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ETHIK/924: Der steuerbare Mensch? (7) Rechtsfragen bei Eingriffen in das Gehirn (Deutscher Ethikrat)


Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009
Der steuerbare Mensch? - Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

Steuerung des zentralen Steuerungsorgans -
Rechtsfragen bei Eingriffen in das Gehirn

Von Henning Rosenau


Einleitung

Ein Vortrag vor dem Deutschen Ethikrat ist für den Vortragenden eine aufregende Angelegenheit. Man ist schon Tage vorher nervös, schläft schlecht, die Konzentration bei der Überarbeitung des Manuskriptes lässt nach. Also besorgt man sich im Internet Vigil® mit dem Wirkstoff Modafinil. Was gegen die Tagesmüdigkeit bei Narkolepsie hilft, taugt auch in Stressphasen und hält einen wach. Mit Prozac® lässt sich das Selbstbewusstsein stärken, und schließlich steckt ein es gut meinender Naturheilpraktiker einem noch ein pflanzliches Mittel für geistige Agilität zu.

Ich weiß mich in guter Gesellschaft. 7-25 Prozent der amerikanischen Studierenden - die Zahlen schwanken in den Erhebungen - tun es mir in Prüfungen und bei Klausuren gleich, und auch unter den Dozenten werden diese Mittel eingenommen. Und seitdem ich in Augsburg meine Studierenden und Kollegen nach den Stimmungsaufhellern und Konzentrations-Boostern frage, verfestigt sich der Eindruck, dass die genannten Zahlen auch in Deutschland näherungsweise gültig sind - nota bene: ohne dass die Klausuren nach dem Eindruck eines leidgeprüften Prüfers besser geworden wären.

Mein Beispiel zeigt zunächst eines: die pharmakologische Einflussnahme auf das Gehirn kann sozial wie individuell betrachtet, also für alle Beteiligten, von Vorteil sein, wenn wir ergebnisorientiert argumentieren. Wenn es nur auf das Ergebnis ankommt, leuchtet zunächst nicht ein, dass sich rechtliche Grenzen ergeben sollten.

Eines wird dagegen schnell deutlich: Man wird sehr genau zwischen den verschiedenen Eingriffen ins Gehirn differenzieren müssen. Wir müssen auseinanderhalten:

1. die Eingriffe zur Therapie von Krankheiten,

2. die Eingriffe, die unsere kognitiven, emotionalen oder motivationalen Fähigkeiten verbessern sollen. Diese Eingriffe umschreiben den Bereich des sogenannten Neuro-Enhancements.

Innerhalb der zweiten Kategorie wäre weiter zu differenzieren, ob der Eingriff von der Person selbst in eigener Verantwortung vorgenommen wird. Hier wäre das Eingangsbeispiel zu verorten. Kommen die Eingriffe hingegen von Dritten, was regelmäßig Mediziner sein werden, stellen sich weitere juristische Fragen, die hier zumindest skizziert werden sollen.


Therapeutische Eingriffe in das Gehirn

Die Mittel, um die die Debatte kreist, begannen ihre Karriere als herkömmliche Medikamente zur Therapie von Leiden. Neueste Versuche zielen auf eine Stimulation von Neuronalzellen ab, wie mittels in das Gehirn verpflanzter Lichtleiter. Auch diese im Tierversuch Erfolg versprechend erprobten Methoden haben zum Ziel, bei Kranken wie zum Beispiel Alzheimer-Patienten Körperreaktionen zu unterbinden oder zu stimulieren, haben also auch eine therapeutische Zielsetzung. Es gelten die allgemeinen Regeln für die Heilbehandlung. Die Hauptprobleme ergeben sich erstens bei der Einwilligung in derartige Eingriffe und zweitens bei der Frage, ob solche Behandlungen ärztlich indiziert, also medizinisch vertretbar erscheinen.

Einwilligung

Das Konzept des informed consent, der aufgeklärten Einwilligung, verlangt, dass der Patient über die Bedeutung und Tragweite seiner Entscheidung im Bilde ist. Er ist daher vom Arzt über die Notwendigkeit einer Nutzung von Psychopharmaka aufzuklären, über Alternativen und insbesondere über die Risiken der Anwendung.

Ein besonderes Problem stellt sich bei solchen Substanzen oder Verfahren, mit denen medizinisch völliges Neuland betreten wird, die also noch nicht etabliert sind. Neben einer Abwägung von Nutzen und Risiko gegenüber einer Standardbehandlung hat der Arzt den Patienten zunächst über Alternativen aufzuklären, um ihm eine echte Wahlmöglichkeit zu geben. Daneben verlangt die Rechtsprechung, dass dem Patienten unmissverständlich klargemacht wird, dass unbekannte Risiken nicht ausgeschlossen werden können.

