Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → REDAKTION

REZENSION/013: "Rupert Neudeck - Der radikale Samariter" (arte) (SB)


Gehobelt, gefeilt und glatt geschliffen


arte-Dokumentation über Rupert Neudeck, eine durchaus umstrittene Figur im Helfergewerbe



Es gibt zahllose Menschen auf der ganzen Welt, von deren helfender Tätigkeit niemand erfährt, auch wenn sie sich unter Einsatz ihres Lebens, ihrer Gesundheit oder auch nur liebgewordener Gewohnheiten und Bequemlichkeiten für ihre Mitwelt einsetzen. Diese Menschen sind im stillen tätig, sie benötigen weder Rampenlicht noch Bestätigung, um für andere da zu sein. Das kann man von Rupert Neudeck nicht behaupten. Für ihn, der einige Jahre für den Deutschlandfunk gearbeitet hat, bis er begann, vietnamesische Bootsflüchtlinge aus dem Meer zu fischen, mußten regelmäßig Kamera und Mikrofon in der Nähe sein. Er betrachtet die Medien als unverzichtbares Mittel, das es einzusetzen gilt, um seinem Anliegen - Menschen retten, auf Mißstände aufmerksam machen und die Trennung von Menschen durch gemeinsame Projekte überbrücken - Gewicht zu verleihen.

Insofern ist es konsequent medienwirksam, wenn der Fernsehsender arte eine Dokumentation über Rupert Neudeck ins Programm nimmt (8.8.2009, 17.20 Uhr). Aber war es unbedingt erforderlich, daß die beiden Filmemacherinnen Ilona Kalmbach und Sabine Jainski das Leben und Wirken des alles andere als unumstrittenen 70jährigen dermaßen glorifizieren? Bereits mit der Wahl des Titels, "Rupert Neudeck - Der radikale Samariter", wird der Mitbegründer der Organisation "Cap Anamur" in die Nähe eines christlichen Heiligen gerückt.

Dagegen müßte sich selbst ein professioneller Helfer wie Neudeck verwehren, zumal er in der Dokumentation besonderen Wert auf die Erklärung legt, daß große und kleine Spender gleich wichtig sind. Wäre daraus nicht folgerichtig abzuleiten, daß auch kein Unterschied zwischen kleinen und großen Helfern gemacht werden sollte? Die Tendenz zur Verherrlichung einer Person steht im krassen Gegensatz zu der mit der Bezeichnung "Samariter" unterstellten Selbstlosigkeit und Nächstenliebe. Daß sich Neudeck nicht, jedenfalls nicht für die Zuschauer erkennbar, von dieser Darstellung seiner Person distanziert hat, könnte ihm durchaus als Eitelkeit ausgelegt werden.

Ilona Kalmbach und Sabine Jainski erzählen die bewegte Biographie des heute in Troisdorf lebenden Mannes nach, der in Danzig geboren wurde und dort fünf Jahre gelebt hat. Noch heute sieht Neudeck die Ostseestadt als seine eigentliche Heimat an. Von dort aus war seine Mutter mit ihm und seinen Geschwistern gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in Richtung Westen geflohen. Zu ihrem Glück hatten sie ihr Flüchtlingsschiff "Wilhelm Gustloff" um zwei Stunden verpaßt, denn das wurde später auf der Ostsee versenkt.

1961 unterbrach Neudeck sein Studium der Rechtswissenschaft, Katholischen Theologie, Philosophie, Soziologie und Polonistik und trat dem Jesuitenorden Societas Jesu bei. Dort entsagte er der Nahrungsaufnahme bis zum gesundheitlichen Zusammenbruch. Zwei Jahre darauf nahm er sein Studium wieder auf, 1970 promovierte er über die "Politische Ethik bei Jean-Paul Sartre und Albert Camus".

Diese Stationen - entbehrungsreiche Flucht an der Hand der zähen Mutter, Eintritt in den Jesuitenorden samt selbstzerstörerischer Enthaltsamkeit sowie im Studium ethische Fragen als Schwerpunkt - liefern ein stimmiges psychologisches und charakterliches Profil Rupert Neudecks. Zweifellos legt er bei der Verfolgung der von ihm und seiner Frau Christel angestoßenen und betreuten Projekte, wie beispielsweise dem 2003 gegründeten Verein "Grünhelme", Beharrlichkeit an den Tag.

Jener Teil, in dem zwei inzwischen erwachsene vietnamesische Bootsflüchtlinge, die in Deutschland leben, ihre Rettung schildern, zählt zweifelsohne zu den ergreifendsten Sequenzen der Dokumentation. Dadurch gerät Neudeck zu einem Heilsbringer, den er und die gesamte Crew wie auch die Menschen im Hintergrund für diese Menschen sicherlich auch sind. Es fällt allerdings auf, daß die Dokumentation sichtlich darum bemüht ist, den übergreifenden politischen Zusammenhang, in denen Neudecks Hilfe verortet werden muß, weitgehend auszusparen. So sind die vietnamesischen Bootsflüchtlinge eine unmittelbare Folge des vom US-Imperialismus geführten Vietnamkriegs und der Niederlage des riesigen Militärapparats der USA und seiner Verbündeten durch eine wesentlich schwächer bewaffnete nordvietnamesische Volksarmee.

