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ONKOLOGIE/1441: Welche Rolle spielen Proteine bei der Krebsentstehung? (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2013
Ruhr-Universität Bochum

Welche Rolle spielen Proteine bei der Krebsentstehung?
Protein-Analyse mit zeitaufgelöster Infrarot-Spektroskopie und spektraler Histopathologie

von Klaus Gerwert



Ein Tumor entsteht nicht über Nacht. Zunehmende Veränderungen der Proteine führen zu Störungen der Proteinnetzwerke in der lebenden Zelle. Dadurch gerät die Zelle aus dem Takt und schließlich ganz außer Kontrolle. Die Veränderungen in den einzelnen Zellen führen zu unkontrollierten morphologischen Veränderungen im Verbund der Zellen im Gewebe. Diese morphologischen Veränderungen werden immer größer und münden schließlich in den Tumor. Dabei ist jeder Tumor bei jedem Menschen anders ausgeprägt. Je früher und differenzierter man den Tumor diagnostiziert, umso größer ist die Überlebenschance. Daher ist es wichtig, neue, individuell auf den jeweiligen Patienten zugeschnittene Diagnosemethoden zu etablieren, die Veränderungen der Proteine in einem möglichst frühen Stadium entdecken können.


Nahezu alle Krebs- und neurodegenerativen Erkrankungen lassen sich auf veränderte Proteine zurückführen. Daher ist es nicht nur von akademischem Interesse, Proteine und ihre Arbeitsweise im Detail zu verstehen. Ein detailliertes Verständnis wird die Diagnose und die Therapie deutlich verbessern. Mit Hilfe der in meiner Arbeitsgruppe entwickelten zeitaufgelösten FTIR-Spektroskopie (Info 1) kann man heute mit einer bisher unerreichten Empfindlichkeit und höchster räumlicher und zeitlicher Auflösung die Arbeitsweise der Proteine auf verschiedenen Skalen, vom isolierten Protein bis hin zur lebenden Zelle, detailliert aufklären (Abb. 2). Der Vorteil der Methode besteht darin, dass die Proteine nicht invasiv in ihrer natürlichen Umgebung zeitaufgelöst analysiert werden können. Sie müssen weder vorbehandelt, etwa kristallisiert, noch angefärbt werden, zum Beispiel mit fluoreszierenden Sonden. Diese in der Grundlagenforschung sehr erfolgreiche Methode bringen wir derzeit in die translationale klinische Forschung ein. Sie soll eine differenzierte, vorhersagende und personalisierte Diagnose ermöglichen, die im Wesentlichen auf einer Veränderung der Proteine basiert.

Beispiel Darmkrebs: Heutzutage ist der Goldstandard die Diagnose durch eine Pathologin oder einen Pathologen. Diese(r) wertet angefärbte (Hämatoxylin-Eosin-Färbung, kurz H&E-Färbung) dünne Schnitte einer Gewebeprobe des Darms am Mikroskop aus. In Ergänzung dazu haben wir in meiner Arbeitsgruppe in PURE (Protein Research Unit Ruhr within Europe, Info 2) am Lehrstuhl für Biophysik eine neue Methode etabliert, die an Gewebeschnitten eine Marker-freie, automatisierte "spektrale Histopathologie" der Gewebeveränderungen in einem frühen Stadium ermöglicht. Im Gegensatz zu bisherigen Methoden sind keine Färbungen des Gewebes mehr nötig. Das eröffnet die Möglichkeit, in Zukunft direkt am Patienten bereits bei einer Koloskopie die Diagnose zu unterstützen.

