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INTERVIEW/016: Hafen Hamburg - politisch müde ...    Gerd Müller im Gespräch (SB)


Interview am 17. Oktober 2018 im Hamburger Schanzenviertel


Gerd Müller ist im Medien Pädagogik Zentrum (MPZ) Hamburg aktiv. Er war jahrzehntelang bei der HHLA (Hamburger Hafen und Logistik AG, früher Hamburger Hafen- und Lagerhaus), angestellt und dort auch als Betriebsrat eingesetzt. Am Rande der Präsentation des Filmes Brand I, der in einer Veranstaltung des MPZ und der Gewerkschaftslinken Hamburg unter Anwesenheit der Regisseurin Susanne Fasbender vorgestellt wurde, hatte der Schattenblick Gelegenheit, dem erfahrenen Arbeiteraktivisten und Hafenexperten einige Fragen zur politischen Entwicklung im Hamburger Hafen, der Kampfkraft seiner Belegschaften wie der Bedeutung einer postkapitalistischen Zukunft für die maritime Handelsstruktur und Produktionsweise zu stellen.


Im Gespräch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Gerd Müller
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Gerd, wie bist du zum MPZ gekommen und was hat dich dazu motiviert?

Gerd Müller (GM): Ich bin 1978 zum MPZ gekommen. In jenem Jahr gab es im Hamburger Hafen einen Streik. Nach der offiziellen Lesart der ÖTV wurde nach dem großen Hafenarbeiterstreik von 1896/97 dort zum ersten Mal wieder gestreikt, also nach fast hundert Jahren. Allerdings hat die ÖTV dabei den kurz gewerkschaftlichen und dann wilden Streik von 1951, der sehr stark KPD-getragen war und eine ganz breite Unterstützung in der Hamburger Hafenarbeiterschaft fand, geflissentlich unterschlagen. Jedenfalls hatten wir bei der Hamburger Hafen- und Lagerhaus (HHLA), wie es damals hieß, eine Gruppe kritischer Leute überwiegend aus der linken Bewegung. Ich selber habe nach dem aus politischen Gründen abgebrochenen Studium im Betrieb zu arbeiten angefangen, um zu versuchen, das Gelernte weiterzuvermitteln und mit den Menschen dort etwas zusammen in Gang zu bringen. Wir waren seinerzeit damit konfrontiert, daß plötzlich ein recht sozialdemokratischer Gewerkschafter sagte, bei diesem Streik handelt es sich um eine klassenmäßige Auseinandersetzung zwischen Lohnarbeit und Kapital. Das hat uns schier vom Hocker gehauen.

Dieser Streik wurde aber von der ÖTV so organisiert, daß die Leute eigentlich zu Hause bleiben sollten. Es gab schwach aufgestellte Streikposten und nach kurzer Zeit eine grottenschlechte Presse, wo es hieß: Wir haben keine Futtermittel mehr, die Hühner sterben, es gibt keine Apfelsinen und bald auch keine Schokolade mehr. Daher herrschte bei uns die Überlegung vor, daß man etwas dagegensetzen muß. Damals gab es das MPZ schon, das den Ansatz verfolgte, Menschen zu unterstützen, die ihre Belange in der Öffentlichkeit darstellen und zu Wort kommen wollten. Wir haben dann gemeinsam diesen Film gemacht, die MPZler haben gefilmt und ich habe mir immer abends nach Streikposten und Diskussion mit den Kollegen die Bänder angeschaut. Weil man damals noch nicht einfach eine Kassette irgendwo reinschieben konnte, haben mir die MPZlerinnen und MPZler das Gerät mit nach Hause gegeben. Was ich davon wichtig fand, habe ich dann mit den anderen diskutiert. Über diesen Film bin ich letztendlich am MPZ hängengeblieben, weil ich mir gesagt habe, das ist eine gute Sache, damit läßt sich etwas bewegen.

