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GERIATRIE/284: Geriatrie - Bedarf im Land wächst weiter (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 10/2017

Geriatrie
Bedarf im Land wächst weiter

von Uwe Groenewold


Alle Beteiligten stellen sich auf mehr ältere Patienten ein. Hausärzte warnen: Für die künftige Versorgung werden mehr Ärzte benötigt.


Das erleben Kongressteilnehmer auch nicht alle Tage: Zum Auftakt der Lübecker Geriatrietage forderte Holger Petersen, Therapieleiter im Geriatriezentrum Rotes Kreuz, die Ärzte, Therapeuten und Pflegekräfte auf, ihre Schuhe auszuziehen, aufzustehen und den Stuhl beiseite zu schieben. Unter sphärischen Klängen folgte ein Bewegungsprogramm aus dem Chi Gong, das Petersen ansonsten regelmäßig mit seinen Patienten durchführt. Auch darüber hinaus war Mitmachen für die Teilnehmer angesagt: In Workshops wurden sie ganz praktisch etwa in die Inhalte des von der Kölner Sporthochschule entwickelten "AlltagsTrainingsProgramms" und des "Lübecker Modell Bewegungswelten" eingeführt. "In der Geriatrie geht es nicht immer nur um Krankheiten, sondern auch darum, wie man im Alter mobil und beweglich bleibt", so Petersen.

Bundesweit ist die Zahl der über 70-jährigen multimorbiden Patienten im Krankenhaus zwischen 2006 und 2015 von 1,1 auf zwei Millionen jährlich angestiegen. Ältere Menschen in Schleswig-Holstein können in 16 geriatrischen Krankenhausfachabteilungen an 20 Standorten umfassend behandelt werden. "Die Geriatrie ist die am schnellsten wachsende Krankenhausabteilung, die in den vergangenen Jahren viel stärker ins Bewusstsein der Bevölkerung, der Medizin und auch der Medien gerückt ist", erläutert Dr. Martin Willkomm, Ärztlicher Direktor des Geriatriezentrums im Krankenhaus Rotes Kreuz in Lübeck. Die Geriatrie umfasse acht Disziplinen, von der Inneren Medizin über die Allgemeinmedizin bis zur Neurologie, Psychiatrie und Chirurgie, so Willkomm. "Geriatrie darf nicht nur auf Reha heruntergebrochen werden. Wir sehen uns als erstklassigen Standort für eine gute Medizin."

Das Ziel der geriatrischen Versorgung des Landes ist im aktuellen Krankenhausplan klar umrissen: Durch das dreistufige Angebot soll die medizinische Versorgung der betagten multimorbiden Patienten sichergestellt werden. Grundlage hierfür ist die Landesrahmenvereinbarung zur geriatrischen Versorgung aus dem Jahr 2010. Hier sind insbesondere die Abgrenzungskriterien der ambulanten rehabilitativen, der teil- und vollstationären Pfade beschrieben. Daraus entstand vier Jahre später das Geriatriekonzept des Landes, das jetzt im Krankenhausplan 2017 noch einmal präzisiert wurde.

Der geriatrische Versorgungsverbund dient als sektorenübergreifendes Netzwerk und regionale Anlaufstelle für alle Fragen rund um die Geriatrie. Zu den maßgeblichen Aufgaben eines solchen Verbundes gehört es, geriatrische Patienten mittels Screening zu identifizieren, die Patientenversorgung in den unterschiedlichen Versorgungsstufen zu koordinieren, Qualitätskriterien der Einrichtungen zu überwachen und die fachliche Fort- und Weiterbildung zu ermöglichen. Kernstück des Versorgungsverbundes ist die stationäre Geriatrie. Bei indizierter stationärer Aufnahme eines in der Regel über 70-jährigen multimorbiden Patienten, dessen Krankheitsbild nicht mit ambulanten oder teilstationären Mitteln ausreichend zu behandeln ist, kann eine Direktaufnahme vom niedergelassenen Arzt oder ein schwellenfreier Übergang von einer Normalstation in die stationäre geriatrische Versorgung erfolgen. Fester Bestandteil der Versorgung sind die geriatrischen Tageskliniken geworden. Sie ermöglichen in vielen Fällen eine Wiedereingliederung in die häusliche Umgebung und können so zur Verkürzung oder Vermeidung eines vollstationären Behandlungsaufenthaltes führen. Dritter Versorgungsbaustein ist die 2010 eingeführte ambulante geriatrisch-rehabilitative Versorgung (AGRV), in die Patienten einbezogen werden, die nicht ausreichend im Rahmen der vertragsärztlichen Heilmittelversorgung behandelt werden können, für die aber keine stationäre Aufnahme indiziert ist.