Bei der spektralen Histopathologie wird nicht wie bei der klassischen Histopathologie ein angefärbter, wenige Mikrometer dünner Gewebeschnitt mit einem Lichtmikroskop untersucht. Stattdessen wird der ungefärbte Gewebeschnitt mit einem Infrarotmikroskop aufgenommen. Man erhält also nicht sofort farbige Bildpunkte, aus denen sich dann das Gesamtbild des Gewebes zusammensetzt, sondern an jedem Bildpunkt ein komplettes Infrarotspektrum. Ein solches Infrarotspektrum reflektiert dabei den Zustand aller Proteine im jeweils gemessenen Bildpunkt. An jedem Bildpunkt (Pixel) wird ein komplettes Spektrum mit ca. 500 spektralen Elementen aufgenommen. Die jeweilige Pixelgröße liegt im Bereich weniger Mikrometer (zum Beispiel 5,5 x 5,5 µm²). Dabei liefert ein Spektrum das Summensignal über alle im Pixel vorliegenden Proteine, aber keine weiteren Details über einzelne Proteine. Sind die Proteine verändert, erhält man ein verändertes Spektrum. Jedes Spektrum ist dabei so charakteristisch für die Veränderung der Proteine wie ein Fingerabdruck für eine einzelne Person. Das Spektrum wird verglichen mit bekannten Spektren von gesundem Gewebe und Tumoren aus einer Datenbank. Durch den Vergleich kann das Spektrum einem gesunden Gewebetyp oder einem Tumor zugeordnet werden. Der Vergleich der Spektren mit den spektralen Biomarkern der Datenbank erfolgt mit modernsten bioinformatischen multispektralen Bildanalyseverfahren. Jedem Spektrum wird schließlich eine Farbe zugeordnet, zum Beispiel Rot für Tumor, Weiß für Muskel usw. (Abb. 3). Man erhält am Ende wie bei der klassischen Histopathologie ein angefärbtes Bild des Darmgewebeschnitts. Allerdings beruht die Färbung auf dem Vergleich von ca. 500 spektralen Einzelelementen pro Bildpunkt und nicht auf einer einzelnen Färbung mit H&E. Jede Farbe zeigt direkt einen bestimmten Gewebetyp oder den Tumor an, im Gegensatz zur H&E-Färbung, die nur der sehr erfahrene Pathologe zuordnen kann.

Die automatisierte, nicht invasive und Marker-freie Zuordnung der Gewebetypen durch spektrale Histopathologie haben wir mit der Pathologin Andrea Tannapfel und dem Bioinformatiker Axel Mosig entwickelt. Zur weiteren Absicherung der Zuordnung haben wir die Proben auch noch mit Tumormarkern angefärbt, fluoreszierenden Antikörpern gegen die Proteine p53 und Ki 67 (Abb. 4). Diese Marker färben veränderte Zellkerne an, die gute Indikatoren für Tumorzellen sind. Mit der spektralen Histopathologie konnten auch im mutmaßlich gesunden Gewebe bereits Tumorzellen im Frühstadium identifiziert werden. Es zeigt sich, dass die immunhistochemische Zuordnung mit fluoreszierenden Tumormarkern und die spektrale Histopathologie im Wesentlichen die gleichen Tumorbereiche anfärben. Dies bestätigt eindrucksvoll die korrekte Zuordnung des Tumors mit Hilfe der spektralen Histopathologie.

Man erkennt allerdings, dass die Infrarotspektroskopie keine Details innerhalb der Zelle auflösen kann, da die räumliche Auflösung mit etwa zehn Mikrometern in der gleichen Größenordnung wie die der Zelle liegt. Daher haben wir alternativ die Raman-Mikroskopie (Info 1) eingesetzt, die eine Auflösung von ca. 500 Nanometern erreichen kann (Abb. 5). Wie das FTIR-Imaging erkennt auch die Raman-Mikroskopie die krankhaften Veränderungen der scheinbar intakten Zellen, aber räumlich viel besser aufgelöst. Insbesondere sind die Zellkerne der Tumorzellen darstellbar. Es zeigt sich eine sehr gute Überlagerung der mit Hilfe von Tumormarkern identifizierten Zellkerne der Krebszellen und der mit der Raman-Mikroskopie identifizierten Zellkerne.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die spektrale Histopathologie krankhafte morphologische Veränderungen im Gewebe automatisiert und Marker-frei erkennen kann.

Diese an dünnen Schnitten von Biopsien etablierte Methode soll im nächsten Schritt in PURE bei Schlüsselloch-Operationen, also endoskopisch, eingesetzt werden: Mit Hilfe von Lichtleitern können direkt vor Ort, zum Beispiel im Darm, Spektren aufgenommen und mit der Datenbank für spektrale Biomarker abgeglichen werden. Darmkrebs kann so direkt bei der Untersuchung des Patienten im frühen Stadium präzise diagnostiziert werden.

