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ARBEITSMEDIZIN/306: Forschung - Macht stumpfe Arbeit denn wirklich dumm? (mundo - TU Dortmund)


mundo - Das Magazin der Technischen Universität Dortmund Nr. 12/10

Macht stumpfe Arbeit denn wirklich dumm?
Forscher schauen Fließbandarbeitern in die Köpfe

Von Katrin Pinetzki


Was passiert, wenn Menschen am Fließband jeden Tag die gleichen Handgriffe verrichten müssen? Was richtet das mit ihren Gehirnen an - macht stumpfe Arbeit tatsächlich stumpf? Fragen, die Prof. Michael Falkenstein umtreiben. Er leitet die Projektgruppe Altern und ZNS-Veränderungen am Institut für Arbeitsphysiologie (IfADo) an der Technischen Universität Dortmund, und er hat Fließbandarbeitern in die Köpfe geschaut. Offenbar als erster Wissenschaftler. »Kaum zu glauben, aber unsere Untersuchung war deutschlandweit einmalig«, sagt Falkenstein, »dass man bei Industrie- Arbeitern Hirnstrommessungen macht, ist ein Novum«.

Günter Wallraff hat es erlebt. »Das Zermürbende am Band ist das ewig Eintönige, das Nichthaltmachenkönnen, das Ausgeliefertsein«, beschreibt der Autor, der sich für eine seiner Industriereportagen in die Rolle des Arbeiters begab. »Die Zeit vergeht quälend langsam, weil sie nicht ausgefüllt ist. Sie erscheint leer, weil nichts geschieht, was mit dem wirklichen Leben zu tun hat.« Das war in den 1970er Jahren. Einige Umstände haben den Arbeitern ihren Alltag inzwischen erleichtert. Doch Fließband bleibt Fließband - die eintönige Wiederkehr des ewig Gleichen.


Fließband bleibt Fließband - die Wiederkehr des ewig Gleichen

Offenbar war es lange Zeit für Wissenschaft und Forschung, aber auch für die Arbeitgeber nicht interessant, die Auswirkungen von Arbeit 'an der Linie', wie Fließbandarbeit offiziell heißt, zu untersuchen. Das hat sich inzwischen geändert. »Fließbandarbeiter sind im Alter häufiger und länger krank«, beschreibt Falkenstein. Meist sind körperliche Schäden die Ursache, die durch Über-Kopf-Arbeit oder ähnliche Zumutungen entstehen. Darauf haben die Arbeitgeber bereits reagiert, indem sie die Arbeitsumgebung angenehmer und bequemer gestaltet haben. Doch auch der Anteil Kranker mit psychischen Störungen wächst. »Stress und psychische Belastung durch Zeitdruck können schlimme Auswirkungen haben, aber die sind schwerer zu diagnostizieren als ein kaputter Rücken. Die Menschen bauen still und langsam ab«, sagt Michael Falkenstein. Was tun? Einfache Antworten gibt es darauf nicht. Noch nicht.

Letztlich war es das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das Falkensteins Forschung am Fließband anschob. Im Rahmen der bundesweiten Initiative Neue Qualität der Arbeit fördert das Ministerium das Projekt PFIFF (Programm zur Förderung und zum Erhalt intellektueller Fähigkeiten für ältere Arbeitnehmer). Das IfADo arbeitet daran zusammen mit der Ruhr-Universität Bochum, der Gesellschaft für Gehirntraining und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.

