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UMWELT/242: Klinische Umweltmedizin - Versorgungssituation und -bedarf (umg)


umwelt · medizin · gesellschaft - 2/2014
Humanökologie - soziale Verantwortung - globales Überleben

Klinische Umweltmedizin

von Peter Ohnsorge, Kurt E. Müller, Frank Bartram und Hans-Peter Donate


Die Klinische Umweltmedizin hat sich als ein interdisziplinärer Fachbereich etabliert. Durch komplexe Wahrnehmung umweltassoziierter Erkrankungen und deren differenzierte Diagnostik und Therapie unterscheidet sie sich klar vom Bereich Umwelt & Gesundheit (Public Health). Die frühzeitige Identifikation von durch die Umwelt ausgelösten Erkrankungsprozessen prädestiniert die Klinische Umweltmedizin, rechtzeitige primäre Prävention zu starten. Mit jahrelanger klinischer Erfahrung in der erfolgreichen Betreuung Umwelterkrankter, eigener wissenschaftlicher Arbeiten sowie einem umfangreichen Pool spezifischer Patientendaten stellt sich die Klinische Umweltmedizin als effizienter Partner für universitäre Lehre und Forschung dar.


Standortbestimmung

Die Klinische Umweltmedizin hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten als eines der umfassendsten, interdisziplinären Fachbereiche etabliert. Das komplexe Krankheitsverständnis der Klinischen Umweltmedizin findet sich in diesem Umfang kaum in einer anderen medizinischen Disziplin. Das erscheint umso bedeutsamer, als das Verständnis und die Entwicklung in der Wissenschaft des letzten Jahrhunderts zunehmend vom linearkausalen Ursachen-Prinzip geprägt war. Dies engte den wissenschaftlichen Horizont erheblich ein und behinderte in der Folge viele Parameter ärztlich wissenschaftlicher Empirie. Das wiederum erschwert die Etablierung neuer medizinischer Fachrichtungen bis heute, u.a. auch der Klinischen Umweltmedizin.

Nach jahrelanger Möglichkeit der zertifizierten strukturierten curricularen Weiterbildung im Bereich "Umweltmedizin", hat der 106. Deutsche Ärztetag 2003 beschlossen, fortan stattdessen eine strukturierte curriculare Fortbildung "bezüglich klinisch-umweltmedizinischer Belange" zu initiieren, "wobei besonders die in der Patientenversorgung tätigen Ärzte und Ärztinnen angesprochen sind" (1). Der Auftrag, der daraus hervorgeht, ist in der deutschen Ärzteschaft und an den Lehranstalten der Medizinischen Fakultäten bisher nur unzureichend und eher halbherzig aufgenommen worden. Die im Deutschen Berufsverband der Umweltmediziner (dbu) und in der European Academy for Environmental Medicine (EUROPAEM) organisierten niedergelassenen Ärzte haben die Weiterbildung seit 1994 und später die Fortbildung Klinische Umweltmedizin seit 2003 kontinuierlich angeboten und durchgeführt. Somit findet die heute vorgehaltene Klinische Umweltmedizin, bis auf wenige Teilversorgungen in einigen Krankenhäusern, fast ausschließlich in den Praxen und Schwerpunktpraxen niedergelassener klinischer Umweltmediziner statt.

Die unter dem Terminus "Umweltmedizin" bisher tätigen Bereiche wurden ebenfalls definiert: "Üblicherweise wird zwischen einer mehr bevölkerungs- und präventivmedizinischen Komponente der Umweltmedizin und einer patientenbezogenen, individualmedizinischen Ausrichtung unterschieden; letztere wird meist als Klinische Umweltmedizin bezeichnet. Sie umfasst die medizinische Betreuung von Einzelpersonen mit gesundheitlichen Beschwerden oder auffälligen Untersuchungsbefunden, die von ihnen selbst oder ärztlicherseits mit Umweltfaktoren in Verbindung gebracht werden" (1).

Der dbu und EUROPAEM definieren Klinische Umweltmedizin jedoch noch weitreichender: " ... Dabei sind besonders die individuelle Vulnerabilität und Suszeptibilität sowie die Komplexität von Umwelt assoziierter Erkrankungen zu beachten" (2).