Selbst wenn sich der Einsatz einer neuartigen Therapie noch im reinen Versuchsstadium befindet, ist deren Anwendung nicht ausgeschlossen. Auch hier kann der informed consent die Teilnahme an einer klinischen Prüfung rechtfertigen. Fraglich sind stets das Maß und der Umfang der Aufklärung. Aufgrund der höheren Risiken, welche allen medizinischen Versuchen eigen sind, muss die Aufklärung hier grundsätzlich weiter reichen als diejenige vor einer Standardbehandlung.

Bei Nichteinwilligungsfähigen gelten die Regularien, wie sie wohl am deutlichsten in der Biomedizin-Konvention des Europarates vom 4.4.1997 zu finden sind. Auch wenn Deutschland dieses Dokument nicht gezeichnet hat, folgen wir aufgrund allgemeiner Rechtsgrundsätze und ärztlichem Standesrecht denselben Prinzipien. Relevant sind diese in unserem Zusammenhang etwa bei depressiven Patienten, denen Stimmungsaufheller verabreicht werden sollen, oder bei Alzheimer-Patienten, bei denen die Gedächtnisleistung angeregt wird. Da diese Patienten selbst nicht einwilligen können, muss auf Ersatz für die nicht artikulierbare Einwilligung zurückgegriffen werden.

Die Biomedizin-Konvention zählt mögliche Alternativen auf, stellt aber an oberste Stelle, sozusagen vor die Klammer gezogen, den Grundsatz der medizinischen Indikation. Art. 6 Abs. 1 untersagt jeden Eingriff bei Nichteinwilligungsfähigen, welcher nicht deren unmittelbarem Nutzen dient.

Art. 6 Abs. 2 sieht sodann anstelle der Einwilligung des Betroffenen die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters oder einer gesetzlich genannten Behörde oder eines Gremiums vor. In Deutschland wäre dies das Betreuungsgericht. Eine Verpflichtung zur Einschaltung des Gerichts besteht indes nicht. Dessen Kontrolltätigkeit ist nach § 1904 Abs. 1 S. 1 BGB nur vorgeschrieben, wenn mit der Behandlung ein schwerer und länger andauernder, gesundheitlicher Schaden drohen könnte.

Art. 8 ergänzt für Notfallsituationen die Möglichkeiten über eine stellvertretende Einwilligung hinausgehend mit der sogenannten mutmaßlichen Einwilligung. Allerdings ist diese subsidiär und nur dann vorzusehen, wenn die Angehörigen nicht erreicht werden können. Diese Variante dürfte vorliegend nur selten relevant werden.

Diskutiert wird, ob derartige Substitute bei heiklen Verfahren wie Eingriffen in das Gehirn überhaupt vertretbar erscheinen. Lässt sich die in potenziertem Maße höchstpersönliche, weil das Ich betreffende Behandlung durch Eingriffe in das Gehirn von Stellvertretern treffen? Würde man das für undenkbar halten, würde man freilich die Nichteinwilligungsfähigen bei einem an sich indizierten medizinischen Verfahren gegenüber den Einwilligungsfähigen benachteiligen. Sie dürften schlicht nicht behandelt werden und würden dadurch noch stärker benachteiligt. Die schon bestehende Benachteiligung würde potenziert.

Ärztliche Vertretbarkeit

Ist ein neuronales Verfahren etabliert und zum medizinischen Standard avanciert, wie es bei den Psychopharmaka für bestimmte Krankheitsbilder der Fall ist, stellen sich bei einwandfreier Indikation keine besonderen Probleme. Zu klären ist allerdings, ob grundsätzliche Verfassungsschranken derartige Heilmethoden untersagen. Dazu später mehr.

Technische Eingriffe ins Gehirn befinden sich weitgehend noch im Versuchsstadium. Dann tritt neben die Aufklärung ein uralter, ärztlicher Ethos, wie wir ihn im Hippokratischen Eid wiederfinden: "(die Kranken) schützen vor allem, was ihnen Schaden und Unrecht zufügen könnte." Es gilt der Grundsatz: Salus aegroti suprema lex.[1] Der Versuch muss ärztlich vertretbar sein.