Die Möglichkeiten der Raman-Mikroskopie gehen aber noch weit über die Darstellung von Gewebe hinaus. Aufgrund der höheren räumlichen Auflösung lassen sich sogar subzelluläre Strukturen, also Bestandteile einzelner Zellen, auflösen. Genauso wie bei der spektralen Histopathologie an Gewebe misst man ortsaufgelöst die Raman-Spektren und erhält Bildpunkte, die jeweils integral, also in der Summe und nicht im Detail, den biochemischen Zustand an der gemessenen Stelle wie ein Fingerabdruck reflektieren. Durch Vergleich mit Fluoreszenzmarkern für die jeweiligen Zellkomponenten kann man dann die Bildpunkte subzellulären Strukturen zuordnen. Damit kann man simultan das komplette Geschehen in der Zelle verfolgen: zum Beispiel die Verteilung von Medikamenten in der Zelle. Die Aufnahmen können in verschiedenen Schichttiefen (konfokal) durchgeführt werden (Abb. 6). Durch Überlagerung dieser Bilder lässt sich dann sogar ein dreidimensionales Bild der Zelle erstellen (Abb. 6). Eine spezielle Form der Raman-Mikroskopie, die Coherent Anti-Stokes Raman Scattering (CARS)-Mikroskopie (Info 1), erlaubt dabei sogar sehr schnelle Aufnahmen von Prozessen innerhalb der Zellen. Man kann damit praktisch Filme über das Geschehen in der Zelle drehen.

Will man aber nicht nur die Diagnose verbessern, sondern einen tieferen Einblick in die Ursachen der Erkrankung erzielen und damit gezielter und personalisierter therapieren, muss man die veränderten Proteine - man spricht von onkogen veränderten Proteinen - direkt angreifen. Dazu benötigt man ein detailliertes Verständnis der Arbeitsweise der Proteine und ihrer Interaktionen in Netzwerken der lebenden Zelle. Ein Schlüssel-Protein, dessen Gen in vielen Tumoren onkogen verändert ist und daher eine zentrale Rolle bei der Krebsentstehung spielt, ist das Ras-Protein. Es schaltet externe Wachstumssignale zum Zellkern weiter (Abb. 7). Ist dieser Schalter blockiert, ist das fatal: Es kommt zu unkontrolliertem Zellwachstum, und schließlich entsteht ein Tumor. Veränderungen im Ras-Protein führen zur Bildung von Geschwulsten (Adenomen) in der Darmwand, einer Vorstufe des Tumors.

Wie aber funktioniert dieser Protein-Schalter? Ras ist eine so genannte kleine GTPase. Sie wirkt als Katalysator auf Guanosintriphosphat (GTP), ein Ligand mit drei Phosphatgruppen. Bei der Katalyse beschleunigt Ras die Abspaltung der dritten Phosphatgruppe von GTP; es entstehen GDP (Di-Phosphat) und freies Phosphat Pi. In Wasser dauert es Tage, bis GTP gespalten wird, in dem Ras-Protein nur eine halbe Stunde. Das ist aber noch zu langsam, um Prozesse in der Zelle zu regulieren. Dazu ist ein weiteres Protein nötig: das GAP (GTPase Aktivierendes Protein). Es bindet an Ras. Im Ras-GAP-Proteinkomplex erfolgt der GTP-Abbau in wenigen Millisekunden. Insgesamt kann die Zelle diese so genannte GTP-Hydrolyse also um zehn Größenordnungen beschleunigen; eine fantastische biochemische Leistung.

Die GTP-Hydrolyse ist die Reaktion, mit der Ras abgeschaltet wird. Wie wird es aber angeschaltet? Das Ras wird angeschaltet, indem GDP mit Hilfe eines weiteren Proteins, genannt GEF, durch GTP ausgetauscht wird (Abb. 7). Das Ras-Protein verändert durch die Bindung an GTP seine Oberfläche und wird dadurch aktiviert. Der Weg ist frei für die Bindung eines weiteren Proteins aus der so genannten MAP-Kinase-Signalkette. Diese leitet die Signale zum Zellkern weiter.