Der Versorgungsbedarf im Land ist in den vergangenen Jahren erheblich gestiegen, wie der Krankenhausplan 2017 ausweist. Wurden 2015 insgesamt 20.685 Patienten in 1.078 Betten behandelt, gehen die Verantwortlichen für 2017 von 21.615 zu versorgenden geriatrischen Patienten aus, für die 1.152 Planbetten bereitgestellt werden müssen. Nach Anhörung der Krankenhäuser und Berücksichtigung weiterer relevanter Sachverhalte habe man sogar einen Bedarf von 1.179 Betten als realistisch angesehen und mit dem Krankenhausplan umgesetzt, so Christian Kohl, Sprecher des Kieler Sozial- und Gesundheitsministeriums. "Insofern ist der rechnerisch ermittelte Bedarf an Krankenhausbetten gedeckt. Sobald die genauen Patientenzahlen des Jahres 2017 vorliegen, kann überprüft werden, ob der ermittelte mit dem tatsächlichen Bedarf übereinstimmt", erklärte Kohl auf Anfrage des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblattes. Für 2019 und 2022 gehen die Experten derzeit von weiter steigenden Zahlen aus (siehe Tabelle am Ende). Ob der Bedarf gedeckt werden könne, müsse im Rahmen der Fortschreibung des Krankenhausplans 2019 geprüft werden, so Kohl weiter. Auch müssten die Zahlen der stationären Versorgung dann noch einmal kritisch unter die Lupe genommen werden, könne es hier doch zu einer Änderung der Versorgungsstruktur zum Beispiel durch den Aufbau geriatrischer Institutsambulanzen und den Ausbau tagesklinischer Versorgungsangebote kommen.

Während Schleswig-Holstein beim Auf- und Ausbau der stationären und tagesklinischen Versorgung laut Krankenhausplan "bundesweit führend" ist, gibt es bei der ambulanten Versorgung noch Luft nach oben. Die AGRV ist "ein Sorgenkind", wie Willkomm erläutert (siehe Interview). Aufgrund der Platzierung im Reha-Sektor ist das modellhafte Therapieprogramm abhängig von der Genehmigungspraxis der Krankenkassen und wird deshalb nur unzureichend genutzt. Auch im aktuellen Krankenhausplan gibt es entsprechende Kritik: "Mit der AGRV wurde ein zusätzliches Angebot geschaffen, das das bereits auf qualitativ hohem Niveau bestehende Versorgungsangebot im vollstationären und tagesklinischen Bereich ergänzt und das dreiphasige altersmedizinische Angebot vervollständigt. Aufgrund des im klinischen Alltag wenig praktikablen jetzigen antragsgestützten Anmeldeverfahrens mit resultierend deutlich sinkenden Fallzahlen muss zeitnah von allen Beteiligten nach Wegen gesucht werden, die ambulante Versorgung bedarfsgerecht sicherzustellen."

Der Bedarf für eine umfassende Versorgung älterer Menschen ist im niedergelassenen Bereich längst erkannt, erläutert Marco Dethlefsen, Sprecher der Kassenärztlichen Versorgung Schleswig-Holstein (KVSH). "Die Versorgung von geriatrischen Patienten wird zunehmend wichtiger. Es gibt immer mehr ältere Patienten mit chronischen Krankheiten, die vor allem in den Hausarztpraxen betreut werden. Um dem steigenden Behandlungsbedarf gerecht zu werden, haben KVSH und Krankenkassen sich in den diesjährigen Honorarverhandlungen darauf geeinigt, die hausärztliche Geriatrie mit 2,1 Millionen Euro zu finanzieren. Dies zeigt auch, welche Bedeutung die geriatrische Versorgung für uns hat."