Die mehr bevölkerungs- und präventivmedizinischen Komponenten der Umweltmedizin werden von dem Bereich Umwelt & Gesundheit repräsentiert, der im Wesentlichen auf die Arbeitsbereiche der Toxikologie, Hygiene, Arbeitsmedizin und Public Health zurückgreift. Davon differenziert sich die Klinische Umweltmedizin in Wahrnehmung und Bewertung der umweltassoziierten Erkrankungen sowie den daraus folgenden ärztlichen Handlungsgrundlagen erheblich. Beide Arbeitsbereiche, Umwelt & Gesundheit und Klinische Umweltmedizin, haben unterschiedliche Aufgaben, die nur wenig kongruent sind. Das resultiert aus der differenten Wahrnehmung und Herangehensweisen an die Erkrankungen. In sich geschlossene Wissenschaftsstrukturen lassen nur ungern neue Wissenschaftstheorien zu.[1] In einem offenen System agierend, musste die Klinische Umweltmedizin zur Beurteilung der entsprechenden Erkrankungsmuster den Rahmen der linearen Kausalität verlassen und lernen mit komplexen Systemen umzugehen.

Anders als der Fachbereich Umwelt & Gesundheit, der vor allem lntoxikationen und akute Erkrankungsprozesse beachtet, ist die Klinische Umweltmedizin in einer breiteren Öffnung an den komplexen, meist langzeitigen, multifaktoriellen Belastungen im Niedrigdosisbereich orientiert. Als "Belastungen" werden im Wesentlichen vier Stressoren-Bereiche (biologische, chemische, physikalische, psycho-soziale) erkannt, die gleichwertig allein, meist aber in unterschiedlicher Intensität, gleichzeitig und synergistisch auf den Umwelt-Erkrankten einwirken (3; siehe Abb. 1). Diese Stressoren sind alle auch den Bereichen von Umwelt & Gesundheit bekannt, bewegen sich aber mit beschränkter Wahrnehmung vornehmlich in den ihrem pathophysiologischen Verständnis immanenten, eingeengten wissenschaftlichen Strukturen.


Abb. 1: Vier Stressoren-Bereiche (biologische, physikalische, chemisch-toxische, psycho-soziale) in der Klinischen Umweltmedizin


Die Klinische Umweltmedizin legt nicht die starren Werteabgrenzungen zu Grunde (in sich geschlossenes Wertesystem), die bei der Beurteilung z.B. von Kontakten chemischer Noxen im Wesentlichen der Toxikologie oder Arbeitsmedizin entstammen und dem linear-kausalen Ursache-Wirkungsprinzip und vor allem dem Dosis-Wirkungsprinzip folgen. Wissenschaftliche Literatur weist oft schon weit unterhalb einer 95. Perzentile oder eines HBM-Wertes gravierende gesundheitliche Beeinträchtigungen nach (4). Klinische Umweltmediziner bemerken meist eine jahrelange, sich aufschaukelnde Symptomatik, die auf der Basis von Depotwirkungen, multipler, kumulierender Noxen im langzeitigem Niedrigdosisbereich entsteht. Immer ist die individuelle Vulnerabilität und Suszeptibilität in die Beurteilung mit einbezogen (offenes Wertesystem),

Über 30 % der Bevölkerung leiden unter umweltassoziierten Erkrankungen (5-7).

Die multifaktoriellen, multifunktionalen, multidimensionalen Belastungen führen häufig zu Multisystemerkrankungen wie Chemische Überempfindlichkeit, Erschöpfungs- und Müdigkeitssyndrome, chronische Schmerzsyndrome. Je nach Literaturauswertung leiden 4-9 % der Bevölkerung unter diesen schwerwiegenden, umweltassoziierten Erkrankungen (6). Das entspricht der Prävalenz von Diabetes in der Bevölkerung. Diabetes-Erkrankte sind sich aber im Gegensatz zu Umwelterkrankten einer breiten therapeutischen Unterstützung durch die Sozialversicherungen gewiss (Schulung, Medikation, ambulante und stationäre Behandlung, Reha-Maßnahmen).