Die Rettung von Menschen, die mit morschen Booten das Chinesische Meer befahren, kann ohne jede Einschränkung als eine ebenso gute Tat bezeichnet werden wie beispielsweise die Versorgung eines verwundeten Soldaten im Schützengraben. Im ersten Schritt ist einfach nur Hilfe angesagt - im zweiten Schritt sollte allerdings die Frage erlaubt sein, wie es zu der Situation kam, wer wen angegriffen hat und welche Rolle jener verwundete Soldat gespielt hat. Übertragen auf die Rettung vietnamesischer Bootsflüchtlinge zeigt sich nämlich, daß Neudeck als antikommunistische Speerspitze gegen das siegreiche Nordvietnam gedient hat. Das hat sich nicht zufällig so ergeben. Aus anderen Zusammenhängen und von seinen früheren Aussagen als Rundfunkjournalist her ist diese politische Ausrichtung Neudecks, der im Alter von 17 Jahren in Bonn an einer Demonstration gegen die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands durch die sowjetischen Besatzer teilgenommen hat, bekannt. Hilfeleistungen, insbesondere wenn sie medial ausgeschlachtet werden, finden in keinem apolitischen Raum statt. Das bedeutet umgekehrt, daß sie immer auch einen Aspekt der politischen Instrumentalisierung in sich tragen. Die spektakuläre Rettung vietnamesischer Bootsflüchtlinge war somit auch ein Propaganda-Schachzug des vermeintlich überlegenen Westens gegenüber den in Vietnam regierenden Kommunisten.

Wenn die Kamera Neudeck nach Ruanda begleitet und in einer längeren Einstellung festgehalten wird, wie er in einer ruandischen Kirche steht, die zur Gedenkstätte für ein grausiges Gemetzel im Jahre 1994 umfunktioniert wurde, dann schaudert es die Zuschauerinnen und Zuschauer ob der an der Decke hängenden blutbefleckten Kleiderbündel und fein säuberlich aufgereihten Totenschädel, in denen hier und da noch der Spalt eines Machetenhiebs zu erkennen ist. Dieses erahnte, unsägliche Leid dient den Filmemacherinnen als emotionaler Kontrast, um die Aufbauarbeit Neudecks und seines muslimisch-christlichen Grünhelme-Friedenskorps in einem noch helleren Licht erscheinen zu lassen.

Nun kritisiert Neudeck jedoch vor laufender Kamera, daß die 1994 vom Flughafen Kigali abziehenden französischen Soldaten nur Menschen mit weißer Hautfarbe gerettet und die afrikanische Bevölkerung im Stich gelassen hatten. Mit dieser für den Laien harmlos wirkenden Aussage nimmt er eindeutig die Position der stärkeren Seite ein, denn der sogenannte Ruanda-Genozid, bei dem rund 800.000 Tutsi und moderate Hutu umgebracht wurden, war viel weniger ein ethnischer Konflikt zwischen Hutu und Tutsi als allgemein bekannt, sondern ein Sozialkampf sowie in geopolitischer Hinsicht ein Kampf zwischen französischen und angloamerikanischen Interessen.

Wer wie Neudeck mit dem Finger allein auf Frankreich zeigt, aber unerwähnt läßt, wie es überhaupt zu den Massakern und der Massenflucht gekommen war, nämlich aufgrund der jahrelangen Invasionsbemühungen seitens der von den USA und Großbritannien unterstützten Ruandischen Patriotischen Front (RPF), die aus Uganda stammte, anfangs noch in ugandischen Uniformen kämpfte und von Paul Kagame, einem ehemaligem Geheimdienstchef der ugandischen Armee, angeführt wurde, ergreift die Partei der Sieger: Der französische Einfluß in Ruanda schwand nach 1994. Mit dem in Militärtaktik und -strategie in den USA ausgebildeten Tutsi Kagame, der am 6. April 1994 den ruandischen Präsidenten Juvenal Habyarimana und dessen burundischen Amtskollegen Cyprien Ntaryamira - beide Hutu - abschießen ließ und dem es gelang, das Attentat radikalen Hutu in die Schuhe zu schieben, bekamen die Vereinigten Staaten den Fuß in die Tür der gesamten Region und drängten den Einfluß der "Grande Nation" weit zurück.