Dr. Thomas Maurer, Landesvorsitzender des Hausärzteverbandes, lobt einerseits die gute Zusammenarbeit zwischen stationärer Geriatrie und Hausärzten: "Die Ergebnisse eingehender Assessments, konkrete Therapieempfehlungen und oft auch noch ausführliche Behandlungsberichte der Therapeuten sind für uns Hausärzte eine große Hilfe. Auch die von der Klinik oft schon eingeleiteten Betreuungsmaßnahmen sind für uns eine Entlastung." Als "Wermutstropfen" empfindet er jedoch die "regelmäßig umfangreichen Medikationsempfehlungen"; kaum ein Patient verlasse eine geriatrische Abteilung "ohne mindestens zehn Medikamente". Maurer: "Das ist dann ambulant gegenüber besorgten Patienten und Angehörigen meist nicht mehr korrigierbar."

"Auch die hochbetagten Patienten kommen meist in die Praxis. Das ist ja auch ein Teil der Therapie, weiter am ganz normalen Leben teilzunehmen."

Die wachsende Zahl geriatrischer Patienten hat seinen Beobachtungen zufolge jedoch nicht zu einer Zunahme von Hausbesuchen geführt. "Auch die hochbetagten Patienten kommen meist in die Praxis. Das ist ja auch ein Teil der Therapie, weiter am ganz normalen Leben teilzunehmen. Auch wenn dann der Kontakt in der Praxis länger dauert, ist das für uns Hausärzte immer noch besser, als die Zeit auf der Straße zu verbringen." Gleichwohl sei der Zeit- bzw. Ärztemangel das größte Problem in der geriatrischen Versorgung. "Hausärzte sind jetzt schon zeitlich an der Kapazitätsgrenze und sollen doch immer mehr Zeit für die Patienten haben." Er fordert, die hausärztliche Tätigkeit aufzuwerten und damit attraktiver zu machen, denn: "Wir brauchen nicht noch mehr Experten, die uns Hausärzten erklären, dass die Probleme von Schmerz, Depression, Alter und Sterben am besten dadurch gelöst werden, dass wir mehr, besser und am besten umsonst arbeiten, sondern wir brauchen mehr Ärzte, die diese Arbeit auch machen."

Und gibt es im stationären und teilstationären Bereich in Schleswig-Holsteins Geriatriezentren künftig genügend ärztliches und pflegerisches Personal? Das Geld dafür müsste laut Ministerium vorhanden sein: "Die Geriatrie ist von dem sich verschärfenden Wettbewerb um Fachkräfte nicht ausgenommen. In Schleswig-Holstein erfolgt die geriatrische Versorgung zum weit überwiegenden Teil als fallabschließende Versorgung. Dadurch bedingt rechnen die Krankenhäuser in der Regel gegenüber den Kassen die sogenannte geriatrische Komplexpauschale (OPS 8-550) ab. Diese stellt nach allgemeiner Auffassung zumindest eine ausreichende Finanzierung der ärztlichen, pflegerischen und therapeutischen Behandlung sicher", sagte Kohl.

Einem Fachkräftemangel könne man insbesondere dann erfolgreich entgegentreten, wenn das Berufsfeld attraktiv ist, so Willkomm. "Die Geriatrie muss immer dicht an der Akutmedizin, am Puls der Zeit bleiben und in der Mitte der medizinischen Disziplinen stehen." Ein weiterer positiver Aspekt sei die gelebte Interdisziplinarität: Hemmschwellen zur Zusammenarbeit seien in keinem Fachgebiet so niedrig wie in der Geriatrie. "Ärzte, Psychologen, Ergo- und Physiotherapeuten und die Pflege als größte Berufsgruppe - da hat sich viel verändert in den vergangenen Jahren. Wir können auf Station nicht mehr in einzelnen Berufsgruppen denken; wir arbeiten alle zusammen."