Wahrnehmung, Diagnostik, Therapie

Die chronischen Expositionen gegenüber einzelnen oder auch mehrfachen Noxen im toxikologisch nicht oder nur gering beachteten Niedrigdosisbereich sind als häufigste Ursache chronischer umweltassoziierter Erkrankungen anzusehen. Das Gleiche geschieht ebenso in den anderen (biologischen, physikalischen, psycho-sozialen) Stressoren-Bereichen, die dann synergistisch und additiv, manchmal potenzierend einwirken.

Schon der Arbeitsmediziner Cullen hat Ende der 1980er-Jahre das Krankheitsbild der chemischen Überempfindlichkeit (MCS) subtil beschrieben. Nur eines seiner aufgeführten, ansonsten immer noch zutreffenden Kriterien, ist heute nicht mehr so nachzuvollziehen: "No single widely acceptable test of organ system function can explain the symptoms" (8).

Nach mehr als 25 Jahren Klinischer Umweltmedizin ist es nicht nur gelungen, die Symptomatik unter Anwendung moderner wissenschaftlicher Diagnostik zu erklären, sondern auch komplexe Erklärungen für Multisystemerkrankungen aufzuführen (9, 10).

In der Klinischen Umweltmedizin beginnt die Diagnostik mit der Wahrnehmung eines multifaktoriellen, multifunktionalen, multidimensionalen, in der Regel chronischen Krankheitsbildes.Wie überall in der Medizin folgt dann eine sehr umfangreiche Anamnese, die umfassend die Stressoren sämtlicher Lebensbereiche beleuchten muss. Dabei steht meist nicht nur die Verfolgung einzelner oder multifaktorieller Noxen im Vordergrund. Beachtet wird ebenso die Tatsache, dass vor allem die individuelle Reagibilität in der Langzeitbelastung in die chronischen Erkrankungen führt. Die Interaktionen immunologischer Effekte mit den daraus resultierenden inflammatorischen Prozessen sind ebenso zu verfolgen wie die Verfügbarkeit von Neurotransmittern, Hormonen und Enzymen, Neuropeptiden sowie deren Interaktion bzw. ihrer Wirkung an den jeweiligen Rezeptoren. Letztlich sollten mögliche Depletionen von Mikronährstoffen überprüft werden, um Stoffwechselwege optimiert ablaufen lassen zu können.

Dabei ist besonderes Augenmerk auf die individuelle Suszeptibilität und Vulnerabilität zu richten. Die Untersuchungen von Polymorphismen der Detoxifikationsphasen lassen Aussagen über individuelle Störungen spezifischer Fremdstoffmetabolismen erkennen. Neben der für sie unzulässigen Aussage einer starren Dosis-Wirkungsbeziehung erkennt die Klinische Umweltmedizin, dass bei umweltassoziierten Erkrankungen eine Spezifität der Noxen fehlt. Chemisch völlig unterschiedliche Substanzen können zu gleichen Effekten führen. Das grenzt eindeutig gegenüber allergischen Erkrankungen ab. Auch biologische, physikalische und/oder psycho-soziale Stressoren sind in der Lage synergistisch zu wirken und gleiche Effekte zu generieren. Kumulative Depotbestände der unterschiedlichen Noxen finden besondere Beachtung (siehe Abb. 2). Es werden deren Mobilisations- und Eleminationsmöglichkeit überprüft. Beispielhaft seien hier Belastungen durch Schwermetalle oder auch lipophile Toxine genannt.


Abb. 2: Umweltmedizinische Diagnostik vom 1.Patienten-Arzt-Kontakt bis zur Abschlussdiagnose

