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REZENSION/024: "Das Summen der Insekten - Bericht einer Mumie" (arte) (SB)


Protokoll eines Freitods - Radikales Plädoyer für das Leben

Das Summen der Insekten - Bericht einer Mumie
(Sound Of Insects - Record Of A Mummy)


Es beginnt wie ein Fall aus "Aktenzeichen X,Y ungelöst". An einem kalten Wintertag in einem abgelegenen, verschneiten Waldstrich des Hochmoors findet der Jäger S. in einem improvisierten Zelt die mumifizierte Leiche eines etwa 40jährigen Mannes, der nach erfolgter Spurensicherung schon etwa 100 Tage tot ist. Ein Tagebuch, das zwischen den Beinen der gut erhaltenen Leiche gefunden wird, bezeugt seinen Freitod.

In der Tat beruht die Novelle "miira ni naru made" des japanischen Autors Shimada Masahiko, die der Schweizer Filmemacher Peter Liechti seinem in 50 internationalen Filmfestivals gefeierten und mehrfach ausgezeichneten Experimentalfilm zu Grunde legte, auf einer wahren Begebenheit. Die filmische Verarbeitung der "nur" fiktionalen Fassung, d.h. der literarischen Umsetzung anstelle des wirklich dokumentierten Geschehens, können dem Thema "Tod und Sterben" jedoch nicht die Brisanz, Dichte, Unmittelbarkeit nehmen, mit der es dem Zuschauer unter die Haut injiziert wird.

Erschütternd distanzlos erzählt Liechti in seinem Werk die letzte Lebensphase eines Mannes, der sein qualvolles Sterben minutiös aufgezeichnet und kommentiert hat, um - wie er am 10. Tag des Fastens seinem Tagebuch erklärt - der Bedeutungslosigkeit seines Lebens etwas entgegenzuhalten.

Das fiktionale Gedankenprotokoll in einfühlsamer Verbindung mit realen, diashowähnlichen Naturaufnahmen und verfremdeten traumartig bis traumatischen Bildern, musikalischer- und Geräuschuntermalung, wirken im ersten oberflächlichen Eindruck auf den Zuschauer assoziativ und willkürlich bizarr, sind jedoch, wie er im Verlauf des Films nachvollziehen kann, minutiös geplant, plaziert und beabsichtigt. Auf diese Weise scheint die eigene mit der Perspektive des Sterbenden zu verschmelzen, so daß einen die Kernaussage des Filmers auf unterschiedlichsten Ebenen der Wahrnehmung erreicht. Reiner Konsum des durchaus vielschichtig zu nennenden Kunstwerks wird dadurch unmöglich.

Die Auseinandersetzung mit der Bedeutsamkeit bzw. - wie immer deutlicher wird - der fürchterlichen Bedeutungslosigkeit des Sterbens wird unumgänglich und bleibt nicht ohne Wirkung. Zumindest ein hohles Hungergefühl treibt den Zuschauer nach dem Film in die Küche.

Der künstlerische Ansatz geht allerdings weit über konventionelle Vorstellungen hinaus und bricht an mehreren Stellen radikal mit den gemeinhin gewohnten Erklärungsversuchen der Wirklichkeit, und es wird angedeutet, daß es weit mehr geben könnte, als Menschen gemeinhin wahrnehmen.

So ist auch der Höhepunkt des Films sicher nicht das lang erwartete und vom Sterbenden ersehnte Ende seines Lebens, das mit den bedeutungsschweren Worten "Es ist hell" an die Tunnellichterlebnisse von Nahtodberichten erinnert, sondern der Punkt "of no return", der den eigentlichen Sinn dieses Sterbeprojektes vollkommen in Frage stellt, während eine Rückkehr ins Leben gleichwohl nicht mehr ohne äußere oder jenseitige Hilfe möglich geworden ist: Eine Traumerscheinung läßt den Hungernden daran zweifeln, daß es überhaupt eine andere Welt gibt. Doch nicht nur das: Was, fragt er sich, wenn diese Schmerzen und Qualen, die seinem langen Sterben die Einmaligkeit und Bedeutung geben sollen, die er in seinem Leben nicht hatte, nun nie mehr enden sollten...?

Das von Arte in einer Kurzankündigung wohl zu recht als "Manifest für das Leben - herausgefordert durch den radikalen Verzicht darauf" schriftlich festgehaltene Fazit des Films wird in dieser Frage auf den Punkt gebracht.

Fazit: Eine radikale Stellungnahme für das Leben - auf schmerzhafte Weise nahegebracht.

Der Film gewann u.a. 2009 den Europäischen Filmpreis Prix ARTE und den Zürich Film Award.

Das Summen der Insekten
- Bericht einer Mumie
(Sound Of Insects - Record Of A Mummy)
Mittwoch, den 11. Mai 2011
um 23.40 Uhr

8. Mai 2011