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NEUROLOGIE/772: Forschung - Wenn die Welt aus dem Gleichgewicht gerät. Schwindel und seine Ursachen (idw)


Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) - 11.10.2013

Schwindel und seine Ursachen: Wenn die Welt aus dem Gleichgewicht gerät



Schwindel gehört zu den zehn häufigsten Gründen für eine neurologische Untersuchung. Alleine in Baden-Württemberg führt er pro Jahr zu rund 250.000 Hausarzt-Besuchen und zu 50.000 bis 70.000 Krankschreibungen. Die Ursachen von Schwindel sind vielfältig: Er kann Leitsymptom verschiedener Erkrankungen sein, die von Innenohr, Hirnstamm oder Kleinhirn ausgehen, aber auch psychischer Natur sein.

Obwohl der mit akutem Schwindel einhergehende Kontrollverlust zu starken Ängsten führt, sind viele Ursachen nicht lebensbedrohlich. Nur in seltenen Fällen steckt ein Tumor oder eine Multiple Sklerose dahinter. Im Alter ist der Schwindel eine häufige Sturzursache. Angesichts der Möglichkeit eines zugrunde liegenden Schlaganfalls, ist der akute Schwindel im Alter sogar ein Fall für den Notarzt.

Trotz der hohen klinischen Bedeutung sind Patienten mit dem Leitsymptom Schwindel häufig unter- und fehlversorgt. Dies gilt sowohl für die Diagnose als auch für die Therapie. Die Folge: Oft überflüssige Röntgenaufnahmen der Halswirbelsäule sowie Computertomographien. Auch Heil- und Arzneimitteln, deren Wirkung fragwürdig ist, werden häufig verordnet. "Schwindel kann - vor allem angesichts seiner engen Verknüpfung mit gut nachvollziehbaren Ängsten - zu Vermeidungsverhalten und Chronifizierung führen. Diese können jedoch teilweise durch frühzeitige diagnostische Weichenstellung und Information des Patienten verhindert werden.", warnt Dr. Joern Pomper vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) und der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Tübingen, vor allzu sorglosem Umgang mit dem Schwindel. Andererseits sei zuzugestehen, dass gegenwärtig selbst bei optimaler Diagnostik rund ein Drittel der chronischen Schwindelbeschwerden nicht abschließend erklärt werden kann und ein weiteres Drittel zum heutigen Zeitpunkt nur unbefriedigend behandelbar ist, so der Experte weiter.

Ausführliches Patientengespräch unverzichtbar

Wichtig ist zunächst einmal die Schwindelursachen zu klären, wofür in der Regel ein ausführliches Gespräch und die erste Untersuchung die entscheidende Richtung vorgibt: Gesucht wird zuerst nach gravierenden Ursachen wie ein Schlaganfall, ein Tumor oder eine Multiple Sklerose. Weniger bedrohliche, aber trotzdem belastende Erkrankungen, wie ein akuter Ausfall eines Gleichgewichtsorgans, Migräne oder ein gutartiger Lagerungsschwindel, werden im Anschluss evaluiert. Patienten mit Lagerungsschwindel - Mediziner sprechen vom benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel, kurz BPPV - können sehr gut behandelt werden. Anders als viele Patienten oft intuitiv meinen, ist nicht das Vermeiden der auslösenden Kopf- und Körperpositionen sinnvoll, sondern eine spezielle Art der Krankengymnastik in Form von Lagerungsmanövern. Auch die Angst eines Betroffenen vor bestimmten Situationen kann für Schwindelattacken verantwortlich sein. In vielen Fällen kann hier bereits eine Erklärung des Krankheitsmechanismus hilfreich sein, wenn es darum geht Schwindelattacken und Angstzustände zu beheben.

Forschung über Gleichgewicht und Raumwahrnehmung

"Unter normalen Umständen berechnet das Gehirn wie wir selbst in Bezug auf unsere Umgebung gehen, sitzen, stehen oder liegen. Es verankert uns also in der Welt", so Pomper. Damit das Gehirn das tun kann, ist es auf intakte sensorische Organe angewiesen: Allen voran das paarig angelegte Gleichgewichtsorgan. Es liefert Informationen über die Stellung und Bewegung des Kopfes. Kombiniert mit Informationen über die Stellung der einzelnen Gelenke des Körpers, aber auch über die Stellung der Augen, gelingt es dem Gehirn, die Bewegungen seiner selbst zu erkennen. Für das Erkennen von Bewegungen der Umgebung, ist vor allem das Sehen und damit die Verarbeitung optischer Bewegungsreize notwendig. Gerade wenn die Unterscheidung zwischen eigener Bewegung und Bewegungen der Umgebung nicht mehr gelingt, man also nicht mehr weiß, ob man sich selbst oder ob sich die Umgebung bewegt, eine Situation, die man beim Beobachten eines fahrenden Zuges auf dem Nachbargleis erleben kann, kommt es zu Schwindel. Nun werden jedoch optische Bewegungsreize auch durch eigene Bewegung hervorgerufen. Wie kann das Gehirn dann zwischen eigen und fremd unterscheiden? Indem es die Informationen aus dem Sehsystem mit Informationen aus dem Gleichgewichtsorgan und über die Stellung der Gelenke kombiniert. Und es steht eine weitere Informationsquelle über eigene Bewegungen zur Verfügung: Sogenannte Kopien der Bewegungsbefehle an die Muskulatur. Bewegt man sich selbst aktiv, so hat das Gehirn diese Bewegung hervorgebracht und verfügt folglich über dieses Wissen. Das kann benutzt werden, um eigene, das heißt selbst hervorgebrachte, Bewegungen zu erkennen.


Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution1351

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH), Silke Jakobi, 11.10.2013
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Oktober 2013