Hintergrund ist der demografische Wandel - weil der Nachwuchs ausbleibt, wird es in Zukunft notwendig sein, ältere Beschäftigte so lange wie möglich im Arbeitsleben zu halten. Das klappt aber nur, wenn die Alten auch fit sind - körperlich und geistig. PFIFF untersucht, welche Stärken und Schwächen ältere Arbeitnehmer haben und ob es dabei Unterschiede zwischen Fließbandarbeitern und ihren Kollegen gibt. Am Ende des Langzeit-Projekts stehen Programme, mit deren Hilfe Arbeitnehmer gegen nachlassende Fähigkeiten antrainieren können. Erste Ergebnisse der Studie besagen zum Beispiel, dass Gedächtnis und Kontrollfunktion im Alter generell schwächer werden. So fällt es Älteren schwerer als Jüngeren, mehrere Aufgaben gleichzeitig im Gedächtnis zu halten und eigene Fehler zu erkennen. Die Untersuchungen haben jedoch auch gezeigt, dass die Ergebnisse innerhalb einer Altersgruppe stark variieren. Das heißt: Der Abbau kommt im Alter nicht automatisch, sondern ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Und das heißt: Man kann ihn offenbar aufhalten bzw. verzögern. Grund genug, weiterzuforschen.

Um später die richtigen Mittel gegen das 'Altern im Kopf' zu finden, mussten Falkenstein und sein Team zuerst herausfinden, was sich denn nun genau verändert. Welche geistigen Funktionen sind beeinträchtigt und welche Folge hat das für die Arbeit? Oder hat Fließbandarbeit vielleicht gar keine Effekte auf die Leistungsfähigkeit des Gehirns? »Nur durch Beobachtung kann man Hirnveränderungen nicht unbedingt erkennen«, erklärt Falkenstein. »Hirnstrommessungen erlauben es, den Menschen bei der Bearbeitung von komplizierten Testaufgaben ins Gehirn zu schauen. Sehr einfach und wirkungsvoll.«


91 Opel-Arbeiter ließen sich am Bildschirm testen

Genau das hat er gemacht. Insgesamt 91 Arbeiter der Adam Opel GmbH in Bochum kamen in einen im Werk eingerichteten Untersuchungsraum, um Tests am Bildschirm zu meistern und dabei eine vielfach verkabelte Haube aufzusetzen, die es Falkenstein und seinem Team erlaubt, ihr Elektroenzephalogramm (EEG) und damit ihre Hirnaktivität zu verfolgen. Die Gruppe bestand aus je 23 jüngeren und 23 älteren Fließbandarbeitern sowie 23 jüngeren und 22 älteren Arbeitern, die einen Arbeitsplatz jenseits des Fließbandes haben. »Jung«, das waren Arbeiter zwischen 18 und 23, »älter« sind jene zwischen 48 und 58 Jahren. Zu absolvieren waren recht schwierige psychometrische Tests, bei denen die Probanden unter anderem möglichst schnell zwischen Aufgaben wechseln mussten - etwa mit Maus-Klicks auf Ziffern reagieren, die am Bildschirm erscheinen, je nachdem ob sie gerade oder ungerade, kleiner oder größer als fünf sind. Der Wechsel war zum Teil durch Hinweisreize angekündigt, zum Teil erfolgte er nach einem bestimmten Muster, das im Gedächtnis gehalten werden musste.

Die Ergebnisse seiner Auswertungen nennt Falkenstein »ernüchternd, aber nicht anders erwartet«: Ältere Arbeitnehmer, die seit vielen Jahren stumpfe, eintönige Arbeit am Band verrichten, sind im Kopf deutlich schneller gealtert als ihre Kollegen mit gleicher Ausbildung, aber anregenderen Tätigkeiten. Gerade bei der gedächtnisbasierten Aufgaben-Wechsel-Übung waren ältere Fließbandarbeiter beeinträchtigt, während ältere Nicht-Fließbandarbeiter hierbei keinerlei Probleme hatten. »Die Aufgabe ist zwar sehr schwierig, andererseits ist es genau das, was man im Alltag braucht: mehrere Aufgaben im Kopf haben, zwischen ihnen aus dem Gedächtnis wechseln und Entscheidungen treffen«, sagt Falkenstein. Anhand der EEG erkannte Falkenstein eindeutig: Die Hirnstromkurven älterer Nicht-Fließband-Arbeiter, deren Arbeitsleben recht abwechslungsreich ist, ähneln denen der jungen Arbeiter viel mehr als denen ihrer gleichaltrigen Kollegen am Fließband.