Noch während des Streiks haben wir im Hof des Gewerkschaftshauses einen Fernseher aufgestellt und die Videoaufnahmen gezeigt. Doch dann haben sie uns den Strom abgestellt. Wir sind sogleich mit 50 Kollegen zur Streikleitung raufgetrampelt und haben gefragt, was das soll. Bei dieser Gelegenheit haben die Kollegen viel gelernt, denn wir wurden regelrecht abgefertigt. Es hieß, besorgt euch eine Sondernutzungsgenehmigung, dann könnt ihr machen, was ihr wollt, aber nicht hier bei uns. Die Kollegen sagten darauf, wir sind hier doch die Streikenden. Es hat tolle Diskussionen gegeben, und dann ist irgend jemand, nachdem diese Aktion nicht zum Erfolg führte, nach unten gegangen und hat einfach den Stecker wieder reingesteckt, und dann ging es wieder weiter. So können Menschen über eine solche Arbeit mit Medien Selbstbewußtsein entwickeln und für sich entdecken, daß sie selber etwas zu sagen haben. Das kann man in dem Film auch sehen, der nicht zufällig den Titel trug: "So kommt ihr an uns nicht vorbei...!" [1]

Ende der 1970er Jahre wurde viel gestreikt. Eine Eigenart dieses Streiks war, daß die ÖTV es den Unternehmern einmal zeigen wollte, aber mit gebremstem Schaum. Die Leute sollten nicht groß auf die Tonne hauen. Die ÖTV sagte, ihr kriegt gutes Geld und dafür bleibt ihr zu Hause. Das Streikgeld hat die ÖTV damals so angelegt, daß es dem Durchschnittsverdienst entsprach, einschließlich der Mehrarbeit. Das heißt, die Kollegen haben mehr gekriegt, als wenn sie normal gearbeitet hätten. Sie sind zum Teil sozusagen zum Streik bestochen worden, wenn man das ein bißchen zugespitzt formuliert. Und so sollte der Streik dann auch beendet werden.

Wir hatten damals eine Forderung von 13 Prozent Lohnerhöhung gestellt. Das ist heute gar nicht mehr denkbar, aber der Hintergrund war, daß die Hafenarbeiter eigentlich immer nur von Mehrarbeit gelebt haben. Es wurden immer Doppelschichten gearbeitet, also zwei Schichten hintereinander. Der Grundlohn war relativ gering. Das kann man aber nicht ewig machen. Daher wollte man den Grundlohn anheben. So ist es zu dieser 13-Prozent-Forderung gekommen, aber dann hat uns die ÖTV verkündet, ihr kriegt 7 Prozent, dabei aber verschwiegen, daß es nur für 11 Monate war und nicht fürs ganze Jahr. Daraufhin haben wir den Kollegen das vorgerechnet, und die Empörung war groß. Für die ÖTV ging die Urabstimmung in die Hose, weil über 50 Prozent für die Fortführung des Streiks waren. Damals war die ÖTV eine der wenigen Gewerkschaften, die noch dieses 50-Prozent-Quorum hatten. Heute ist es ja überall so, daß mehr als 75 Prozent für die Fortführung des Streiks sein müssen. Die damalige Regelung der ÖTV wurde nach diesem Streik denn auch sofort geändert.

Auf jeden Fall mußte die ÖTV nun nachverhandeln. Am Ende gab es noch eine Pauschale für den ausgefallenen Monat. Das hat auch das Bewußtsein der Kollegen gestärkt, die gemerkt haben, wir kriegen etwas hin. Allerdings ist diese Einstellung, wie ich ehrlicherweise sagen muß, im Laufe der kommenden Jahre nach und nach verlorengegangen. Das war teilweise diesem Boom, ich kann soviel dazu verdienen, wie ich will, geschuldet. Es hat sich auch die Struktur der Hafenarbeiterschaft verändert. Das war sozusagen mein Einstieg ins MPZ.