Die Therapiekonzepte der Klinischen Umweltmedizin sind, da sehr komplex, kaum in starren Schemata zu strukturieren. Lediglich in einem groben Rahmen lässt sich das individuelle, konsekutive, therapeutische Vorgehen beschreiben. Am Anfang steht die Wahrnehmung der Erkrankungen nach den Erkenntnissen und Wertmaßstäben der Klinischen Umweltmedizin, ohne die eine weitere Exploration und nachfolgende Therapie nicht effektiv sein kann. Die symptomatische Therapie der geklagten Beschwerden nach den gegebenen Möglichkeiten gebietet das ärztliche Verständnis. Elimination, wenn möglich, zumindest aber weitgehende Minimierungen aller erkannten und definierten Noxen-Kontakte müssen folgen. Nach Supplementierung mit Mikronährstoffen und Optimierung der Stoffwechsellage sollte eine Ausleitung bzw. Detoxifikation unter den Kautelen der Klinischen Umweltmedizin erfolgen. Hat der Aufbau einer komplexen umweltassoziierten Erkrankung bis zum Ausbruch gravierender Symptome meist Jahre gedauert, kann dann auch die Therapie u. U. Monate bis Jahre in Anspruch nehmen. Je nachdem welchen Umfang die Umweltbelastung hatte, wie z. B. die individuellen Ressourcen aufgestellt sind und wie die Zustände der jeweiligen Stoffwechselwege (Polymorphismen, Mikronährstoffdepletion) sowie individuelle immunologische Reaktionen es zulassen, wird jeweils entschieden, welche therapeutischen Wege in hierarchischer Reihenfolge einzuschlagen sind.


Frühzeitige primäre Prävention

Ursächlich werden die Entstehung oder Verschlechterung der großen Volkserkrankungen zum großen Teil längst den beeinflussenden Umweltbelastungen zugeordnet. Volkskrankheiten, wie Kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes II, Maligne Tumore, insbesondere auch die Erkrankungen des Neuro-Endokrinen-Immunsystems (NEIS) sind in das Blickfeld der EU Kommission, der WHO und der europäischen Gesundheitssysteme gelangt. In einer demographischen Entwicklung der immer älter werdenden Bevölkerung geschieht dieses zum Preis ansteigender chronischer Morbidität. Da wir diese chronischen Erkrankungen weder diagnostisch noch therapeutisch im Griff haben, sind auf lange Sicht die Kosten dafür in den europäischen Gesundheitswesen nicht mehr aufzubringen. Primäre Prävention ist unabdingbar, wie auf dem"EU Summit on Chronic Diseases, Brüssel April 2014" gefordert wurde:

"Today, chronic diseases represent the major share of the burden of disease in Europe and are responsible for 86% of all deaths. They affect more than 80% of people aged over 65 and represent a major challenge for health and social systems. 70 to 80% of health care budgets, an estimated € 700 billion per year are spent on chronic diseases in the European Union."

"We need a coalition across society towards more effective and smarter approaches to the prevention of chronic diseases, the preservation of the best possible health status, and the sustainability of modern health Systems, to maximise the healthy life years enjoyed by EU citizens and to trigger economic and social development" (11).

Nun ist diese primäre Prävention sicher nicht mit den Mitteln zu bewerkstelligen, die bisher dazu benutzt wurden. Solange wir auf die wissenschaftlichen, evidenzbasierten Beweise reflektieren, können wir den umweltassoziierten Erkrankungen erst diagnostisch und therapeutisch nach Jahren begegnen, wenn nicht erst nach Jahrzehnten. Beispiele dafür waren in der Vergangenheit Umweltbelastungen mit Asbest, DDT/DDE, Holzschutzmittel (PCP, Lindan), PCB, Blei, Tabak u.v.a.m. Immer verspätet, nach jahrelangem Leid der Betroffenen und extremen Kosten in den Gesundheits- und Sozialsystemen sowie der Volkswirtschaft, führten die vielen, die gesundheitliche Umweltbelastung bestätigenden, wissenschaftlichen Studien zum Bann der Substanzen aus dem täglichen Gebrauch und den Kontaktbereichen. Mit dieser End-of-the-Pipe Strategie lässt sich auch in Zukunft keine notwendige primäre Prävention aufbauen. Die Klinische Umweltmedizin hat sich schon sehr frühzeitig, quasi als Whistleblower, gegen die diesbezüglich beschwichtigenden Aussagen und Beurteilungen der Hochschulwissenschaft gewehrt und die Kontakte mit diesen Stoffgruppen als gesundheitsschädlich beschrieben. Mit den jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln wurden den Betroffenen diagnostische und therapeutische Hilfestellung geleistet. Dies geschah und geschieht immer noch ohne Unterstützung der Sozialversicherungen. Die Politik täte gut daran, sich dieser "Whistleblower" zu bedienen und deren Erfahrungen mit umweltassoziierten Erkrankungen zum Aufbau einer primären Prävention zu nutzen.