Tests prüfen nur die höheren Hirnfunktionen

Die Ergebnisse bedeuten nicht, dass die Fließbandarbeiter mit den schlechteren Hirnfunktionen auch schlechte Arbeit machen. »Ihre Arbeit hat im Grunde gar nichts mit den Tests zu tun«, sagt Falkenstein: »Die Tests prüfen nur die höheren Hirnfunktionen, die sie für ihre Arbeit im Grunde gar nicht brauchen.« Salopp gesagt, schalten Fließbandarbeiter ihr Gehirn aus. Die Hände funktionieren fast automatisch, der Kopf ist ganz woanders.

Es war durch die bisherige Forschung durchaus bekannt, dass Menschen umso klüger sind, je anregender ihre Arbeit ist. Aber tatsächlich wurde noch nie nachgewiesen, dass dies von der Art der Arbeit kommt, die sie verrichten, und nicht etwa von besseren Startbedingungen wie der (Aus-)Bildung. Fließband- und Nicht-Fließbandarbeiter, denen Falkenstein ins Hirn geschaut hat, haben nämlich exakt die gleiche Ausbildung absolviert. Die Schwachstelle im Hirn der älteren Fließbandarbeiter ist das Arbeitsgedächtnis. »Eine zentrale Gedächtnisfunktion, die wir täglich brauchen und die immer wieder aufgefrischt werden muss, quasi das RAM des Menschen«, erklärt Falkenstein. Genau hier dockt der dritte Teil des PFIFF-Projekts an.

Im ersten PFIFF-Teil, einer Literaturstudie, wurde anhand vorliegender Forschungsergebnisse zusammengestellt, was Menschen fit hält: gesunde Ernährung, viel Bewegung, geistige Anregung und erfolgreiche Stressbewältigung. Im zweiten Teil wurden die Schwachstellen in älteren Hirnen aufgespürt. Der dritte Teil setzt die Ergebnisse um in ein Trainingsprogramm. Denn das langfristige Ziel hinter der Forschung lautet, die Hirntätigkeit der Arbeiter wieder zu verbessern, auch wenn die stumpfsinnige Arbeit bleibt. Für Fließbandarbeiter ist mentales Training eine Art Ausgleichssport, der einen erlahmten Muskel wieder aktiviert. Das ist wichtig, auch wenn sie diesen Muskel im Arbeitsalltag nicht direkt brauchen. Schließlich sind geistig unflexible Arbeiter auch nur begrenzt ein- und umsetzbar. Das kann ein Nachteil sein, wenn zum Beispiel Personal entlassen wird und Aufgabenbereiche neu zugeschnitten werden. Ältere Beschäftigte, die geistig gut und breit trainiert sind, haben es dann viel leichter.

Das Trainingsprogramm besteht zunächst aus Stressbewältigung, denn auch Stress beeinträchtigt die mentalen Funktionen. Umso besser also, wenn man mit ihm umzugehen weiß. Der andere Teil des Programms: Gehirnjogging mit Papier und Bleistift und am Computer. In einem Schulungsraum im Opel-Werk hat das IfADo 25 Computer aufgebaut und mit geeigneten Trainingsprogrammen bestückt. Dort sitzen nun insgesamt knapp 130 Probanden und arbeiten an ihren kognitiven Fähigkeiten - zwei Mal in der Woche für eineinhalb Stunden; freiwillig, aber gegen eine Aufwandsentschädigung. »Vor Beginn des Trainings haben wir die Hirnströme gemessen, und nach Abschluss werden wir es auch tun, um zu schauen, ob sich durch das Gehirnjogging etwas verändert hat im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die das Training noch nicht gemacht hat«, erläutert Michael Falkenstein.