SB: Im Welthandel hat es mit der Einführung der Container einen großen Strukturwandel gegeben, der einen erheblichen Druck auf die abhängig Beschäftigten ausgeübt hat. Viele von ihnen waren nicht mehr erforderlich, weil nicht mehr so viel Stückgut verladen wurde. Könntest du diese Entwicklung einmal aus deiner Sicht schildern?

GM: Als ich 1972 im Hafen angefangen habe, waren wir 14.000 im Hafen Beschäftigte, die entweder beim Gesamthafenbetrieb oder bei Hafeneinzelbetrieben einen Job hatten. In dieser Zahl sind die Unständigen nicht eingerechnet. Inzwischen sind wir runter auf etwas über 5000. Das heißt, zwei Drittel der Hafenarbeiter sind weg. Das hat aber zu keinen großen Verwerfungen geführt, weil es in dem Sinne keine Entlassungen gab, sondern es wurde zum einen über sehr lukrative Altersteilzeitverträge, die damals nach dem Arbeitsförderungsgesetz ungeheuer bezuschußt wurden, geregelt. Auf diese Weise haben die Unternehmer ganze Belegschaften richtiggehend entsorgt und die Arbeitslosenkasse wurde gnadenlos geplündert.

In den 1980er Jahren sind haufenweise Kollegen mit 55 Jahren gegangen, mit guten Regelungen der Fortzahlung der Bezüge. Aus diesem Grund hat es keine Entlassungswelle gegeben. Zum Teil wurde das auch aufgefangen durch Zuwächse im Containerumschlag, weil Ladungen nicht einfach weggefallen, sondern in den Container gewandert sind. Insgesamt, denke ich, liegt die Zahl der Leute, die eigentlich dazu gehören würden, deutlich höher als die 5000 nur im Hafen Beschäftigten, weil die Arbeit in die prekären, also etwa speditionellen und Logistikbereiche gewandert ist. Was wir früher mit den Schiffen gemacht haben - Ladung entgegengenommen, zwischengelagert, ausgeliefert oder längerfristig eingelagert und bearbeitet -, wird jetzt im Container konzentriert, denn der Container ist ja nichts anderes als zur Verfügung gestellter Schiffsraum. Jetzt nimmt man einfach ein Schiff und fährt es woanders hin.

Als noch konventionell gearbeitet wurde, war das Schiff der einzige Gegenstand und Arbeitsort. Jetzt ist der Arbeitsort aus dem Hafengebiet herausgenommen worden und teilweise ins Binnenland oder ins Umfeld des Hafens gewandert. Diese Leute nennt man nicht mehr Hafenarbeiter, obwohl es nach wie vor Hafenarbeit ist, die allerdings unter prekären Verhältnissen von nicht besonders qualifizierten Menschen geleistet wird. Ich will denen nicht zu nahe treten, aber es ist nun einmal so, daß sie nicht ausgebildet werden. Man sagt ihnen, stopft das in den Container rein oder holt das aus dem Container raus. Dadurch nimmt man wahnsinnige Qualitätsverluste in Kauf zum Beispiel in bezug auf die Ladungssicherung. Eigentlich müßte man sie zu den im Hafen Beschäftigten dazuzählen, denn früher waren das alles Hafenarbeiter.


Blick von der Elbphilharmonie auf abendlichen Hafen - Foto: © 2018 by Schattenblick

Hamburgszenario touristisch
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Ist die Kampfkraft der Hafenarbeiter, die geschichtlich immer ziemlich aktiv waren, durch diese Umstrukturierung vielleicht sogar systematisch geschwächt worden?