Wissenschaftliche Evidenz, Therapie-Erfolg und -Wirksamkeit

Nachdem nach 1995 die evidenzbasierte Medizin zum Goldstandard universitärer Wissenschaftlichkeit erhoben wurde, konnten viele, in der Klinischen Umweltmedizin empirisch gewonnenen Erfahrungen, mangels finanzieller Unterstützung, nicht oder noch nicht in prospektiven, randomisierten, kontrollierten, doppelblinden Studien verfolgt werden. In einer Wissenschaftswelt, in der fast ausschließlich Drittmittelforschung vorherrscht, stehen klinisch umweltmedizinische Themen nicht im Interessenskatalog der meist industriellen Sponsoren. U.a. wegen dieser interessengesteuerten Wissenschaft blieb evidenzbasierte Medizin aber in der Wissenschaftswelt nicht unumstritten (12, 13).

Nichtsdestoweniger ist es vielen Ärzten in der niedergelassenen Praxis gelungen, wissenschaftliche Beiträge zu Diagnostik und Therapie von umweltassoziierten Erkrankungen zu bearbeiten und letztlich auch zu publizieren (14-31). Diese wissenschaftliche Untermauerung der von ihnen empirisch gewonnenen Erfahrungen legitimiert sie deshalb zum weiteren Einsatz dieser Strategien, weil sie in umfangreichen Patientenerfahrungen und Rückmeldungen positive Bestätigungen ihres Handelns bekommen haben. Dieses entspricht zwar nicht den in den engen Bewertungs-Abgrenzungen des Umwelt & Gesundheitsbereiches geforderten Evidenz-Kriterien, hat sich aber zu einer sicheren, nachvollziehbaren und nachhaltigen Strategie bei der Diagnostik und Therapie umweltassoziierter Erkrankungen entwickelt.

Obwohl die vielzitierte Multizentrische MCS-Studie des Umweltbundesamtes 2003 eindeutig zwischen Umwelterkrankten, hier MCS-Patienten, und Patienten mit psychiatrischen oder psychosomatischen Erkrankungen scharf trennen konnte, hat das nicht zum allgemeinen Umdenken geführt (5). Vielmehr werden Betroffene mit umweltassoziierten Erkrankungen sehr häufig mit Unterstützung des Scientific Mainstreams, mangels realer Wahrnehmung der Erkrankungen, weiterhin psychosomatisiert oder gar psychiatrisiert. Somit wird im Rahmen der gängigen Psychosomatisierung umweltassoziierter Erkrankungen von Seiten der Sozialversicherungen fast schon regelmäßig eine entsprechende psychosomatische Reha-Maßnahme eingeleitet. Deren Therapieerfolge sind bisher keiner wissenschaftlichen Evidenz unterzogen worden. Es wird lediglich der Erfolg der Maßnahme dokumentiert. Nun ist Erfolg einer Therapiemaßnahme durchaus akzeptabel, wenn denn keine anderen Parameter des Therapieerfolges zu bekommen sind. Dann sollte aber auch der kontinuierliche Therapieerfolg in den Praxen niedergelassener Ärzte der Klinischen Umweltmedizin ebenfalls akzeptiert werden. Besser wäre ein Nachweis der Wirksamkeit einer Behandlung, der durch prospektive, randomisierte, geblindete und vor allem mit Kontrollgruppen durchgeführten Studien untermauert wird. Zumindest in der Therapie des MCS-Syndroms ist von Seiten der Klinischen Umweltmedizin die Wirksamkeit in einer solchen kontrollierten Studie publiziert (32).

Der oberste Grundsatz in der ärztlichen Therapie bleibt "nihil nocere". Aber genau das machen psychosomatische Rehabilitationen meist bei der Behandlung umweltassoziierter Erkrankungen. Therapiert man ausschließlich nur einen Stressor und missachtet dabei fahrlässig noch mögliche wichtige weitere Stressoren, schädigt man die Betroffenen. Ohne Aufdeckung und Eliminierung wirken die unentdeckten Stressoren ungehindert weiter ein und setzen Langzeitschäden. Da die Finanzmittel der Gesundheitssysteme schon jetzt nicht mehr ausreichen, sollten solche Therapiesettings nicht mehr ungeprüft durchgeführt werden.