Normalerweise wird durch Abspalten des dritten Phosphates von GTP und die damit verbundene Rückkehr in den inaktiven Ras-Zustand die Signalweiterleitung unterbrochen. Onkogene Veränderungen im Ras-Protein in der Nähe des dritten Phosphates verlangsamen aber diese Abschaltreaktion um mehrere Größenordnungen. Ras wird dann nicht mehr abgeschaltet, und es kommt zur unkontrollierten Signal-Weiterleitung. Daher haben wir diesen Schlüsselprozess zur Krebsentstehung im Detail analysiert. Wie Ras abgeschaltet wird, untersuchen wir im SFB 642 "GTP- und ATP-abhängige Membranprozesse". Es besteht dabei eine enge Zusammenarbeit mit Alfred Wittinghofer, Roger Goody und Herbert Waldmann, die die ehemaligen und derzeitigen Direktoren am Max-Planck-Institut in Dortmund sind.

Wie kann man diese Katalyse mit der zeitaufgelösten FTIR-Spektroskopie untersuchen? Da bei der Infrarot-Absorptionsspektroskopie simultan unterschiedlichste Vibrationsschwingungen angeregt werden, führt dies bei einem Protein, welches aus vielen Gruppen besteht, zu einem undurchdringlichen Dschungel von Banden im Spektrum, also vielen verschiedenen Signalen. Durchdringen kann man diesen Dschungel mit der Differenzspektroskopie: Durch die Bildung der Differenz zwischen dem aus- und angeschalteten Zustand werden alle weit über tausend Banden der einzelnen Proteingruppen, die nicht an der Reaktion beteiligt sind, einfach voneinander abgezogen, da sie unverändert sind. Hat man ein Bild des Dschungels einmal mit einem sich gut tarnenden Tiger aufgenommen und dann das gleiche Bild ohne Tiger, erkennt man den Tiger, indem man beide Bilder einfach voneinander abzieht.

Die Banden der aktiven Gruppen bleiben also bei der Differenzbildung übrig und tauchen im Differenzspektrum auf. Mit der am Lehrstuhl für Biophysik entwickelten und patentierten Step-Scan FTIR-Methode können wir winzigste Änderungen von 10-6 vom Nanosekunden- bis in den Sekundenbereich in einer einzigen Messung zeitaufgelöst verfolgen.

Ein weiteres Problem, das gelöst werden musste, war die Zuordnung der einzelnen Banden. Das Bild des Tigers ist selbsterklärend, nicht aber die Absorptionsbanden im Infrarotspektrum. Im Gegensatz zur spektralen Histopathologie an Gewebe und Zellen, bei denen jedes Spektrum integral den Zustand aller Proteine global reflektiert, repräsentiert im Differenzspektrum eines isolierten Proteins jede Bande eine spezifische Gruppe. Aber welche? Das haben wir durch Kombination mit modernen molekularbiologischen und gentechnologischen Methoden herausgefunden. Die Banden ordnen wir mit Hilfe von Isotopenmarkierung oder ortsspezifischer Mutagenese eindeutig den Proteingruppen zu: Bei der Isotopenmarkierung wird ein Element durch sein schwereres Isotop ersetzt. Chemisch wird nichts verändert, daher ist die Markierung nicht invasiv. Durch eine Isotopenmarkierung wird die Gruppe schwerer und schwingt langsamer. Dadurch wird nur die Bande der markierten Gruppe im Spektrum verschoben und damit identifiziert.

Bei der ortspezifischen Mutagenese wird eine Aminosäure durch eine andere ausgetauscht. Dadurch verschwinden die Banden der ausgetauschten Aminosäure aus dem Differenzspektrum und die der neuen tauchen auf. Dabei können allerdings auch die Eigenschaften des Proteins verändert werden, die Methode ist also invasiv. Hat man die Banden zugeordnet, kann man zeitaufgelöst deren Entstehen und Verschwinden verfolgen. Man sieht also im Detail die Reaktionsabfolge der einzelnen Schritte. Man schaut in das aktive Zentrum des Proteins und bekommt eine Filmvorführung seiner Arbeitsweise in Echtzeit (Abb. 8).

