezifische Entwicklung handelt. Wie sehen Sie das aus der Perspektive einer Zeitung, die im Osten verwurzelt ist?

AS: Da zitiere ich gerne Sahra Wagenknecht, die neulich in einer Talkshow in Richtung Rainer Brüderle sagte: Immer wenn Ihnen nichts einfällt, kommen Sie mit der DDR. Der behauptete auch, daß sie für die Verstaatlichung ist. Das ist hier dasselbe. Ich kann dazu nur sagen, daß die NPD 1964 nicht in der DDR, sondern in der Bundesrepublik gegründet wurde. Ich weiß selber aus Recherchen in den 90er Jahren in Braun-Town Schwedt, daß mir die Leute dort vor Ort erzählt haben, bereits eine Woche nach der Grenzöffnung in Berlin am 9. November 1989 hätten Nazikader schön aufgeteilt landesweise auf den Schulhöfen gestanden und mit Devotionalien um sich geworfen und Schulkinder rekrutiert.

Es ist so ähnlich wie in der Antisemitismusdebatte. Es wird unheimlich viel gelogen, und es dient dem Zweck, eine längst kodierte Norm des bundesdeutschen Medienbetriebs mit Ausnahme von Neues Deutschland und jW immer wieder zu spulen: rot gleich braun. Der Osten ist nazistisch. Das wird fortgesponnen, faktenfrei und faktenresistent. Es ist völlig klar, daß es im Osten einen Resonanzboden gab, auf den diese Nazis trafen. Es war chic unter den Skinheads, die sich in den 80er Jahren in der DDR ausgebreitet hatten, gegen den Antifaschismus zu sein. Ich kann nur sagen, die 80er Jahre waren so in der DDR, daß weitgehend Meinungsfreiheit leider auch in dieser Hinsicht herrschte, so daß sie eben auch öffentlich aufgetreten sind. Den richtigen Organisationsschub und die finanzielle Unterstützung bekamen sie dann vom Verfassungsschutz und den Organisationen, die der Verfassungsschutz laut Bundesverfassungsgericht bekanntlich führt. Die NPD wurde wegen fehlender Staatsferne nicht verboten.

Nun weiß man, daß einzelne Leute in Thüringen 200.000 DM vom Verfassungsschutz bekommen haben, um den Thüringer Heimatschutz und andere Kader aufzubauen. Neofaschistische Rockkonzerte wurden subventioniert, Phamphlete, ganze Zeitungen und Periodika von denen finanziert. Rechte sind überhaupt keine Gefahr, nur Linke. Im Sendegebiet des Mitteldeutschen Rundfunks, also in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt, lautet die Staatsdoktrin: Es hat nie einen Faschismus im Zweiten Weltkrieg gegeben. Es gab nur den Terror der DDR. Und alles, was irgendwie noch links ist, ist dasselbe wie DDR und gehört verboten. Da brauchte nicht erst Kristina Schröder zu kommen. Das ist dort, würde ich sagen, Grundlagenfolklore. Warum hat sich der Zentralrat der Juden oder die Vereinigung der Wehrmachtsdeserteure aus der sächsischen Stiftung zurückgezogen? Weil man dort über den Faschismus nicht reden will, sondern nur über das, was nach 1945 passiert ist, und zwar in verfälschender und auch absurder Form.

Davon ist das gesamte Bildungswesen in diesen Ländern betroffen bis dahin, daß man einem Herrn Jesse, also einem ausgewiesenen Verfassungsschutzmann, einen Lehrstuhl gibt für etwas, das ich nicht wissenschaftlich nennen kann, sondern als eine Art Esoterik bezeichnen würde, zur Behandlung dieser sogenannten Extremismustheorie. Das ist Irrationalismus in einer irrationalen Gesellschaft, und ein Teil dieser Geschichte ist auch der Extremismus, der dort so sehr verankert ist, daß mir Leute aus Sachsen, mit denen ich telefoniere, sagen: Die Nazis haben unseren Ort so im Griff, daß wir uns nicht trauen, offen die Printausgabe der jW zu abonnieren.

Man schaue nur nach Limbach-Oberfrohna. Panorama war im Februar dort und hat Nazis gefilmt, die sich jeden Abend versammeln und "In Buchenwald, in Buchenwald, da machen wir die Juden kalt" singen. Anschließend geht das Produktionsteam zum Bürgermeister, und der sagt: "Das ist mir anders berichtet worden, aber von dem, was sie erzählen, weiß ich nichts." Dann gehen sie hin, filmen das nochmal und treten wieder vor den Bürgermeister. Nein, das gibt es nicht. So läuft das. Es gibt Morde, aber es gibt sie wieder nicht. Es gibt keine Nazis. 140 Tote, vielleicht sogar 180 Tote, na und, sagt die Staatsanwaltschaft, das hat mehr mit Inge Viett und mir zu tun. So wie die Antisemitismus-Debatte Teil des beherrschenden Irrationalismus ist, mit dem man die Leute im Griff hat, gehört auch diese Geschichte dazu. Natürlich ist das kein Witz, wenn es in einer Satire heißt, daß die NPD überlegt, ob sie den Verbotsantrag für den Verfassungsschutz zurückzieht, weil da zu viele V-Leute drin sind. Das ist eigentlich kein Witz.

SB: Herr Schölzel, ich bedanke mich für das Gespräch.


Fußnote:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0076.html

Arnold Schölzel mit SB-Redakteur - Foto: © 2011 by Schattenblick

Arnold Schölzel mit SB-Redakteur
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6. Dezember 2011