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ALLGEMEIN/202: "Adipositas ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe" - Probleme und Lösungsansätze (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 10, Oktober 2022

Adipositas ist Schicksal, nicht Schuld

von Astrid Schock


TAG DER AKADEMIE. Das Gefühl von Versagen, der Kampf gegen Vorurteile, Schuldgefühle, Depressionen - der Leidensweg Adipositaserkrankter ist meist lang. Probleme und Lösungsansätze wurden auf dem Tag der Akademie im September in Bad Segeberg diskutiert.


Seit den 1970er-Jahren hat sich die Zahl der adipösen Menschen verdreifacht, die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung erheblich verstärkt. Laut einer Umfrage hat jedes sechste Kind seit Beginn der Pandemie zugenommen, in der Altersgruppe zehn bis zwölf Jahre sogar jedes dritte Kind. Erhöhte Mediennutzung und veränderte Essgewohnheiten, der Wegfall von sportlichen Angeboten und die freiheitsnehmenden Maßnahmen während der Corona-Pandemie haben zu dieser Entwicklung beigetragen, ist sich Staatssekretär Dr. Oliver Grundei aus dem Ministerium für Justiz und Gesundheit sicher. Aus diesem Grund hat sich die Landesregierung - zusätzlich zu den Plänen, ein DMP einzuführen - als Ziel gesetzt, die Umwelt der Kinder und Jugendlichen in Zusammenarbeit mit den Bildungseinrichtungen durch Bewegungsförderung, gesundes Essen und außerschulische Angebote gesünder zu gestalten.

Auch bei Erwachsenen hat Adipositas während der Pandemie stark zugenommen. Zahlen der Barmer Ersatzkassen verdeutlichen: Je niedriger die Einkommensklasse und der Bildungsstand und je höher das Alter, umso stärker ist die Krankheitslast der Deutschen mit Adipositas. Während der Corona-Pandemie haben Prävention und die Versorgung adipöser Erkrankter gelitten. So gibt es zwar z. B. das "Rezept auf Bewegung", im Rahmen dessen Ärzte und Apotheker online ein Sportprogramm zusammenstellen können. Finden diese jedoch nicht statt, ist sowohl Prävention als auch Behandlung nicht umsetzbar.


"Adipositas ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe."  
Dr. Bernd Hillebrandt


"Adipositas ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe", ist sich Dr. rer. oec. Bernd Hillebrandt, Landesgeschäftsführer der Landesvertretung Schleswig-Holstein der Barmer, sicher. Hillebrandt sieht die Politik nicht nur bei der Einführung eines DMP in der Pflicht. Er nannte etwa die Einführung einer Zuckersteuer und das Werbeverbot für ungesunde Kindernahrungsmittel.

Die Einführung eines DMP Adipositas hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) im Jahr 2021 auf den Weg gebracht, im Jahr zuvor hat die WHO Adipositas als chronische Krankheit deklariert. Ziel ist ein strukturiertes Behandlungsprogramm für chronisch kranke Menschen, basierend auf den Erkenntnissen der evidenzbasierten Medizin, das Patienten den Umgang mit ihrer Erkrankung erleichtern und ihre Lebensqualität im Alltag verbessern soll.

Michael Odinius, Arzt für Allgemeinmedizin, behandelt in seiner Praxis seit 20 Jahren adipöse Patienten und ist sich sicher: wir brauchen kein DMP Adipositas. Odinius arbeitet mit seinen Patienten eng zusammen und berichtet von über 900 Behandlungsfällen in seiner Praxis. "Wir arbeiten gemeinsam auf Augenhöhe und erarbeiten psychologische Optimierungsmöglichkeiten", so Odinius. Er macht seinen Patienten keine Vorgaben, sondern zeigt Hilfestellungen auf, betrachtet die Umstände, die zu der Erkrankung geführt haben und behandelt ganzheitlich. Defizite, die bei der Behandlung von Adipositas entstehen, sieht Odinius im Wesentlichen durch Unkenntnis und Anwendungsfehler geltender Rechtsnormen begründet. Bedroht das Gewicht eines Patienten dessen Gesundheit, sei die Gewichtsreduktion als Krankenbehandlung zu sehen und daher Aufgabe des Vertragsarztes. Der Vertragsarzt habe somit den Eintritt des Versicherungsfalls festzustellen. Durch den daraus resultierenden Anspruch auf Krankenbehandlung habe der Arzt Einleitung, Durchführung und Überwachung der Behandlung zu verantworten und eine entsprechende Behandlung zu verordnen.