Da gerade bei der Therapie keiner bisher bessere, umfassende Therapiekonzepte vorweisen kann als die Klinische Umweltmedizin, erscheint es legitim, den eingeschlagenen Weg nicht zu verlassen. Die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Strategien muss natürlich folgen. Die Erarbeitung eines Evidenz-Standards sollte aber auch als gemeinsame Aufgabe der niedergelassenen Klinischen Umweltmediziner mit den forschenden universitären Instituten gesehen werden. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass neue wissenschaftliche Konzepte zur Erforschung komplexer Interaktionen von Umweltnoxen erarbeitet werden müssen.


Perspektive einer kooperative Forschung und Lehre

Folgt man den Vorstellungen Sacketts, so ist "Evidenz basierte Medizin der gewissenhafte und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der Versorgung individueller Patienten. Evidenz basierte Medizin bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung. Expertise spiegelt sich auch in der Berücksichtigung der besonderen Situation, der Rechte und Präferenzen von Patienten wieder" (33).

Unter diesen Aspekten ist die Perspektive einer fruchtbringenden Kooperation von beiden Bereichen der Umweltmedizin, der Klinischen Umweltmedizin einerseits und dem Bereich Umwelt & Gesundheit andererseits, möglich, ja sogar aktiv anzustreben. Zukünftig sollte die Expertise und Erfahrungen sowie die umfangreichen Datensammlungen der Klinischen Umweltmedizin von der universitären Wissenschaft unter den Aspekten der evidenzbasierten Medizin zur kooperativen Bearbeitung für prospektive, randomisierte, geblindete und kontrollierte Studien verwendet werden. Dies kann jedoch nur passieren, wenn die Universitäten sich in Lehre und Forschung der Klinischen Umweltmedizin öffnen.

Dazu bedarf es zwingend des Ausbaus der Ausbildung an den universitären Lehranstalten, der strukturierten Lehre in der ärztlichen Weiterbildung sowie letztendlich einer Hochschulweiterbildung zur Erlangung eines Masters in Klinischer Umweltmedizin. Studenten lernen an Beispielen von Erkrankungsmustern. Bis zum Beheben des derzeitigen Mangels an Klinischen Umweltmedizinern an den Hochschulen, könnten zur Optimierung studentischer Ausbildung Lehraufträge an niedergelassene Klinische Umweltmediziner vergeben werden.

Die postgraduale ärztliche strukturierte Fort- und Weiterbildung ist schon seit über zwanzig Jahren von Mitgliedern von dbu und EUROPAEM vorgehalten worden. Diese wird weiterhin fortgeführt als Blended E-Learning (Präsenzveranstaltungen kombiniert mit Online-Teaching). Bei der Novellierung der Weiterbildungsordnung soll auf Anraten der Bundesärztekammer vom Deutschen Ärztetag 2015 eine zertifizierte Weiterbildung mit dem Titel "Klinische Umweltmedizin" beschlossen werden. Wir benötigen eine große Anzahl dieser zertifizierten Klinischen Umweltmediziner, um flächendeckend das Fachwissen den Betroffenen zugänglich machen zu können. Dies sollte in Schwerpunktpraxen oder auch -Ambulanzen geschehen. Für die gravierenden Erkrankungsfälle bedarf es auch dringend Betten in Spezialkliniken bzw. Klinikabteilungen.

Anlässlich eines Fachgespräches "Wenn Umwelt krank macht, muss die Politik handeln" hatte die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen am 20.06.2008 Experten einberufen. Die Antwort auf die Frage nach der bedarfsgerechten Versorgungsstruktur für Umwelt-assoziierte Erkrankungen wurde auf den spärlich zur Verfügung stehenden Daten des Fachkrankenhauses Nordfrieslands berechnet und stellte auf Grund mangelnder anderer Daten mehr eine grobe Schätzung, denn eine epidemiologisch fundierte Aussage dar. Danach bräuchte man zur Versorgung in der BRD ca. 200 bis 300 Schwerpunktpraxen bzw. -Ambulanzen sowie ca. 200 Spezial-Betten in spezifisch dazu einzurichtenden Kliniken oder Klinikabteilungen (34). Epidemiologische Forschung über den aktuellen Bedarf an Ärzten, niedergelassenen und an Kliniken, zur Versorgung umweltassoziierter Erkrankungen wird dringend benötigt.

