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UROLOGIE/241: Harninkontinenz - Erfahrungen der Kieler Urologie mit Botulinuminjektionen (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 11/2011

Harninkontinenz
Erfahrungen der Kieler Urologie mit Botulinuminjektionen

Von Stephanie Knüpfer, Dr. Moritz Hamann, Prof. Dr. Klaus-Peter Jünemann


Botulinuminjektion als Therapieoption bei Dranginkontinenz (neurogener sowie nicht neurogener Genese): Eine Bilanz der Klinik für Urologie am UK S-H.


Wo sind die nächsten Toiletten? Dieser ständige Gedanke verringert signifikant die Lebensqualität der Betroffenen, die unter dem Symptomkomplex der überaktiven Blase leiden. Ein großes soziales Stigma entsteht, das sogar in starke Depressionen führen kann.

Die "International Continence Society" (2002) definiert den imperativen Harndrang als ein plötzlich auftretendes, nicht unterdrückbares Verlangen, die Harnblase zu entleeren, in Verbindung mit unfreiwilligem Urinverlust.(1) Dieser plötzliche Urinverlust, unabhängig von der Blasenfüllung, verursacht einen deutlich größeren Leidensdruck als die Belastungsharninkontinenz, bei der die Betroffenen wissen, dass der Urinverlust bei körperlicher Anstrengung (Husten, Niesen oder auch Treppensteigen) auftritt. Derzeit leiden 6,6 Millionen Menschen in Deutschland an dem Symptomkomplex einer überaktiven Blase. Die Symptomatik wird an nur 33 Prozent der Betroffenen diagnostiziert, während nur neun Prozent überhaupt therapiert werden.(2)

Das Reizblasensymptom ist keine typische Frauenkrankheit. Drei bis elf Prozent aller Männer sind von der Harninkontinenz betroffen. Bis zum 70. Lebensjahr steigt die Häufigkeit bis auf 30 Prozent an.(3)

Die Ursachen können neben dem Alterungsprozess der Blase eine Prostatavergrößerung sowie eine neurologische Erkrankung sein.

Die konservative Therapie besteht primär aus einer Verhaltenstherapie sowie der medikamentösen ("anticholinergen") Therapie. Bei ausbleibender Wirkung oder aufgrund der häufigen ausgeprägten Nebenwirkungen (Mundtrockenheit, Obstipation, Tachykardie) ist der Bedarf bei ca. 30 Prozent der betroffenen Patienten an alternativen Therapieansätzen groß.(4)

Durch weit reichende klinische wie wissenschaftliche Erfahrungen mit dem Wirkstoff Botulinumtoxin Typ A (kurz: Botox) ist die Klinik für Urologie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein Kiel in der funktionellen Therapie neurogener (das Nervensystem betreffender) und auch nicht-neurogener Erkrankungen der Harnblase das viertgrößte Botoxzentrum in Europa.

Die Injektion von Botulinumtoxin in den Detrusor vesicae ist ein minimal-invasives Verfahren. Botulinumtoxin (Neurotoxin des Bakteriums Clostridium botulinum) blockiert temporär an der motorischen Endplatte die Acetylcholinfreisetzung aus dem präsynaptischen Spalt und unterbricht somit die neuromuskuläre Erregungsausbreitung. Die Folge ist eine reversible schlaffe Muskellähmung. Durch Abbau des Toxins, Neuaussprossung der Nerven (nerve sprouting) oder Synthese eines Proteinkomplexes an der präsynaptischen Membran ist dieser Effekt reversibel.(5) Die zystoskopische intravesikale Injektion von Botulinumneurotoxin Typ A bewirkt eine Reduktion der Drang- und Inkontinenzereignisse, eine Steigerung der Miktionsmenge sowie eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität. Eine aktuelle Studie von Frohme et al.(6) zeigte eine durchschnittlich signifikante Reduktion der Tagesmiktionsfrequenz sowie der Nykturie in 81 Prozent bzw. in 68 Prozent. Bei 83 Prozent der Patienten konnte die verbesserte Lebensqualität, gemessen mittels "Kings Health Questionnaire", gezeigt werden. Der Eingriff wird in Lokal- bzw. in Allgemeinanästhesie durchgeführt. Bei der Lokalanästhesie wird zwei Prozent Lidocainlösung mittels eines Katheters in die Blase instilliert. Nach 20 Minuten Einwirkungszeit wird die Blase wieder entleert und die eigentliche Injektion beginnt. Eine Standardtechnik bei Dosierung und Injektion existiert nicht. In der Regel wird eine Dosierung von 100-300 IU Botox® verwendet (Dosis pro Injektion von 1 ml ca. 10 IU).

Über eine Nadel werden kleine Mengen des Wirkstoffs direkt in die Blasenwandmuskulatur eingespritzt. Dazu sind bis zu 30 Einstiche notwendig, die gleichmäßig im Bereich der gesamten Blase verteilt werden. Der Wirkungseintritt erfolgt innerhalb von 14 Tagen. Die durchschnittliche Wirkungsdauer beträgt zwischen sechs und 24 Monaten.(7,8) Im Rahmen der wissenschaftlichen Nachbeobachtung, die nunmehr nahezu ein Jahrzehnt überblickt, konnten keine relevanten Nebenwirkungen einer andauernden Therapie festgestellt werden.

Bei bestehendem Risiko der postinterventionellen Restharnbildung bis hin zur Harnverhaltung müssen die Patienten über den eventuell infrage kommenden intermittierenden Selbstkatheterismus aufgeklärt sein. Die offizielle Zulassung der Botulinumtoxininjektion intravesikal steht noch aus ("off-label-use"). Die Zulassung der Therapie mit Botulinumtoxininjektionen in den Detrusor vesicae bei neurogener (Multiple Sklerose oder Parkinson und Querschnittslähmung) sowie nicht-neurogener Genese wird bis zum Ende des Jahres 2011 erfolgen. Deshalb sollte die Behandlung der Harninkontinenz mit Botulinumtoxin vorerst nur in spezialisierten Zentren wie in Kiel durchführt werden.


Literatur bei den Verfassern oder im Internet unter www.aerzteblatt-sh.de

Stephanie Knüpfer, Dr. Moritz Hamann, Prof. Dr. Klaus-Peter Jünemann, Klinik für Urologie und Kinderurologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 11/2011 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2011/201111/h11114a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten
Abbildung der Originalpublikation:

Über eine Nadel (Bildmitte) werden kleine Mengen des Wirkstoffes direkt in die Blasenwandmuskulatur eingespritzt. Dazu sind bis zu 30 Einstiche notwendig, die gleichmäßig im Bereich der gesamten Blase verteilt werden.


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 11/2011, November 2011
64. Jahrgang, Seite 50 - 51
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2012