Trotz dieser Tatsache würden in Deutschland laut einer EASO-Studie aus dem Jahr 2014 78 % der befragten Ärzte sogar bei einer offensichtlich vorliegenden Adipositas ihre Patienten nicht darauf ansprechen. Der DAK-Versorgungsreport 2015 berichtet, dass lediglich 1 % der Versicherten mit einer Adipositasdiagnose eine Ernährungsberatung, und eine multimodale Therapie sogar nur 0,025 % der betroffenen Versicherten auf Antrag erstattet bekommen haben. Odinius sieht deshalb die Ärzteschaft in der Pflicht, die entsprechenden Behandlungen zu verordnen und dem Patienten so die Chance auf Kostenerstattung zu gewährleisten - die Einführung eines DMP Adipositas bringt in seinen Augen nicht den angedachten Anreiz. "Können wir diese Versorgungslücke nicht schließen, ist der Patient auf sich allein gestellt und muss auf unzureichende Alternativen wie Diätmittel, unzureichende Apps oder Ähnliches zurückgreifen", so Odinius.

Auch Oliver Huizinga, politischer Geschäftsführer der Deutschen Adipositas-Gesellschaft e.V., verdeutlicht die unzureichende Leistung der Krankenkassen bei der Diagnose Adipositas. Die Bausteine der Adipositastherapie bei Erwachsenen sehen die Basistherapie (Ernährung, Bewegung, Verhalten; begleitend: digitale Gesundheitsapps), die Arzneimitteltherapie (Orlistat, Liraglutid 3,0 mg, Semaglutid 2,4 mg) und die Chirurgie (biliopankreatische Diversion, Magenbypass, Magenband, Schlauchmagen) vor. Davon Regelleistung seien aktuell allein die Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA). Dabei stehen laut Huizinga evidenzbasierte Behandlungskonzepte zur Verfügung, die auch die Begleiterkrankungen bei Adipositas vermindern könnten. So ist das relative Risiko bei Adipositas für die Begleiterkrankungen Typ-2-Diabetes ca. neunfach erhöht, für Krebs ca. ein- bis dreifach, für koronare Herzkrankheiten ca. 2,5-fach, für Bluthochdruck ca. zweifach und Arthrose ca. dreifach erhöht. Da laut Definition ein DMP auch bedingte Folgeschäden und Komplikationen verringern oder vermeiden soll, sieht Huizinga die derzeit vorgegebenen Parameter für die Diagnose Adipositas und somit angedachten Einschreibungsvoraussetzungen für ein DMP Adipositas als zu spät an. Huizinga empfiehlt einen BMI ≥= 30 zum Einschluss ins DMP und schlägt vor, in Ergänzung zum BMI - wie von der Weltgesundheitsorganisation vorgeschlagen - auch die Bestimmung des Bauchumfangs für die Bestimmung individueller Risiken und Therapien in die Entscheidung mit einzubeziehen. Auch dürfe die leitliniengerechte Therapie nicht durch den § 34 SGB V ("Lifestyle-Paragraf", Ausschluss begleitender Arzneimitteltherapie) behindert werden. Es solle festgelegt werden, welche Arzneimittel unter welchen Voraussetzungen zur Gewichtsregulierung verordnet werden können.

