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INTERVIEW/011: 25 Jahre arte - redaktionelle Präferenzen ...    Oliver Schwehm im Gespräch (SB)


Summer of Fish 'n' Chips - unter diesem englische Lebensart verströmenden Titel lädt der deutsch-französische Kulturkanal arte in diesem Sommer zu einer Tour d'horizon durch Geschichte und Gegenwart der britischen Popmusik ein. Im Juli und August läßt der Sender spektakuläre Konzerte wie das Isle of Wight Festival 1970 oder John Lennons Auftritt im Madison Square Garden am 30. August 1972 wiederauferstehen, er zeigt zeitgenössische Acts wie Blur oder PJ Harvey in vollständigen Live-Konzerten, läßt in der zweiteiligen Dokumentation United Kingdom of Pop sechs Jahrzehnte britische Popgeschichte Revue passieren oder versetzt das Publikum mit der Doku Sgt. Pepper's Musical Revolution in den zeit- und kulturgeschichtlichen Kontext eines epochemachenden Albums. Nach der Präsentation dieses und anderer Programmschwerpunkte des Senders im zweiten Halbjahr 2017 auf einer Pressekonferenz am 30. Mai in Hamburg [1] beantwortete der für den Summer of Fish 'n' Chips zuständige Redakteur Oliver Schwehm dem Schattenblick einige Fragen.



Bei der Pressekonferenz - Foto: © 2017 by Schattenblick

Oliver Schwehm
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Schwehm, wie ist Ihr persönlicher Zugang zum Thema Popmusik beschaffen?

Oliver Schwehm (OS): Zum einen bin ich natürlich großer Musikliebhaber und freue mich, daß ich mein Hobby in der redaktionellen Tätigkeit zum Beruf machen konnte. Bei arte betreue ich seit einigen Jahren den Sendeplatz Popkultur am Freitag um 21.45 und bin darüber hinaus als Autor und Regisseur im weiteren popkulturellen Bereich aktiv. Letztes Jahr habe ich eine Doku über Milli Vanilli "From Fame to Shame" gemacht, vor einigen Jahren die Geschichte des Bahnhofskinos in "Cinema Perverso" bearbeitet sowie die Karl-May-Filmwelle in "Winnetou darf nicht sterben" und die Edgar-Wallace-Serien in "German Grusel" aufgearbeitet.

SB: Sie sind quasi in das Thema organisch hereingewachsen?

OS: Genau. Ich muß allerdings dazusagen, daß ich in ganz früher Jugend mit Sting großgeworden und mit 14, 15 Jahren in eine andere musikalische Richtung abgedriftet bin, die nicht unbedingt fernsehtauglich ist. Wir haben zum Beispiel im Netz auch eine Doku über Industrial Music, die wir aber nur gezielt in der Mediathek zur Verfügung stellen werden und nicht auf dem Sender. Aber es wäre natürlich ein großer Fehler, als Redakteur seinen eigenen Geschmack zum Maßstab aller Dinge zu machen, und es ist ja auch der Anspruch gewesen, hier wirklich sechs Jahrzehnte abzubilden, also überall nach den starken und großen Künstlern und Gruppen zu schauen.

SB: Es gibt Stimmen, die kritisieren, daß in der Geschichte der Popmusik zu stark auf die 60er und 70er Jahre Bezug genommen wird. Würden Sie dem zustimmen oder gibt es vielleicht kulturgeschichtliche Gründe, die das rechtfertigen?

OS: Durch die kulturelle Revolution sind die 60er Jahre natürlich an Aufbruchsstimmung und Dynamik nicht zu toppen, gleichzeitig finde ich schon, daß jedes Jahrzehnt immer neue, interessante Musikrichtungen hervorgebracht hat. Mit der reinen Retroschiene tue ich mich ein wenig schwer, wobei es natürlich im Moment sehr zeitgemäß ist. Ich war gestern hier in Hamburg im Saturn und sehr erstaunt über die ganzen Re-Editions und Re-Issues, die dort auch auf Vinyl angeboten werden. Riesengroße Boxen sind im Moment das Konzept, auch Sgt. Pepper's gibt es jetzt als Doppelalbum neu auf dem Markt. Scheinbar gibt es das Bedürfnis bei der jüngeren Generation, sich den Popkanon anzueignen. Musik, die Jahrzehnte gar nicht so eine Rolle mehr spielte, ist heute überall verfügbar, so daß es einen großen Katalog gibt, auf den man zurückgreifen kann und wo eben Neuerscheinungen neben Sgt. Pepper's im Regal stehen.

SB: Ist arte nicht auch an der Kanonisierung der Popmusik beteiligt, indem ein kultureller Rahmen dafür geschaffen wird?

OS: Das wäre natürlich unser Anspruch, wobei meiner Ansicht nach für die Kanonisierung eher die Museen zuständig sind. Wir wollen natürlich auch immer Entwicklungen aus der Jetztzeit zeigen wie zum Beispiel die Doku über Sleaford Mods, dieses Elektropunk-Duo, das im Moment in Großbritannien durch die Decke geht. Da ist es, glaube ich, für eine Kanonisierung noch ein bißchen zu früh. Wenn man sich nur auf den Kanon verlegt, wird es natürlich irgendwann auch ein wenig starr.

SB: Sie sagten bei der Präsentation des Summer of Fish 'n' Chips, dabei gehe es um die Essenz des British Pop. Wie würden Sie die umreißen?