Ja, es stimmt, daß in Ruanda Not herrscht, ja, es stimmt, daß die Franzosen Menschen im Stich gelassen haben, aber nein, der Eindruck stimmt nicht, daß die Franzosen alleinverantwortlich für das Leid in Ruanda waren. Wer heute in Ruanda Aufbauarbeit leistet, muß sich mit der für ihre Repressionen gefürchteten Regierung Paul Kagames, der es vom Anführer einer Invasionsarmee über den Posten des Verteidigungsministers und Vizepräsidenten schließlich zum Präsidenten gebracht hat, gut stellen. Umgekehrt gilt, wer Kritik übt, muß damit rechnen, des (weißen) Chauvinismus oder Ethnizismus bezichtigt zu werden. Und wer wie die ehemalige UN-Chefanklägerin Carla Del Ponte, die ihrem Auftrag vom UN-Sicherheitsrat gemäß auch nur Vorermittlungen über mutmaßliche Kriegsverbrechen seitens der RPF im Jahr 1994 beginnen ließ, wird kurzerhand auf Druck Ruandas und der USA von ihrem Posten enthoben. Offensichtlich haben die beiden Verbündeten einiges zu verbergen, das Del Ponte nicht ans Licht zerren sollte.

Im heutigen Ruanda ist keine Entwicklungsarbeit möglich, wenn sie nicht den Segen der ruandischen Regierung besitzt. Wer aber den Mund aufmacht und die Rolle der RPF, der die Ermordung von schätzungsweise 50.000 Menschen zur Last gelegt wird, ohne daß sich bis heute irgendein RPF-Anführer vor dem Internationalen Ruanda-Tribunal zu verantworten hätte, zum Thema macht, wird als Entwicklungshelfer in Ruanda keinen Fuß auf den Boden bekommen. Das bedeutet aber, daß Neudeck und sein Verein "Grünhelme", salopp gesagt, die Klappe halten oder eben der Regierung nach dem Mund reden müssen, wollen sie nicht des Landes verwiesen werden. Das aber ist nicht mit dem Bild des "Samariters" in Einklang zu bringen, dessen biblisches Vorbild sich keinen Konventionen gebeugt hat.

Wie dieser kurzer Ausflug in die jüngere ruandische Geschichte zeigt, ist die Lage dort äußerst vielschichtig. Eine Dokumentation über Rupert Neudeck wäre sicherlich völlig überfrachtet, sollten in ihr solche Dinge im Detail ausgeleuchtet werden. Eingedenk dessen wäre es aber angemessen gewesen, hätte Neudeck entweder gar nichts zu der unrühmlichen Rolle der Franzosen gesagt oder, besser noch, zumindest in einem Satz erwähnt, daß damals die angloamerikanischen Kräfte den Einfluß Frankreichs in Ruanda und dem Gebiet der großen Seen Ostafrikas in blutigen Stellvertreterkriegen zurückgedrängt haben.

Ebenfalls unerwähnt bleibt der geopolitische Hintergrund für Neudecks Aufbauarbeit in Afghanistan. Auch wenn gegen ihn nicht der Vorwurf zu erheben ist, daß er sich der zivil-militärischen Zusammenarbeit unterwirft, bleibt festzustellen, daß die "Grünhelme" mit dazu beitragen, den zerstörerischen Überfall auf und die verheerende Besatzung von Afghanistan legitim erscheinen zu lassen. Aufbauhilfe am Hindukusch ist von vornherein integraler Bestandteil des westlichen Imperialismus.

Kalmbach und Jainski haben sich ebenfalls dafür entschieden, Neudecks Einsatz für die durch die israelische Besatzungspolitik in schwerste Not geratenen Palästinenser, durch den er sich reichlich Ärger und den Vorwurf der Unausgewogenheit eingehandelt hat, auszusparen. Auch gehen sie nicht nicht auf den Streit zwischen ihm und seinem Nachfolger bei "Cap Anamur", Elias Bierdel, über dessen Rettungsaktion von 37 afrikanischen Bootsflüchtlingen aus dem Mittelmeer im Jahre 2004 ein. Dadurch verliert Neudeck an weiteren Ecken und Kanten, obgleich sie seine Biographie von jeher fundamental mitbestimmt haben.

So stellen sich abschließend einige grundsätzliche Fragen: Kann das Fernsehen immer nur das Bild von Gutmenschen oder Schurken präsentieren, niemals aber Menschen in all ihrer Widersprüchlichkeit? Werden auf diese Weise die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht für dumm verkauft, ganz so, als ob sie unfähig wären, einer differenzierteren Berichterstattung zu folgen? Und weitergefragt: Wenn es so wäre - welchen Anteil hätte ein simplifizierendes Fernsehen an einer solchen Einschränkung? Rupert Neudeck jedenfalls wird wohl seine Gründe haben, warum er es vorzieht, sich auf diese geschönte, glatte Weise darzustellen.


16. Juli 2009