Prof. Thomas Kötter vom Institut für Allgemeinmedizin an der Universität zu Lübeck sieht der Einführung eines DMP Adipositas kritisch entgegen. Zwar sei die Versorgung adipöser Patienten verbesserungswürdig, ein Abwägen von Nutzen und Schaden eines DMP aber unbedingt notwendig. "Wir haben bereits geeignete Instrumente in der Primärversorgung, in der Hausarztpraxis bedarf es einfacher und basaler Empfehlungen, um mit dem Patienten einen gemeinsamen Weg finden zu können", so Kötter. Er sieht Adipositas als gesamtgesellschaftliches Problem, welches in sektorübergreifenden Strukturen und einer angemessenen Kommunikation bearbeitet werden sollte.

Dass Sektorengrenzen die Behandlung adipöser Patienten derzeit hemmen, berichtet auch Dr. Jan Helling, Leiter Medizincontrolling im Westküstenklinikum Brunsbüttel und Heide gGmbH. Im Adipositas-Zentrum des Westküstenklinikums steht interdisziplinäre Zusammenarbeit im Fokus, die Vernetzung in den niedergelassenen Bereich könnte aber laut Helling für eine gute Vor- und Nachbetreuung noch verbessert werden. Inwiefern die Einführung eines DMP dies beeinflussen würde, ist sich Helling nicht sicher. "Die Rahmenbedingungen für die Nachbetreuung müssen offen und gerecht sein, um nicht im Regress enden zu müssen", so Jan Rahder, Arzt für Allgemeinmedizin. Einen fehlenden Willen, die Behandlung der Patienten zu begleiten, sieht Rahder nicht.

Dass Finanzen auch für die Einführung eines DMP ausschlaggebend sind, verdeutlicht Dr. Monika Mund, Abteilungsleiterin Indikationsbezogene Versorgungskonzepte bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. So erhalte jede Krankenkasse für jeden im DMP eingeschriebenen Patienten pro Jahr einen finanziellen Ausgleich aus dem Gesundheitsfonds - die Programmkostenpauschale. Bei Mehrfacheinschreibung - welche bei den Begleiterkrankungen der Adipositas sehr wahrscheinlich ist - erfolgt kein weiterer Ausgleich. Da die Voraussetzung für die Umsetzung eines DMP die Einreichung von Vertragsentwürfen beim Bundesamt für soziale Sicherung durch die Krankenkassen ist, sieht Mund die erfolgreiche Einführung eines DMP Adipositas derzeit nicht.

Grundei sieht das Ministerium vor allem in der Rolle als Vernetzer der einzelnen Akteure, um den optimalen Weg gehen zu können - ob der richtige Weg die Einführung eines DMP Adipositas ist, kann sich erst danach zeigen. "Denn wenn sich schon die Experten nicht einig sind, kann auch die Politik allein nicht die richtige Entscheidung treffen", so Grundei.

In zwei Punkten waren sich die Beteiligten einig: "Adipositas ist Medizin und nicht Schuld", wie Dr. Steffen Krause, Leiter des Adipositas-Zentrums am Westküstenklinikum Brunsbüttel und Heide, sagte. Deshalb müsse der Kampf gegen Adipositas als gesamtpolitische Aufgabe betrachtet werden.

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Info

Zum derzeitigen Stand des DMP Adipositas: Seit April diesen Jahres liegt der Vorbericht Adipositas des IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) vor und die Beratungen des G-BA haben Ende Juli 2022 begonnen. Ein Beschluss des G-BA und die Veröffentlichung der DMP-Anforderungen-Richtlinie wird Juli 2023 erwartet. Anschließend müssen die Rahmenbedingungen geschaffen und die Verträge zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen und Kassenverbänden ausgehandelt werden. Ein Vertragsabschluss wird frühstens 2024 erwartet.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 10, Oktober 2022
75. Jahrgang, Seite 34-35
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 15. November 2022

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