Bei den Lübecker Geriatrietagen lagen besondere Schwerpunkte auf den Bereichen "Bewegen" und "Behandeln". Das AlltagsTrainingsProgramm (ATP) und das Lübecker Modell Bewegungswelten (LBW) wurden mit Unterstützung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) entwickelt und umgesetzt. Die LBW richten sich insbesondere an Pflegeheimbewohner. Bei den Bewegungswelten handelt es sich um ein Trainingsprogramm zur Bewegungsförderung, das unter Beachtung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse und praktischer Erfahrungen der beteiligten Übungsleiter von der Forschungsgruppe Geriatrie Lübeck entwickelt wurde.

Deutlich früher setzt das ATP an. Das Trainingsprogramm wendet sich an "jüngere Alte", die zum Beispiel gerade in Rente gegangen sind, einen eher inaktiven Lebensstil führen und jetzt wieder aktiver werden wollen. "Wir wollen Frauen und Männer über 60 ansprechen, bei denen eine Grundmotivation zur Bewegung vorhanden ist, die keine Gehhilfen benötigen und mindestens 30 Minuten am Stück spazieren gehen können", erläuterte Christian Ammann von der Sporthochschule Köln. Zwei Drittel der Menschen dieser Bevölkerungsgruppe erfüllen die WHO-Empfehlungen nicht, 150 Minuten pro Woche körperlich aktiv zu sein. Körperliche Aktivität ist definiert als Bewegung, die den Energieverbrauch über den Grundumsatz anhebe, so Ammann. Schwimmen, Radfahren, Spazierengehen seien besonders geeignet, mindestens zehn Minuten am Stück sollte die Aktivität aber schon anhalten.

Ziel des ATP ist es, den Alltag drinnen und draußen als Trainingsmöglichkeit zu verstehen und dadurch ein Mehr an Bewegung in das tägliche Leben einzubauen, so Ammann. "Wir wollen Spaß und Freude an der Bewegung erlebbar machen, sodass sie dauerhafter Bestandteil im Alter wird." Das Training sei so angelegt, dass es ohne große Vorbereitung in Alltagskleidung und ohne den Einsatz von Fitnessgeräten direkt umgesetzt werden könne. Es umfasst zwölf Einheiten, die zur Hälfte innen, zum Beispiel in einem Gemeinschaftsraum, und zur Hälfte draußen umgesetzt werden. "Die Übungen sind sehr einfach, etwa Tragen, Heben, Aufstehen, Hinsetzen, Treppen steigen und Spaziergehen. Das eigene Wohnviertel kann man dabei als Sportstudio nutzen", erklärte der Sportwissenschaftler.

Das Programm wurde ab 2015 entwickelt und von April bis August 2016 in einer Pilotphase getestet und evaluiert. Teilnehmerbefragungen haben ausgesprochen positive Ergebnisse gebracht, die Abbrecherquote lag mit 13,9 Prozent deutlich unter der vergleichbarer Angebote. Seit Anfang 2017 wird ATP bundesweit umgesetzt, seit April kann es auch von Sportvereinen angeboten werden. Dank der BZgA-Förderung ist das Trainingsprogramm für alle Teilnehmer derzeit kostenfrei, so Ammann.

"Insgesamt wollen wir mit unseren Programmen wie ATP und LBW ältere Menschen aus allen Bereichen ansprechen", erläuterte Willkomm. Die Bewegungswelten etwa machen den Pflegeheimbewohnern ausgesprochen viel Spaß, so der Klinikleiter. Die Pilotphase des Trainingsprogramms werde ebenfalls durch eine umfassende wissenschaftliche Evaluation begleitet. Erste Ergebnisse belegen, dass Mobilität, Koordination, Kraft, Kognition und Lebensqualität der Teilnehmenden positiv beeinflusst werden konnten, erklärte Willkomm. Es sei also nie zu spät, mit dem Training zu beginnen; auch bei betagten Menschen sei ein positiver Effekt feststellbar.