OS: Es ist auf jeden Fall die extreme Vielfalt, die Gegensätze, die Auseinandersetzung, The Clash im Prinzip, da ist der Name schon Programm. Weil es in Großbritannien durch die ganzen Traditionen, also die Wichtigkeit von Klasse, aber auch von Rasse viel gab, wogegen die Menschen in Form von Musik opponiert haben. Mir ist bei der Vorbereitung aufgefallen, daß die Geschichte der Popmusik ganz wesentlich von britischen Künstlern geschrieben wurde.

SB: Wie ist es mit etwas randständigen Genres wie zum Beispiel der Canterbury-Szene um Soft Machine oder auch dem Einfluß des Ska und Reggae auf die britische Popmusik bestellt, haben Sie auch das in Betracht gezogen?

OS: Das haben wir in Betracht gezogen, allerdings nicht als Einzelstück. Wir haben zum Beispiel eine neue Doku über Sting produziert namens Beyond The Police, für die es wichtig war, die ganz frühen Jahre in den Blick zu nehmen, in denen Sting noch mit The Police zusammen war. Darin geht es auch um die Aneignung von Reggae-Elementen, die dann in der Mischung mit Punk hitparadentauglich gemacht wurden. Die Serie United Kingdom of Pop wird dann auch immer in die Randbereiche abtauchen. Bei den großen Einzeldokumentationen versuchen wir natürlich in gewisser Weise, den Kanon abzudecken.

SB: Punk war ja eine rebellische Bewegung, die sich auch gegen das Musikestablishment richtete. Ist aus Ihrer Sicht irgend etwas davon übriggeblieben?

OS: Da steht die Band Sleaford Mods durchaus in dieser Tradition. Auch die hohe Wortlastigkeit und das Aneckenwollen. Ich meine, da gibt es in Großbritannien schon eine Tradition. So knüpfen Musikerinnen wie M.I.A. immer noch daran an. Auch unser Host John Lydon ist sich schon selbst treu geblieben. Das gilt auch für diesen Do-It-Yourself-Gedanken. Er hat ja früher das Johnny Rotten Songbook mit allen seinen Texten und vielen tollen Zeichnungen veröffentlicht. Leider war der Preis nicht Punk (lacht), ich glaube, ein Exemplar der ultralimitierten Auflage hat bei 300 Dollar angefangen. Da ist natürlich auch die Schwelle zur Kommerzialisierung relativ nahgelegen.

SB: Arte ist ein Programm, das sehr proeuropäisch aufgestellt ist. Johnny Rotten hat sich im März für den Brexit ausgesprochen und hinter Nigel Farage und Donald Trump gestellt. Wie bewerten Sie diese Stellungnahme der Ikone Ihres Programms?

OS: Ich habe das lange gegengecheckt. Mir ist es dann ein bißchen kalt den Rücken heruntergelaufen, als ich mir diese ganzen Veröffentlichungen angeschaut habe. Johnny Rotten ist ein unglaublich ironischer Mensch. So wurden einige Kommentare, die er im englischen Frühstücksfernsehen abgegeben hat, verkürzt, um dann eben diese tolle Schlagzeile, laut der der Ex-Punker jetzt den Brexit befürwortet, zu generieren. Er hat zum Beispiel zum Brexit gesagt, die Working Class hat entschieden, er ist mit der Working Class solidarisch und er wünscht jetzt Großbritannien einen wonderful Brexit, und daß wir uns möglichst viele neue Freunde machen. Also hochironisch, und dieser Satz, daß wir uns möglichst viele neue Freunde machen, der wurde einfach mal weggestrichen.

Auch hat er sich dann ja etwas mit Trump solidarisiert, was mich sehr gewundert hat, weil er drei Wochen zuvor in einer US-Talkshow noch wüst über Trump hergezogen hat. Da ist natürlich auch die Provokation - er selbst bezeichnet sich als den großen Disruptor - auch Programm. Allerdings war es bei den Szenen, die er für uns aufgezeichnet hat, ganz eindeutig, daß er Proeuropäer und Anti-Trump ist. Aber in den jetzigen Zeiten ist es schwierig, mit Ironie aufzuwarten, da wird man halt gerne auch verkürzt zitiert.

SB: Wie sind popkulturelle Produktionen bei arte, die ja nicht nur aus dem englischsprachigen Bereich kommen, sondern auch in Asien oder Afrika entstehen, im Verhältnis zu den anderen Programmangeboten Ihres Senders repräsentiert?

OS: Wir versuchen immer, eine gute Mischung zwischen Popkanon, auch Popmainstream und eben Randbereichen und unerzählten Geschichten herzustellen. Sprich, wir machen eine Doku über Elton John, dann machen wir - wie im letzten Jahr - eine Woche darauf eine Doku über Tangerine Dream. Wir haben für das nächste Jahr eine neue Doku über Conny Plank, den deutschen Musikproduzenten, geplant, und wir haben eine dreiteilige Serie von den französischen Kollegen, die Afrika bereist haben, über eine aktuelle afrikanische Musikszene namens Fonko im Programm.

Im Herbst haben wir Tokio Hotel auf dem Sender. Ich habe zuerst gedacht, muß das jetzt wirklich sein, aber ja, es muß sein, weil der Filmemacher Oliver Schwabe wirklich zwei Jahre mit Tokio Hotel unterwegs war und eben viel mehr erzählt als nur die rein musikalische Biografie, sondern eben auch die Geschichte von vier jungen Menschen, die erwachsen werden und ihre unterschiedlichen Lebensentscheidungen treffen. Also auch ein ganz toller Film.

SB: Herr Schwehm, vielen Dank.


Fußnote:

[1] BERICHT/008: 25 Jahre arte - ein Europaprojekt ... (SB)

28. Juni 2017


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