GM: Wenn du unter systematisch verstehst, daß es mit irgendeiner Absicht geschehen ist, kann ich das nicht bejahen, aber gleichwohl wurde die Hafenarbeiterschaft immanent geschwächt. Die Leute, die seit Beginn dieser Tätigkeiten im Containerbereich gearbeitet haben - Containerbrückenfahrer, Van-Carrier-Fahrer, also Portalhubwagenfahrer oder Straddle-Carrier-Fahrer -, sind sehr gut bezahlt worden und haben sich immer für etwas Besonderes gehalten. Ich habe sehr lange im konventionellen Bereich gearbeitet, eigentlich bis zum Schluß, und wollte nie in den Containerbereich und dort 220mal mit der Katze hin und her fahren. Kranfahren ist eine ganz andere Nummer. So gesehen hat es schon immer eine Spaltung, so eine Art Arbeiteraristokratie gegeben. Wir sind hier die Containerarbeiter, hier wird das Geld verdient. Das ist auch systematisch gefördert und insofern auch von außen induziert worden, weil man sie besonders behandelt und gefördert hat, auch, weil sie gebraucht wurden. Das hat die Hafenarbeiterschaft sehr stark gespalten.

Wir haben in der Tarifsystematik zwar vom Grundsatz her einen ähnlichen Flächentarifvertrag, aber die Leute im Containergeschäft bekommen mehr Zulagen als die Leute, die noch im konventionellen Bereich tätig sind. Sie kriegen sozusagen einen Extrabakschisch. Dieser Weg ist auch gewerkschaftlich mitgegangen worden. Ich habe das immer bekämpft, war aber nie mehrheitsfähig, weil eine Gewerkschaft natürlich die Interessen derjenigen vertritt, von denen sie sich am meisten erhofft. Die anderen sind ohnehin Auslaufmodelle. Die Gewerkschaft hat sie gefördert, damit sie nicht aufmüpfig werden. Mit der Art der Bezahlung ist diese Spaltung produziert worden, die einen hat man im Sinne dessen, daß sie etwas Besseres seien, gefördert und die anderen sozusagen links liegen lassen.

Die Kämpfe zum Erhalt des konventionellen Bereichs mit dem Fokus, den Hamburger Hafen als Universalhafen aufrechtzuerhalten, sind aber arbeitnehmerseitig nicht hinzukriegen gewesen, weil die Containerleute sich so stark abgenabelt hatten. In der Solidarität hat es einen ganz starken Bruch gegeben, was eine wahnsinnige Rolle gespielt hat. Als hier die Schließung eines der letzten konventionellen Terminals bei Buss Hansa angestanden hat, war es nicht möglich, die entsprechende Solidarität auf die Beine zu bringen. Nun muß man fairerweise sagen, daß Ver.di sich auch nicht besonders darum bemüht hat. Es ist eine absolute gewerkschaftliche Schwäche, nicht so auf die Containerleute einzuwirken, um ihnen klarzumachen, wenn ihr jetzt nicht mitmacht, dann seid ihr die nächsten, was glaubt ihr denn, wie das weitergeht? Das wiederum bricht sich an einem gewerkschaftlichen Verständnis, das nicht kapitalismuskritisch ist.

Wir werden durch die zunehmende Automatisierung oder das, was sich alles hinter "Digitalisierung" verbirgt, in den nächsten Jahren heftigste Auseinandersetzungen bekommen. Ver.di fackelt das im Augenblick unter der Maxime ab: "Digital Muss sozial". Da kriege ich solche Halsschlagadern, weil das der Sache überhaupt nicht gerecht wird. Das ist die Strategie, der Letzte macht das Licht aus, dann sorgen wir vielleicht noch für eine sanfte Landung.

Die Gewerkschaften haben den Anspruch auf die Gestaltung der Arbeit und der Produktion einfach aufgegeben. Darüber versuche ich im Augenblick mit den Kollegen zu diskutieren. Ich sage ihnen, wenn ihr über Automatisierung und Digitalisierung redet, dann nicht darüber, wie ich meinen Arbeitsplatz erhalte, sondern ihr müßt darüber reden, wie die Arbeit gemacht werden soll. Wenn ihr sagt, das diktiert immer die Kapitalseite, dann habt ihr verloren. Wenn ihr nicht sagt, wir haben hier einen Anspruch darauf, wie gearbeitet und was automatisiert und was nicht automatisiert wird, dann ist es aus. Man kann diesen Anspruch doch erheben und überhaupt darum kämpfen.