Trotz erheblicher Präventionsbemühungen steigt die Zahl der altersbedingten Knochenbrüche rapide an. Wurden 1990 weltweit noch 1,6 Millionen Schenkelhalsfrakturen gezählt, werden es 2030 voraussichtlich schon 6,2 Millionen sein, erklärte Prof. Andreas Paech, Ärztlicher Direktor der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie am UKSH-Campus Lübeck. "Die Verletzungen haben erhebliche Folgen für die Betroffenen, die anschließend oft dauerhaft auf Hilfe angewiesen sind. Deshalb müssen wir alle uns besondere Mühe bei der Versorgung geben." Paech verwies darauf, dass die Knochenqualität der betagten Patienten deutlich abnehmend sei und ein Bruch des Hüftgelenks in aller Regel Erfolg versprechender mit einem Kunstgelenk versorgt werde. "Werden durch Osteoporose bedingte Brüche verschraubt, kommt es zweimal so häufig zu einer Revisions-OP als nach einem Gelenkersatz."

Das numerische Alter, so Paech, sei kein Grund, dem Patienten eine OP vorzuenthalten. Er berichtete unter anderem von einer 92-jährigen Patientin, die einen Bruch im Bereich des Kniegelenks erlitten hatte und bei der verschiedene Begleiterkrankungen (Diabetes, Demenz, arterielle Hypertonie, Polyneuropathie) diagnostiziert waren. "Unter Berücksichtigung ihrer Lebenssituation und des erhöhten Risikoprofils haben wir uns gegen eine verschraubbare Platte und für einen Gelenkersatz entschieden", erläuterte Paech. Die Operationsmethoden haben sich seinen Ausführungen zufolge in den vergangenen Jahren erheblich weiterentwickelt. Kleine Schnitte, bei denen es nur zu geringen Muskulatur- und Nervenschäden komme, seien heute die Regel. "Die meisten Patienten sind postoperativ schmerzarm und können schnell wieder mobilisiert werden. Das ist für den weiteren Verlauf von entscheidender Bedeutung."

Paech betonte, dass die medizinische Versorgung älterer Patienten mit einem Knochenbruch eine gute Struktur benötige, die Zeit vom Therapiebeginn bis zur möglichen Wiedereingliederung in den häuslichen Alltag sei lang und für viele Patienten beschwerlich. In Lübeck, so Paech, gebe es eine gute Zusammenarbeit von Ärzten verschiedener Fachrichtungen, unter anderem auch durch das von der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie zertifizierte Alterstraumazentrum der Uniklinik. "Wir Chirurgen", so der Klinikleiter, "denken heute auch schon wie Geriater."

*

Dr. Martin Willkomm: "Der aktuelle Geriatrie-Plan hat
Planungssicherheit gebracht."

Dr. Martin Willkomm, Ärztlicher Direktor des Geriatriezentrums im Krankenhaus Rotes Kreuz in Lübeck, hat kürzlich die Lübecker Geriatrietage organisiert und zu diesem Anlass zahlreiche Berufsgruppen zum Thema in der Hansestadt zusammengebracht. Im Interview mit Uwe Groenewold nimmt er zur geriatrischen Versorgung in Schleswig-Holstein und künftigen Herausforderungen Stellung.

SHÄ: Dr. Willkomm, warum rückt die Altersmedizin so stark in den Fokus?

Dr. Martin Willkomm: Ein Grund: Früher haben wir mit dem Thema Geriatrie nur Hochbetagte verbunden, heute sprechen wir bei 60-Jährigen von älteren Menschen, die, wenn es um die Prävention geht, viel stärker im Blickpunkt stehen als früher. Und 60 ist oft nicht weit entfernt, das Thema kommt für viele Menschen persönlich immer näher.

Gibt es in Schleswig-Holstein genügend Kliniken und Praxen, die sich um die medizinische Versorgung geriatrischer Patienten kümmern?

Willkomm: Schleswig-Holstein verfügt dank seiner gewachsenen, stets vom Sozialministerium begleiteten geriatrischen Strukturen bundesweit über eine vorbildhafte geriatrische Versorgung. Die Einbindung in das Akutsystem - wir behandeln in unserem Bundesland ähnlich wie in Hamburg, Bremen oder Berlin die Patienten in der Geriatrie fallabschließend - sorgt für einen reibungslosen Übergang in die Geriatrie ohne Antrags- und Wartezeit. Die gut ausgebaute ambulante und tagesklinische Versorgung entlastet zusätzlich das stationäre System. Zum Beispiel werden hier in Lübeck bei rund 3.000 Akutpatienten im stationären geriatrischen Bereich rund 1.000 anschließend tagesklinisch oder ambulant weiterversorgt. Die aktuelle Infrastruktur in Schleswig-Holstein ist für die jetzige Versorgung gut austariert, muss aber in Zukunft den demografischen Zahlen weiter angepasst werden.