Allerdings erhält man zeitaufgelöste Spektren und nicht direkt die Bilder des Prozesses wie in einem Lichtmikroskop. Um die in den Spektren enthaltenen Informationen im Detail zu entschlüsseln, muss man modernste Computersimulationen auf Hochleistungsrechnern durchführen. Diese biomolekularen Simulationen haben wir am Lehrstuhl etabliert und konnten damit mittlerweile einen detaillierten Einblick in den Katalyseprozess gewinnen. Die beiden Proteine, das Ras und das GAP, zwingen das GTP in eine verdrillte Konformation, ähnlich wie man eine Feder in einem Spielzeugauto aufdreht. So wie die gespannte Feder das Spielzeugauto antreibt, wird durch die Verdrillung des GTP die dritte Phosphatgruppe abgestoßen (Abb. 9). Weiterhin wird das Wassermolekül, das die dritte Gruppe abspaltet, wie mit einem "Finger" durch die hereinlaufende Aminosäureseitenkette eines Arginins vom GAP exakt auf Angriffsposition gebracht. Diesen Ansatz haben wir zusammen mit Carsten Kötting auf andere kleine GTPasen übertragen. Wir konnten die Dynamik des katalytischen Zentrums kleiner GTPasen und ihrer jeweiligen GAPs bestimmen.

Für die biologische Funktion des Ras-Proteins ist seine Verankerung an einer Membran wichtig. Dadurch wird das Ras-Protein in der Zelle platziert. Es gibt unterschiedliche Ras-Varianten, die sich in der Art ihrer Membranverankerung unterscheiden. Bei Darmtumoren spielt das so genannte K-Ras eine zentrale Rolle. Um die Rolle der Membranverankerung zu untersuchen, haben wir in den letzten Jahren die Attenuated Total Reflectance (ATR)-Technik, eine Spielart der Infrarotspektroskopie, weiterentwickelt, die es erlaubt, Oberflächenphänomene zu untersuchen. Dabei wird auf der Oberfläche der ATR-Messzelle eine Membran - bestehend aus einer Lipid-Doppelschicht - aufgetragen und das Ras-Protein mit Hilfe des Lipid-Ankers gebunden (Abb. 10). Überraschend zeigt sich, dass das Ras-Protein dimerisiert, sich also als Doppelpack aneinander heftet. Dies eröffnet eine neue Möglichkeit, mit Hilfe von kleinen Molekülen diese Interaktion zu stören - ein völlig neuer Ansatz zur Tumortherapie.

Das Ras kann weiterhin auf der Oberfläche der ATR-Zelle an- und abgeschaltet werden. Damit hat man die Möglichkeit, sehr detailliert die Bindung von Medikamenten an die Proteine und den Einfluss auf die Funktion von Proteinen zu untersuchen. Die ATR-Technik wird jetzt in einem großen EU-Konsortium (Innovative Medicines Initiative, IMI) gemeinsam mit Pharmafirmen eingesetzt, um die Bindungsdynamik von Wirkstoffen an Proteinen detailliert zu untersuchen und damit die Wirkstoffsuche weiter zu optimieren.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass man skalenübergreifend die Rolle von Schlüsselproteinen mit Hilfe der Vibrationsspektroskopie vom isolierten Protein über membranabhängige Prozesse in vitro und in der lebenden Zelle und im Gewebe in vivo detailliert analysieren kann. Dies eröffnet neue Wege zur Diagnose und Therapie von Krebserkrankungen. Dieser Ansatz wird analog zum hier beschriebenen Beispiel des Darmtumors auch dazu eingesetzt, neurodegenerative Erkrankungen wie zum Beispiel Alzheimer zu untersuchen. Dazu werden neben Gewebe auch Körperflüssigkeiten untersucht.


Prof. Dr. Klaus Gerwert, Lehrstuhl für Biophysik, Fakultät für Biologie und Biotechnologie

Dank: Die beschriebenen Projekte fassen eine Vielzahl von herausragenden und sehr engagierten Doktor- und Postdoc-Arbeiten zusammen, die hier namentlich nicht einzeln aufgeführt werden können. Mein besonderer Dank gilt den technischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den Sekretärinnen, PD Carsten Kötting, PD Mathias Lübben, Professor Eckhard Hofman und Professor Axel Mosig, die mich hervorragend unterstützen.


Info 1

Vibrationsspektroskopie: Infrarot und Raman

Jedes Molekül kann schwingen. In der klassischen Vorstellung kann ein Molekül solche Schwingungen (Vibrationen) ausführen, weil die einzelnen Kerne eines Moleküls über elastische Federn miteinander verbunden sind; zum Beispiel können beim dreiatomigen Wassermolekül die beiden Wasserstoffkerne relativ zum Sauerstoffkern schwingen. Das Molekül kann sich dabei strecken oder verbiegen, man spricht von Streck- und Biegeschwingungen. Beides sind interne Schwingungen der Kerne relativ zueinander, so genannte Normalschwingungen.