Das ist die Klammer zu dem, was ich vorhin gesagt habe. Wenn mir der Kollege vom Gesamthafenbetrieb sagt, wir haben zu viel Arbeit und müßten eigentlich Leute einstellen, wissen aber nicht, wie die Situation in fünf Jahren aussieht, dann würde ich immer sagen, stellt sie ein und führt dann den Kampf, wenn jemand sagt, die brauchen wir aber nicht mehr. Das ist ein ganz anderer Ansatz, als wenn man immer nur hinter der unternehmerischen Logik herrennt. Man muß das im Auge behalten. Ich habe in den letzten Jahren meines Arbeitslebens eine Containerpackstation geleitet, war sozusagen für die Menschen dort verantwortlich und habe auch Vertriebsarbeit machen müssen. Nebenbei war ich die ganze Zeit noch Betriebsrat, das haben die Unternehmer, mit denen ich geschäftlich zu tun hatte, zum Teil nicht verstanden, aber sie haben es kurioserweise akzeptiert.

SB: Bei den G20-Protesten gab es das Vorhaben, den Hafen zu blockieren bzw. lahmzulegen. Könntest du erklären, warum es nicht dazu gekommen ist und wo die Mängel lagen? Gibt es heute keine Arbeiterklasse mehr, die einen Sinn in solchen Aktionen sehen würde?

GM: Die Leute im Hafen, auch diejenigen, die gewerkschaftlich aktiv sind, sind von solchen Sachen weit, weit weg. Die Leute, mit denen ich damals zusammengearbeitet habe, gehörten zum Teil zu den alten Hafenarbeitern, von denen ich sehr viel gelernt habe, die auch noch von den Strukturen beeinflußt waren, die die KPD, die sehr stark im Hafen vertreten war, reingebracht hat. Diese Leute hatten viel Selbstbewußtsein, setzten sich mit den Problemen auseinander und waren nicht bereit, alles mitzumachen. Ein anderer Teil kam aus linken Bewegungen, aus der Lehrlings-, der Schüler- oder der Studentenbewegung. Das ist alles weg. Alle, die Fähigkeiten und Charisma hatten, die Leute mitnehmen konnten, wurden weggebissen, bis sie irgendwann aufgesteckt oder sich gesagt haben, dann mache ich lieber Karriere, was eine große Rolle spielt. Die Leute mit Potential, die wissen, wie man Dinge aufarbeitet, entscheiden sich fast immer für eine betriebliche Karriere, sie wollen in ihrem Sinne gute Arbeit machen und etwas leisten, weil sie auch Spaß daran haben. Die findest du dort nicht. Die du da noch findest, sind im günstigsten Fall die ehrlich Empörten, die keinen politischen Standpunkt und null gesellschaftspolitisches Engagement haben. Und was dort noch irgendwie sozialdemokratisch herumkrabbelt, kannst du zum größten Teil vergessen.

Diejenigen, die als Linke dort unterwegs sind und mit denen ich auch jetzt noch zu tun habe, tun sich sehr schwer bei der Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Wirklichkeit. Einer von ihnen war früher bei der Bauwagenbewegung Bambule und ist jetzt Betriebsrat beim Gesamthafenbetrieb. Da muß man eine Position haben, aus welchen Gründen stehe ich politisch so und so, wie vertrete ich das und wie nehme ich Leute mit. Ich sehe überhaupt nur sehr wenige Leute, die andere mitnehmen können, die sagen, jetzt gehen wir los und machen etwas. Das ist sehr unsicher geworden, was auch an der Individualisierung liegt. Schau' dir einmal die Arbeitsplätze an. Früher im konventionellen Bereich waren den ganzen Tag im Minimum sechs, sieben, bis zu 15 Leute zusammen, die auch zusammen gearbeitet haben. Heute sind die Van-Carrier-Fahrer alle alleine, die Containerbrückenfahrer sind alle allein, am Deck stehen sie alle allein, auch die Lascher krabbeln mehr oder weniger allein auf den Containerschiffen herum.