Was müsste getan werden, um die Versorgungssituation im Land zu optimieren?

Willkomm: Im stationären Bereich ist die Versorgung sehr gut und flächendeckend vorhanden, der aktuelle Geriatrie-Plan hat hier Planungssicherheit gebracht. Die Versorgung im ambulanten Bereich - insbesondere die Ambulante Geriatrisch-Rehabilitative Versorgung (AGRV) - ist jedoch nach wie vor ein Sorgenkind der geriatrischen Kliniken. Dieses modellhaft 2007 gestartete, gut zweieinhalbstündige geriatrische Therapieprogramm mit integriertem Fahrdienst ist aufgrund seiner Platzierung im ambulanten Reha-Sektor abhängig von der Genehmigungspraxis der Krankenkassen. Dies hat bisher seit Beginn des Regelbetriebes 2010 nur zu einer halbwegs funktionierenden Versorgung an drei der insgesamt 16 geriatrischen Krankenhausfachabteilungen in Schleswig-Holstein geführt. In diesem wichtigen ambulanten Sektor könnte die Versorgung noch weiter verbessert werden.

Warum ist die Behandlung geriatrischer Patienten so komplex?

Willkomm: Das lässt sich am Beispiel der Schenkelhalsfraktur gut erläutern. Der Patient kann den Sturz aufgrund von Herzrhythmusproblemen erlitten haben, dazu eine Seh- und Hörstörung aufweisen und durch das aktuelle Ereignis kognitiv aus dem Lot geraten sein. Die Weiterbehandlung der Frakturfolgen schließt daher eine Ursachenabklärung, noch mehr jedoch eine Strategie mit ein, wie ein vergleichbares Ereignis bei häufig fortbestehenden Problemen verhindert werden kann. Der geriatrische Patient benötigt durch seine Multimorbidität ein medizinisch und therapeutisch breit aufgestelltes interdisziplinäres Team aus Ärzten, Pflege und Therapeuten.

Und was wird in spezialisierten geriatrischen Einrichtungen anders gemacht als in einer herkömmlichen internistischen Klinik?

Willkomm: Spezialisierte geriatrische Einrichtungen sind zunächst auch gut ausgestattete internistisch-allgemeinmedizinisch ausgerichtete Abteilungen und Kliniken. Anders als in der reinen Inneren Abteilung werden jedoch unmittelbare Kooperationen zu den wichtigsten Zuweisungsabteilungen aufgebaut. Außerdem wird von Beginn an der Übergang in den ambulanten Bereich in den Mittelpunkt gestellt. Dieses Überleitungsmanagement wurde zu Recht auch in der aktuellen Gesetzgebung aufgenommen. Zur Vernetzung gehört der enge Austausch mit Stroke Units, Kardiologien und Kardiochirurgien. In der Unfallchirurgie und Orthopädie wurden seit 2012 landesweit bereits mehrere Alterstraumazentren in den Geriatrien gegründet. Im Krankenhausplan wird daher folgerichtig von "geriatrischen Zentren" und nicht nur von geriatrischen Stationen oder Kliniken gesprochen.

Welche Bedeutung haben in diesem Zusammenhang die Tageskliniken?

Willkomm: Die tagesklinische Versorgung findet an allen geriatrischen Standorten im Verbund mit stationären und ambulanten geriatrischen Bausteinen statt. Dies ist notwendig und sinnvoll, so kann der Übergang aus der Akutabteilung auch direkt in die geriatrische Tagesklinik erfolgen. Umgekehrt kann beispielsweise bei auftretenden Komplikationen, die einen stationären geriatrischen Aufenthalt medizinisch begründen, auf kurzem Wege die Übernahme aus der Tagesklinik in die stationäre Geriatrie - und nach Abklingen des Krankheitsgeschehens auch die Rückübernahme - durchgeführt werden.

Inwiefern profitiert der Patient von dem komplexen Versorgungsangebot?