Summarisch gesehen ergibt sich bei der Bearbeitung umweltassoziierter Erkrankungen in einer Kooperation beider Bereiche der "Umweltmedizin", der Klinischen Umweltmedizin und dem Bereich Umwelt & Gesundheit, eine interessante und gewinnbringende Perspektive für die Versorgung der Betroffenen sowie für Forschung und Lehre.


Kontakt:

Dr. med. Peter Ohnsorge(1,2) (Korrespondenzanschrift)
Ohnsorge@europaem.de
Dr. med. Kurt E. Müller(1,2)
Dr. med. Frank Bartram(2)
Dr. med. Hans-Peter Donate(2)

(1)European Academy for Environmental Medicine
(EU ROPAEM) Office
Trierer Str. 44
54411 Hermeskeil

(2)Deutscher Berufsverband der Umweltmediziner (dbu)
Geschäftsstelle
Siemensstraße 26a, 12247 Berlin


Anmerkung

[1] Legt man als Analogie Platons Höhlengleichnis zu Grunde, so sind sich die einseitig nach vorn fixierten und orientierten Höhlenbewohner in der Beurteilung der Schattenbilder einig, die durch das hinter ihnen befindliche Licht erzeugt werden.Würde einer aus dieser Gruppe gezwungen, die Blickrichtung und damit seine Wahrnehmung zu ändern, könnte er zunächst das Gesehenen nicht akzeptieren, da es nicht in sein Erkenntniskonzept einzuordnen wäre. Führt man ihn aus der Höhle in die andere Dimension und würde er diese zu ergründen versuchen, könnte er schwerlich wieder zur alten Sichtweise zurückkehren (weitere Informationen siehe
http://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%B6hlengleichnis).


Nachweise

(1) BUNDESÄRZTEKAMMER (2006): Strukturierte curriculare Fortbildung Umweltmedizin. Texte und Materialien der Bundesärztekammer zur Fortbildung und Weiterbildung. Bundesärztekammer, Berlin.

(2) BARTRAM F, BAUER A, VON BAEHR V et al. (Hrsg.) (2011): Handlungsorientierte umweltmedizinische Praxisleitlinie. Langfassung. Deutscher Berufsverband der Umweltmediziner e.V., Berlin
[http://www.dbu-online.de/fileadmin/redakteur/Sonstiges/Leitlinie_Langfassung_11_2011_Umweltmed.Praxis.pdf, letzter Zugriff: 29.4.2014].

(3) WITTE I. (2001): Synergistische Kombinationswirkungen zwischen kanzerogenen und nichtkanzerogenen Umweltchemikalien. Zeitschrift für Umweltmedizin 9(2): 95-102.

(4) DRASCH G, BÖSE-O'REILLY S, BEINHOFF C et al. (2001 ): The Mt. Diwata study on the Philippines 1999 - assessing mercury intoxication of the population by small scale gold mining. The Science of TotaI Environment 267: 151-168.

(5) EIS D, BECKEL T, BIRKNER N et al. (2003): Multizentrische MCS-Studie. Umweltbundesamt, Berlin.

(6) SORG BA. (1999): Multiple chemical sensitivity: potential role for neural sensitization. Crit. Rev. Neurobiol. 13: 283-316.

(7) CARESS SM, STEINEMANN AC. (2003): A review of a two-phase population study of Multiple Chemical Sensitivities. Environmental Health Perspectives 111(12): 1490-1497.

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Sensitivities: An overview. Occup Med. 2(4): 655-661.

(9) PALL ML, SATTERLEE JD. (2001): Elevated Nitric Oxide/Peroxynitrite Mechanism for the common etiology of Multiple Chemical Sensitivity, Chronic Fatigue Syndrome and Posttraumatic Stress Disorder. Ann New York Acad Sci 933: 323-329.

(10) PALL ML, ANDERSON JH. (2004): The Vanilloid Receptor as a putative target of diverse chemicals in multiple chemical sensitivity. Arch Environ Health 59: 363-375.