Strahlt man Infrarot (IR)-Strahlung auf ein Wassermolekül, dann regt man es zu diesen Normalschwingungen an. Die entsprechenden Frequenzen dieser verschiedenen Schwingungen werden absorbiert und es ergibt sich etwa für ein Wassermolekül ein charakteristisches Spektrum bestehend aus den einzelnen Absorptionsbanden. Jede Bande im IR-Spektrum entspricht also der Schwingung einer molekularen Gruppe, zum Beispiel repräsentiert eine Bande bei 3500 cm-1 die O-H-Streckschwingung des flüssigen Wassers. Die Banden sind "Sonden", mit denen das Molekül "ausgehorcht" werden kann, ohne dass es markiert oder verändert werden muss, weil die Sonden die intrinsischen Schwingungen des Moleküls reflektieren. Die Infrarotspektroskopie ist eine Marker-freie, nichtinvasive Analyse-Technik.

Die spezifische Lage der Banden im Spektrum sagt zudem etwas über die Umgebung einzelner Wassermoleküle aus, zum Beispiel kann es mit anderen Wassermolekülen über eine Wasserstoffbrücke gebunden werden. Die Stärke dieser Bindung kann man anhand der Frequenz der Schwingung exakt bestimmen. Man hat mit Hilfe der Infrarotspektroskopie in der Vergangenheit sehr viel über die Struktur von Wasser und auch durch unsere eigenen Arbeiten viel über die Rolle von proteingebundenen Wassermolekülen gelernt.

Bei der Raman-Spektroskopie wird Laserlicht eingesetzt. Es regt das Molekül zu den gleichen Schwingungen an wie die Infrarot-Strahlung. Die gestreute abgegebene (emittierte) Laserstrahlung zeigt im Vergleich zur eingestrahlten Laserstrahlung eine Frequenzverschiebung, weil die Schwingungen Energie verbrauchen. Man findet die gleichen Banden im Ramanspektrum in der Emission wie im IR-Spektrum in der Absorption, allerdings mit unterschiedlichen Intensitäten. Zentrales Bauelement zur Aufnahme der Infrarot-Spektren ist ein FTIR (Fourier-Transform-Infrarot)-Spektrometer bzw. ein Ramanspektrometer. Man kann die kompletten Infrarot-Spektren mit spezifischen Techniken, zum Beispiel der so genannten Step-scan-Technik, in sehr kurzen Zeiten innerhalb von 30 Nanosekunden aufnehmen. Das IR- und Raman-Spektrometer kann man jeweils an ein Mikroskop anschließen. Damit erhält man ortsaufgelöst an den einzelnen Bildpunkten (Pixeln) die jeweiligen Spektren. Bei einer speziellen Form der Ramanmikroskopie, der CARS (Coherent Anti-Stokes Raman Scattering)-Mikroskopie kann man die Ramanbilder mit Videoraten zeitaufgelöst aufnehmen.

Biomolekulare Simulationen, so genannte QM-MM (Quantenmechanik-Molekularmechanik)-Rechnungen, erlauben inzwischen auch eine genaue Berechnung der Infrarotspektren von Proteinen und proteingebundenen Liganden im aktiven Zentrum. Mit diesem Ansatz erhalten wir weitere, detailliertere Informationen aus den IR-Spektren zur Struktur und Ladungsverteilung in aktiven Zentren von Proteinen, die weit über die Genauigkeit der Röntgenstrukturanalyse hinausgehen und Einblick in die Katalysemechanismen von Proteinen geben.


Info 2

PURE

Das Europäische Proteinforschungsinstitut PURE (Protein research Unit Ruhr within Europe, Sprecher: Klaus Gerwert) wurde 2010 mit Unterstützung des Ministeriums für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes NRW gegründet.