Willkomm: Innerhalb dieser Verbünde finden unter anderem regelmäßige, mindestens wöchentliche gemeinsame Visiten zur bestmöglichen Versorgung und Information des Patienten statt. Darüber hinaus vermitteln wir Wissen durch die Herausgabe von Lehrbüchern und beteiligen uns aktiv an Forschungsprojekten, zum Beispiel in der Forschungsgruppe Geriatrie Lübeck. Auch die Programme der aktuellen Präventionsgesetzgebung werden in Geriatrien in Schleswig-Holstein federführend durchgeführt, zum Beispiel das Lübecker Modell Bewegungswelten im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.

Vielen Dank für das Gespräch.

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Dr. Martin Willkomm ist seit 2003 Ärztlicher Direktor im Geriatriezentrum des Rotes Kreuz Krankenhauses in Lübeck. Der 57-jährige hat in Kiel, Würzburg und Johannesburg Medizin studiert. 1995 hat er die Zusatzbezeichnung "Klinische Geriatrie" erworben. Seit 2005 ist er wissenschaftlicher Leiter des Qualitätszirkels Geriatrie in Lübeck.

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Kurz notiert
AUSSTATTUNG GERIATRIE

Geriatrische Fachabteilungen in Krankenhäusern weichen von der Ausstattung der übrigen Fachabteilungen deutlich ab: Die Stationsgröße umfasst 24 bis 26 Betten (übliche somatische Station: 36 bis 38 Betten). Weitere Abweichungen gibt es bei der Größe der Toiletten, der Notwendigkeit eines Stationsbades und von Extraräumen, zum Beispiel für die Lagerung von Rollstühlen und Gehhilfen. Die Klinik sollte über eine Physikalische Therapie mit Bewegungsbad (30 Quadratmeter groß, 1,2 Meter tief), einen Sozialdienst und einen psychologischen Dienst verfügen.


WIE WOLLEN WIR IM ALTER LEBEN?

Das Projekt Zukunftsszenario Altenhilfe Schleswig-Holstein 2030/45 (www.zash2045.de) beschäftigt sich mit der Zukunftsfrage nach einem attraktiven Leben auch im ländlichen Raum. Über 300 Bewohner aus den Kreisen Segeberg und Nordfriesland haben sich in einer Online-Befragung geäußert. Nach Auswertung aller eingegangenen Informationen soll im Frühjahr 2018 eine Zukunftskonferenz stattfinden, in der "gemeinsame Pfade" gelegt werden sollen "wie wir überall alt werden können".


BEDARFSPLANUNG GERIATRISCHE VERSORGUNG IN SCHLESWIG-HOLSTEIN
Jahr

Fallzahlen

Vollstationäre
geriatrische Betten
2015
2017
2019
2022
20.685
21.615*
22.780*
24.418*
1.078
1.152**
1.214**
1.301**

* Schätzung Fallzahlen unter Berücksichtigung der bisherigen Entwicklung
** Zahl der Planbetten ergibt sich aus mittlerer Verweildauer von 17,5 Tagen und Auslastung von 90 Prozent


HILFREICHE INTERNETADRESSEN

- Beim Bundesverband Geriatrie gibt es vielfältige Informationen aus den einzelnen Landesverbänden (www.bv-geriatrie.de). Alle Adressen und Ansprechpartner der Einrichtungen in Schleswig-Holstein sind hinterlegt.

- Der Krankenhausplan 2017 ist auf dem Landesportal

www.schleswig-holstein.de abrufbar.

- Mehr zu den von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) geförderten Präventionsprogrammen "Lübecker Modell Bewegungswelten" und "AlltagsTrainingsProgramm" gibt es hier:
www.aelter-werden-in-balance.de

*

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Bewegungsprogramme für "jüngere Alte", die gerade in Rente gegangen sind, sprechen Menschen an, die eine Grundmotivation zur Bewegung haben und mindestens 30 Minuten am Stück spazieren gehen können.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 10/2017 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2017/201710/h17104a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, Oktober 2017, Seite 6 - 9
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-272, -273, -274,
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.de
www.aeksh.de
www.arztfindex.de
www.aerzteblatt-sh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2017

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