Wenn du früher in die Kantine am Burchardkai gegangen bist, war dort ein Haufen Leute, und irgendeiner hat immer gesagt, Gerd, was gibt es Neues? Jetzt sitzen ein paar Gesamthafenarbeiter herum, die anderen haben alle verschobene Pausen oder sitzen zwischen ihren Spinden, weil sie ihre Ruhe haben wollen. Da gibt es keine Diskussionen mehr. Früher haben wir regelmäßig Pausenversammlungen abgehalten, das gibt es alles nicht mehr. Das heißt, all diese solidaritätsschaffenden Strukturen und Mechanismen existieren nicht mehr. Deswegen ist da fast nichts mehr.

2012 hatte sich eine Gruppe gegründet, die ich stark mitgestützt habe und die sich tatsächlich regelmäßig über zwei Jahre getroffen hat, um zu diskutieren, wie man etwas ändern könnte. Als sie in Amt und Würden und alle Betriebsräte waren, hat die Gruppe ein halbes oder dreiviertel Jahr herumgedümpelt, und dann gab es sie nicht mehr. Beim Gesamthafenbetrieb sehe ich genau dasselbe. Sie sind zum erheblichen Teil gewählt worden, weil sie gute Arbeit gemacht haben. Sie haben sich auch getroffen und nicht nur über WhatsApp und Facebook kommuniziert. Jetzt könnten sie in dem Job etwas machen, weil sie nicht mehr überall weggehalten werden. Aber es gibt keine Treffen mehr und auch nicht mehr das Bedürfnis danach. Jetzt wird das allenfalls überführt in Vertrauensleuteversammlungen, die aber nach Regularien und mit festgelegten Themen stattfinden.

Wie wichtig ist eine autonome ArbeiterInnenbewegung neben der Gewerkschaftsbewegung? Ich halte diese Frage für sehr zentral. Ich war nie Anhänger dieser DKP-Politik: Wir müssen in die Führungsgremien der Massenorganisationen rein, und dann haben wir die Arbeiterklasse sozusagen gewonnen. Die Arbeiterklasse, die es noch zu definieren gilt, gewinnst du nur, wenn du sie auch mitnehmen kannst und zur eigenen Tätigkeit motivierst und nicht, indem du induzierst, was sie selber wollen. Vorrangig ist, sie dazu zu befähigen, selber zu artikulieren, was sie wollen, und nicht, daß du sie in ein Korsett schnürst. Vertrauensleutesprecher, Vertrauensleuteleitung und eine Tarifkommission braucht man sicherlich, aber wichtiger sind Strukturen, wo Menschen - wie bei der Waldbesetzung im Hambacher Forst oder der Wohnwagenbewegung - ihr Leben finden und ihre Standpunkte ausbilden.

SB: Wäre die Frage nach der Lebensform auch ein Thema für ein Filmprojekt?