Es werden vor allem Hirnfunktionen trainiert, die im Alter nachlassen

Es werden vor allem diejenigen Hirnfunktionen trainiert, die im Alter meist nachlassen, zum Beispiel räumliche Aufmerksamkeit, Suche und Arbeitsgedächtnis. Es gibt die 'Stecknadelsuche im Heuhaufen' ebenso wie den 'Bildervergleich': Es sind zum Teil Aufgaben, die man aus dem Apothekenblatt kennt, aber sie sind am PC adaptiv: Sie werden mit zunehmender Übung und Trainingserfolg schwieriger, und der Computer gibt ständige Rückmeldung über die aktuelle Leistung. Die geeignetesten dieser Aufgaben wurden zu einem Programm zusammengestellt, das speziell auf ältere Beschäftigte zugeschnitten ist. Dass Gehirntraining eine ganze Menge bewirken wird, da ist sich der Mediziner sicher. »Wir haben eine ähnlich angelegte Studie schon einmal mit Senioren gemacht und gesehen, dass das kognitive Training selbst bei geistig fitten Senioren noch eine ganze Menge bringt.« Noch ein positiver Nebeneffekt: Ganz beiläufig lernen auch Arbeiter, die zuvor nie am Computer saßen, mit der Maus umzugehen.

Bis 2011 läuft das Projekt PFIFF noch, dann geht es in die Umsetzung: Das Programm soll auch in anderen Betrieben angeboten werden, wo Arbeiter monotone, repetitive Arbeit verrichten. Da nachweislich auch Sport und Bewegung die geistige Fitness verbessern, soll in Zukunft das geistige mit körperlichem Training und Stressbewältigung zu einem festen Programm verbunden werden, quasi als »Kombi-Präparat« gegen frühzeitiges Altern.

Wenn es nach Michael Falkenstein ginge, würde er mit den Ergebnissen seiner Studie nicht nur vernachlässigte Hirnfunktionen in Bewegung setzen, sondern mit Hilfe der Wissenschaft erreichen, was Günter Wallraff mit seinen Industriereportagen nicht gelungen ist: die Arbeitswelt zu ändern. Denn noch besser als Prävention ist es, die Arbeitnehmer gar nicht erst immer gleicher Arbeit auszusetzen. »Schlechte Arbeit macht alt und dumm. Das ist der Motor, der mich antreibt, da setze ich meine ganze Energie hinein«, sagt Falkenstein. Wenn in Zukunft in produzierenden Betrieben PCs und Fitnessgeräte stehen, an denen die Arbeiter trainieren können, dann hat er schon sehr viel bewegt.


Zur Person
Von Forschung wie am Fließband kann bei Prof. Dr. Michael Falkenstein keine Rede sein. Trotzdem betreibt auch er Gehirnjogging - zur Ablenkung, nicht zum Ausgleich für stumpfe Arbeit. Am liebsten löst er Sudokus und treibt dazu täglich Sport. Geistige Flexibilität hat er in seinem bisherigen Forscherleben bereits ausreichend bewiesen: Falkenstein studierte Elektrotechnik an der Ruhr-Uni Bochum und parallel Medizin in Bochum und Essen. Nach seinem Diplom in Elektrotechnik und einer Summa-cum-Laude-Promotion als Mediziner absolvierte er ein Psychologie-Studium und habilitierte sich schließlich in diesem Fach in Bochum. Seit 1986 arbeitet er am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung und ist seit 2007 außerplanmäßiger Professor. Falkenstein ist Chefredakteur des Journal of Psychophysiology und Gutachter für internationale Fachzeitschriften. Vom 14. bis 16. Oktober 2010 fi ndet in den Westfalenhallen Dortmund die von Michael Falkenstein organisierte internationale Tagung Aging & Cognition statt, die Altersforscher aus aller Welt zusammenbringt. Die Schwerpunkte des Kongresses lauten Altern und Kognition, Altern und Gehirn sowie Interventionen zur Beeinflussung kognitiver Veränderungen im Alter.
Kontakt: E-Mail: falkenstein@ifado. de


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Quelle:
mundo - das Magazin der Technischen Universität Dortmund, Nr. 12/10, S. 14-21
Herausgeber: Referat für Öffentlichkeitsarbeit
Universität Dortmund, 44221 Dortmund
Redaktion: Angelika Willers (Chefredakteurin)
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E-Mail: redaktion.mundo@tu-dortmund.de

mundo erscheint zwei Mal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2010