(11) EUROPEAN COMMISSION (2014): Conference Conclusions. The 2014 EU Summit on Chronic Diseases. 3.-4. April 2014. Health and Consumers Directorate - General, Public Health, Brussel
[http://ec.europa.eu/health/major_chronic_diseases/events/ev_20140403_en.htm,
Zugriff: 29.4.2014].

(12) WESSLING H. (2011): Theorie der klinischen Evidenz - Versuch einer Kritik der evidenzbasierten Medizin, Naturwissenschaft - Philosophie - Geschichte Bd. 26, LIT-Verlag, Berlin-Münster-Wien-Zürich.

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(16) HÜPPE M, OHNSORGE P, KRAUSS B, SCHMUCKER P. (2000): Der MCS-Fragebogen: Erste Befunde eines neuen Verfahrens zur Beschreibung MCS-auslösender Stoffe und Symptome. Umweltmed Forsch Prax 5(3): 143-153.

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(18) MASCHEWSKY W. (1996): Handbuch Chemikalienunverträglichkeit (MCS). Medi Verlagsgesellschaft für Wissenschaft und Medizin mbH, Hamburg.

(19) SCHNAKENBERG E, FABIG KR, STANULLA M. et al. (2007): A cross-sectional study of self-reported chemical-related sensitivity is associated with gene variants of drug-metabolizing enzymes. Environmental Health 6:6.

(20) SCHNAKENBERG E. (2007): Möglichkeiten der molekulargenetischen Diagnostik in der Umweltmedizin - eine Übersicht. Umwelt Medizin Gesellschaft 20(4): 265-272.

(21) SCHWARZ E, BAUER A. (2007): Medizinische Rehabilitation als weiterführender therapeutischer Ansatz bei "Multiple Chemical Sensitivity (MCS)" und anderen chronischen umweltmedizinischen Gesundheitsstörungen. Umwelt Medizin Gesellschaft 20(2): 126-131.

(22) SCHWARZ E, BAUER A, MAI C et al. (2006): Langzeit-Verlaufskontrolle bei umweltmedizinischen Patienten einer Fachklinik - unter der besonderen Berücksichtigung der Patienten mit chemischen Intoleranzen bzw. Multiple Chemical Sensitivity (MCS). Forschungsbericht. Fachkrankenhaus Nordfriesland, Bredstedt.

(23) SCHWARZ E, BAUER A, MARTENS U. (2006): Allergien, Stress und Schadstoffe als Risikofaktoren für chemische Intoleranzen und "Multiple Chemical Sensitivity" (MCS). Allergo Journal 15: 139-140.

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(26) KNABENSCHUH B, BARTRAM F, BIEGER WP. (2003): Einfluss neuroinflammatorischer und neuroendokriner Mechanismen bei MCS, Zeitschrift für Umweltmedizin 11(1): 30-35.

(27) PRANG N, MAYER W, BARTRAM F et al. (2003): MCS - ein NFKappaB - getriggerter Entzündungsprozess, Zeitschrift für Umweltmedizin 11(2): 80-86.

(28) MÜLLER KE. (2009): Epigenetik und funktionelle Teratologie. Umwelt Medizin Gesellschaft 22(4): 9-15.

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(30) MÜLLER KE. (2013): Immunreaktion auf physiologisch nicht benötigte Metalle. Umwelt Medizin Gesellschaft 26(4): 257-262

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(32) HÜPPE M, MÜLLER J, SCHULZE J, WERNZE H, OHNSORGE P. (2009): Treatment of patients burdened with lipophilic toxicants: A randomized controlled trial. Activitas Nervosa Superior Rediviva 51 (3-4): 133-141.

(33) SACKETT DL, ROSENBERG WMC, GRAY JAM, HAYNES RB, RICHARDSON WS. (1996): Evidence based medicine: what it is and what it isn't, British Medical Journal. 312: 71-72.

(34) OHNSORGE P. (2008): Versorgungssituation in der Umweltmedizin. Vortrag auf der Veranstaltung "Wenn Umwelt krank macht, ... muss die Politik handeln", Fachgespräch zu Umwelt und Gesundheit, Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, 20.06.2008, Deutscher Bundestag Berlin.

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Quelle:
umwelt · medizin · gesellschaft, 27. Jahrgang, Nr. 2/2014, S. 118-123
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Das Abonnement kostet ansonsten jährlich 42,- Euro frei Haus,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2015

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