GM: Ich habe mit Ulrike Gay zusammen einen Film über einen Demeterhof bei uns um die Ecke, wo wir leben, gemacht. Da geht es auch darum, wie man eigentlich leben will. Ich selber wüßte überhaupt nicht, wie ich so ein Filmprojekt im betrieblichen Bereich machen sollte. Dazu müßte man irgendwo im Stadtteil anfangen, aber wir leben auf dem Dorf. Natürlich ließe sich auch darüber etwas machen, aber wir sind sehr stark gebunden durch den Dienstleistungssektor des MPZ. Wir machen viel für Leute, die zu uns kommen mit einer Filmidee. Als Hajo Rieckmann und Puschki Aalders den Film über den Streik bei Neupack [2] machen wollten, kam Hajo ins MPZ und sagte, ich habe ganz viel Material und auch eine ungefähre Vorstellung, aber wir wissen gar nicht, wie wir daraus einen Film machen können. Daraufhin haben Ulrike und ich MPZ-seitig diesen Film in der Konstruktion unterstützt. Hajo hat ihn dann gemacht, aber wir haben ständig diskutiert und unsere Erfahrungen eingebracht. Das machen wir auch mit anderen Leuten, aber das frißt einfach viel Zeit.

Als die Rote Flora die G20-Broschüre [3] gemacht hat, da habe ich das ganze Videomaterial gesichtet, zum Teil selber aufgezeichnet und für die DVDs vorbereitet, jemand aus dem MPZ hat ihnen diese DVDs gemacht usw. Das ist alles viel Arbeit, und dann muß man sich schon entscheiden, ob man das oder selbst einen tollen Film machen will. Das würde ich schon gerne, aber dann müßte man hier andere Sachen im MPZ liegenlassen. Ich finde das MPZ nach wie vor als Zentrum wichtig, aber so ein Zentrum zu erhalten, hat auch ganz viel mit schnöder Verwaltungsarbeit zu tun. Man muß präsent sein, muß mit Leuten reden und Ideen entwickeln, wie man Leute unterstützen kann. Deswegen kommen wir relativ selten dazu, uns ein Thema zu setzen und einen Film daraus zu machen.


Verladekräne und Kraftwerk Moorburg - Foto: © 2018 by Schattenblick

Ohne Hafenlogistik keine Kohleverstromung
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: In dem Film Brand I ging es auch um die Frage einer Postwachstumsgesellschaft, die mit weniger Naturzerstörung und ohne Überproduktion auskommt. Um in diesem Zusammenhang noch einmal auf den Hafen zurückzukommen: Wäre so etwas überhaupt vermittelbar, ist der Welthandel doch eine wesentliche Stütze für eine sehr verschleißaufwendige Produktionsweise, wenn zum Beispiel Produktionsstufen aus bloßen Kostensenkungsgründen rund um die Erde transportiert werden? Gäbe es für eine solche Thematik überhaupt offene Ohren unter HafenarbeiterInnen?

GM: Ich glaube, daß das dringend erforderlich ist. Ich versuche, das meinige zu tun, um diese Thematik hineinzutragen. Bei "Digital Muss Sozial" geht es genau um diese Fragen, welche Korsettstangen kann ich intelligenterweise Rädern einziehen, welche Forderungen aufstellen zu dem, was produziert und transportiert werden soll. Ich habe neulich zweimal eine Hafenrundfahrt mit Jour Fixe gemacht, einmal mit öffentlichen Verkehrsmitteln in den westlichen Teil des Hafens, wo man sonst kaum hinkommt, und zum anderen so eine übliche Hafenrundfahrt. Was ich versucht habe zu vermitteln ist, daß es nicht darum gehen kann, immer nur diese Szenarien an die Wand zu malen, daß der Hafen ganz furchtbar ist und daß auch Gefahrgüter transportiert werden usw. Das halte ich nicht für besonders sinnvoll. Handel macht ja Sinn, aber welcher Handel ist sinnvoll? Austausch zwischen den Ländern macht durchaus Sinn, und wenn ich es nicht mit dem Flugzeug machen will, dann muß ich das schon mit dem Schiff tun, eine Alternative gibt es dazu nicht, weil das Meer dazwischen ist. Dazu muß man allerdings die Diskussion aufwerfen, mit was man handeln, und natürlich im zweiten Schritt, wie man produzieren will.