Ziel ist, neue Diagnostikverfahren und Technologien zu entwickeln, die auf Veränderungen der Proteine basieren. Neue, Marker-freie, ortsauflösende, nicht invasive spektroskopische Methoden, die erfolgreich in der Grundlagenforschung (etwa im Sonderforschungsbereich 642, Info 3) eingesetzt werden, sollen in die klinische Anwendung gebracht werden. Sie werden mit etablierten proteomanalytischen Plattformtechnologien für die Biomarkerforschung verknüpft. Die Ergebnisse werden plattformübergreifend bioinformatisch analysiert und gemeinsam mit den klinischen Forschern bewertet. Dies wird eine differenzierte, prädiktive und personalisierte Diagnose ermöglichen. Der Forschungsschwerpunkt liegt auf Krebs und neurodegenerativen Erkrankungen.

Für die einzelnen Säulen verantwortlich sind Prof. Dr. Thomas Brüning (Krebsprävention), Prof. Dr. Klaus Gerwert (Biophotonik), Prof. Dr. Helmut E. Meyer (Medizinisches Proteom-Center), Prof. Dr. Wolff Schmiegel und Prof. Dr. Andrea Tannapfel (Klinische Onkologie) sowie Prof. Dr. Jens Wiltfang (Neuropsychiatrische Erkrankungen).
www.pure.rub.de


Info 3

Sonderforschungsbereich 642

Der SFB 642 "GTP- und ATP-abhängige Membranprozesse" (Sprecher: Klaus Gerwert) widmet sich seit 2004 dem Ziel, die molekularen Grundlagen GTP- und ATP-abhängiger Membranprozesse im Detail zu verstehen. GTP-abhängige Membranprozesse spielen eine zentrale Rolle für die Steuerung vieler zellulärer Prozesse wie etwa der Zellteilung. ATP-abhängige Membranprozesse sind häufig die treibende Kraft für Transportvorgänge. Die Expertisen und methodischen Ansätze der Wissenschaftler umspannen die Strukturbiologie, die Biophysik, die chemische Biologie, die Zell- und die Systembiologie. Aktuell sind 17 Projekte aus den Bochumer Fakultäten für Biologie, Chemie und Medizin sowie der Technischen Universität und dem Max-Planck-Institute für molekulare Physiologie in Dortmund am SFB beteiligt. Kürzlich wurde er nach erfolgreicher Begutachtung durch die DFG bis Mitte 2016 verlängert. Weitere Informationen:
www.sfb642.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 1: Prof. Dr. Klaus Gerwert bei der Feinjustierung des Ramanlasers

Abb. 2 Links: Das Ras-Protein mit seinem Liganden GTP wird mit zwei Lipidankern an der Zellmembran gebunden. Rechts: Das Ras (roter Punkt an der Membran umgeben vom blauen GAP) im Signalweg der Zelle.

Abb. 3: Das spektral-histopathologische Bild einer Darmkrebs-Probe (A) und die gleiche H&E-gefärbte Probe (B), wie sie der Pathologe untersucht. In A wurden ca. zehn Millionen Spektren mit je 500 spektralen Elementen aufgenommen und den Bildpunkten jeweils eine codierende Farbe zugeordnet. Man erkennt in A links die intakten ovalen Krypten (pink) und rechts das Tumor- und entzündete Gewebe. Getrennt werden die Bereiche durch die dünne, weiß gefärbte Lamina muscularis mucosae. Insgesamt können neun Bereiche differenziert werden (rot: Tumor, grün: Submukosa, blau: Bindegewebe, cyan: Stützzellen, gelb: Mukosa, pink: Krypten, weiß: Muskel, orange: entzündetes Gewebe, olivgrün: Blut). Den in B markierten Bereich zeigt Abb. 4.

Abb. 4: In Rot ist der von der spektralen Histopathologie identifizierte Tumor gezeigt, in grün das vom p53-Antikörper und in Blau das vom Ki 67-Antikörper gefärbte Gewebe. Die spektrale Histopathologie hat nicht nur im Tumorgewebe (rechts), sondern auch im noch intakten Gewebe (links) eine frühe Form des Tumors identifiziert, die gut mit den Tumormarkern übereinstimmt. Der markierte Bereich wird vergrößert in Abb. 5 gezeigt.