Die ganze Textilindustrie in der Bundesrepublik ist verschwunden, die findet in Bangladesch und sonstwo statt. Mein Ansatz dazu ist zu sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen Hafenarbeiter, wenn ihr nicht auch bald verschwinden wollt, müßt ihr euch überlegen, wie der Handel aussehen soll und nicht nur wie eure Arbeitsplätze aussehen sollen. Wie positioniert ihr euch dazu und was ist erforderlich und was nicht? Das fängt natürlich auch damit an, daß man an irgendeiner Stelle sagt, hier soll das Schiffswachstum aufhören. Dann entsteht eine politische Diskussion zum Beispiel zu der gerade für Steinwerder-Süd aktuellen Frage, ob man sich in welcher Form an der chinesischen Seidenstraße beteiligen will oder nicht? Ich glaube, das sind Angelpunkte, wo es möglich sein sollte, das den Menschen nahezubringen.

Wie funktioniert denn normalerweise ein Gespräch? Wenn ich mit einem jüngeren Kollegen rede, der nicht politisch angehaucht ist und sagt, ich will möglichst viel Geld verdienen und Spaß haben, dann erwidere ich möglicherweise, das wird dir persönlich nicht reichen, weil du dabei - einmal zugespitzt formuliert - irgendwann verblöden wirst, und es wird dich auch nicht ausfüllen, von irgendeinem Konsum zum anderen zu hasten. Frage dich lieber selbst, was kommt auf mich zu und was kann ich dann tun? Ich glaube, so kann es gehen, aber es wird sehr viel Arbeit bedürfen. Ob es allerdings möglich ist, dies innerhalb einer Gewerkschaft, die das eigentlich anschieben müßte, stärker zu plazieren, ist mir derzeit überhaupt nicht klar. Was Ver.di im Moment macht, sind Abfederungskonzepte, wie sie es immer gemacht haben. Der Unternehmer bestimmt, das Schicksal nimmt seinen Lauf, und wir gucken, ob bei uns links und rechts etwas herunterfällt, aber die Luft wird inzwischen dünn.

Alle haben immer gesagt, der konventionelle Umschlag geht zurück, aber das macht ja gar nichts, der Container wächst ja, alles toll. Diese ganze Containereuphorie hielt bis 2007, aber 2008 setzten Rückgänge ein. Da hieß es, das ist nur eine Delle, es wird bald wieder aufwärts gehen, aber inzwischen ist es irgendwie klar, da kommt nichts mehr. Vielleicht wird es ein paar Umverteilungen geben, aber es kann nicht immer so weiter wachsen. Meines Erachtens ist jetzt ein guter Zeitpunkt gekommen zu fragen, was denn dann passieren soll - etwa in Hinsicht auf das, was du berechtigterweise Postwachstumsgesellschaft nennst. Ich versuche, diese Frage den Menschen über die Betriebsratsgremien nahezubringen, aber es ist keine einfache Nummer. Wir versuchen es ja auch über Veranstaltungen. Allerdings bin ich Rentner und damit ein Auslaufmodell, ich bin sozusagen nicht mehr im Spiel, kein direkt Handelnder mehr. Gleichwohl versuche ich, die direkt Handelnden ein bißchen darin zu unterstützen, wie sie diese Themen plazieren und verhindern können, daß sie von der üblichen Logik, in die auch Gewerkschaftsapparate verfangen sind, plattgemacht werden.

SB: Gerd, vielen Dank für das lange Gespräch.


Drei DVDs zu Hafenthemen - Foto: © 2018 by Schattenblick

Arbeitskämpfe im Hamburger Hafen im Angebot des MPZ
Foto: © 2018 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://mpz-hamburg.de/bestellen/so-kommt-ihr-an-uns-nicht-vorbei/

[2] https://de.labournet.tv/neupack-dokumentation-eines-neunmonatigen-arbeitskampfes

[3] https://de.indymedia.org/node/22594


30. Oktober 2018


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