Abb. 5: Spektrale Histopathologie mit Raman-Imaging. In A ist der H&E-gefärbete Bereich gezeigt, der in Abb. 4 markiert ist. Dieser ist in B noch einmal vergrößert, damit er mit den Bildern in C-E übereinstimmt. In C wird das Kryptengewebe als verändert angezeigt (lila). Das Raman-Signal zeigt die Zellkerne in Rot (C und D), die zur Bestätigung durch die p53-Antikörper in Grün eingefärbt sind (E).

Abb. 6: Raman-Bild einer Zelle. Analog der spektralen Histopathologie von Gewebe werden mit dem Raman-Mikroskop die Spektren ortsaufgelöst konfokal (in verschiedenen Schichttiefen) gemessen (links). Dann werden die Schichten zu einem dreidimensionalen Bild der Zelle zusammengesetzt (rechts). Verschiedene Farben reflektieren verschiedene subzelluläre Komponenten, zum Beispiel den Zellkern in Grün.

Abb. 7: Ras-Signalweg: Wachstumsfaktoren (EGF) schalten das Ras an, und das Wachstumssignal wird zum Zellkern weitergeleitet. Angeschaltet wird das Ras über GEF-Proteine, die GDP gegen GTP austauschen. Dadurch ändert sich die Oberfläche des Ras und kann so genannte Effektor- Proteine binden, die das Signal zum Zellkern leiten. Abgeschaltet wird das Ras über die Hydrolyse des GTP zu GDP und freiem Phosphat. Diese wird durch GAP-Proteine katalysiert. Ist das Ras oder das GAP onkogen verändert, wird die Katalyse stark verlangsamt, das Ras schaltet nicht mehr ab, sondern gibt unkontrolliert Wachstumssignale in die Zelle. Mit der Zeit trägt das zur Entstehung eines Tumors bei.

Abb. 8: Infrarotabsorptionsänderungen (links) des isolierten Ras-Proteins (rechts oben) und des Ras-GAP-Komplex (rechts unten) während der GTP-Hydrolyse. Die Banden reflektieren die Veränderungen der einzelnen Phosphatgruppen des GTP und die Veränderungen im Protein. Man erkennt das Verschwinden der dritten Phosphatgruppe, des γ-Phosphates, das die Hydrolyse anzeigt. Bei der GAP- katalysierten Reaktion erkennt man die Beschleunigung. Am γ-Phosphat erkennt man auch die Entstehung eines Zwischenprodukts. Das freigesetzte Phosphat bleibt im Komplex erst gebunden, bevor es im geschwindigkeitsbestimmenden Schritt abgegeben wird. Die Änderungen im oberen Bereich des Spektrums reflektieren Änderungen von Proteinseitengruppen, wie etwa das Hereinlaufen des Arginin-Finger (rote Gruppe in Ras-GAP) in die Bindetasche.

Abb. 9: Durch Kombination der zeitaufgelösten FTIR-Spektroskopie mit Röntgenstrukturanalyse und biomolekularen Simulationen konnten wir zeigen, dass das GTP durch das Ras und das GAP so gedreht wird, dass es die dritte Phosphatgruppe leicht abspalten kann. Ähnlich wie bei einem Spielzeugauto wird die Feder (GTP) mit einem Schlüssel (Ras und GAP) gespannt. Die gespannte Feder treibt das Auto, das gespannte GTP die Ablösung der dritten Phosphatgruppe voran.

Abb. 10: Das Ras-Dimer, zwei aneinander gebundene Ras-Proteine (grün und blau), bindet mit Proteinankern an der Lipiddoppelschicht. An den Ras-Proteinen sind zwei leuchtende Markierungen angebracht. Durch Messung des Fluoreszenzsignals (FRET) konnte der Abstand exakt bestimmt werden. Die Membran ist auf einem ATR-Kristall aufgetragen (nicht maßstabsgetreu). Ein Infrarotstrahl wird durch den Kristall geführt und nimmt somit ebenfalls Spektren der Ras-Proteine auf. Damit können die Reaktion der Ras-Proteine und die Orientierung in der natürlichen Membranumgebung gemessen werden.


Den Artikel mit Bildern finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
http://www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/rubin-fruehjahr-13/beitraege/beitrag3.pdf

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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2013, S. 22-29
Herausgeber: Rektorat der Ruhr-Universität Bochum
in Verbindung mit der Stabsstelle Strategische PR
und Markenbildung der Ruhr-Universität Bochum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2013