Mit dieser Formulierung hat das Arzneimittelgesetz (AMG) in § 40 Abs. 1 Nr. 2 die in der Deklaration von Helsinki/Tokio zur medizinischen Forschung des Weltärztebundes vorgesehene Nutzen-Risiko-Abwägung umgesetzt. Um eine solche Vertretbarkeit wird derzeit bei manchen vorstellbaren Anwendungen gerungen. So sind die Nebenwirkungen, insbesondere die Langzeitfolgen, bei der tiefen Hirnstimulation sehr ungewiss. Derzeit ist im Hinblick auf den Nutzen, die Wirksamkeit und die Sicherheit von neuronalen Interventionen noch vieles offen. Dies verbietet allerdings die Durchführung von Forschung am Menschen nicht. Denn die Ungewissheit von Nutzen und Risiken ist nachgerade die Voraussetzung zur Durchführung einer Versuchsreihe. Besteht eine Ungewissheit nicht, handelt es sich entweder um eine Standardtherapie oder kein zulässiges Verfahren. Daher rechtfertigen noch unbekannte Nebenwirkungen im Prinzip kein Moratorium, sofern die Risiken beherrschbar erscheinen.


Neuro-Enhancement

Neuro-Enhancement bezeichnet die Anwendung der genannten Methoden, nun aber außerhalb eines therapeutischen Kontextes. Es geht folglich um keine medizinisch indizierte Maßnahme. Vielmehr werden etwa die Psychopharmaka zur Leistungssteigerung oder für das höhere Wohlbefinden eingenommen.

Abgrenzung Krankheit - Normalität

Als erstes stellt sich ein uraltes Problem, nämlich die Frage, wie Krankheit von Normalität abzugrenzen ist. Ich möchte diese Frage nur kurz streifen, zumal ich selbst keine befriedigende Antwort zu geben weiß. Es gibt sicher Bereiche, in denen eindeutige Zuordnungen möglich sind, aber in den Grenzzonen verschwimmt jede klare Abgrenzung. Der Krankheitsbegriff wandelt sich mit der Zeit, zum Teil werden Krankheitsbewertungen auch professionell aus der Therapie heraus geschaffen. Selbst im Recht finden sich unterschiedliche Definitionen. Im Sozialrecht beispielsweise führt das Bemühen, den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkasse nicht zu sehr zu belasten, zu einer eher engeren Definition von Krankheit. Die Abgrenzung ist auch deshalb nicht eindeutig, weil Enhancement durchaus in Therapie umschlagen kann, wenn der Patient nämlich an seinem Defizit derart leidet, dass er mit dem neuronalen Enhancement von einer schon pathologischen Belastung befreit werden soll.

Einwilligung in das Neuro-Enhancement

Möglichkeit einer Einwilligung
Ist eine Einwilligung in medizinisch nicht indizierte Eingriffe überhaupt möglich? Die Frage ist zu bejahen. Denn zum Selbstbestimmungsrecht des Menschen gehört die Befugnis, über den eigenen Körper zu verfügen. Die Rechtsordnung versucht uns im StGB lediglich daran zu hindern, unser Leben preiszugeben (§ 216 StGB). Wir können unsere Haare schneiden oder färben, wie es uns gefällt. Wir können uns gegen die Grippe impfen lassen, müssen es aber nicht tun. Selbst in hohem Maße unvernünftige Entscheidungen sind zu respektieren. Gegen unsere Entscheidung darf kein Arzt einen tuberkulös infizierten Fuß amputieren, selbst wenn Lebensgefahr besteht. Auch jenseits solch klassischer Beispiele aus der Judikatur ist es uns erlaubt, den eigenen Körper zu gefährden. Dieses Selbstbestimmungsrecht ist ein hohes verfassungsrechtliches Gut, welches sich als ein allgemeines Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 GG ergeben dürfte. Seit Kant gilt: "Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur".[2]

Regeln der Einwilligung
Die Grenzen für die Wirksamkeit einer Einwilligung sind nun aber gegenüber einer Einwilligung in eine Therapie deutlich enger zu ziehen. Es gilt, was auch sonst bei nicht medizinisch indizierter Behandlung zu gelten hat, etwa bei einer Schönheitsoperation: Es wird ein Höchstmaß an Aufklärung verlangt. Der Arzt hat in schonungsloser Offenheit und Härte über alle denkbaren Folgen und Unannehmlichkeiten zu informieren, auch wenn deren Wahrscheinlichkeit gering sein sollte.

Das findet in unserem Kontext seine Berechtigung darin, dass Nutzen und Risiken bei der Anwendung von Psychopharmaka bei gesunden Personen noch längst nicht bekannt sind. Methodische Studien sind dazu nicht in den Blick genommen worden. Eine evidenzbasierte Anwendung findet nicht statt, stattdessen handelt es sich um reinen off-label-use, wenn man diesen Begriff ganz weit zieht und jede Arzneimittelanwendung jenseits der in der Zulassung genannten Bedingungen einbezieht. Schadensrisiken bestehen insbesondere bei Langzeiteinnahmen und bei sich entwickelnden Gehirnen, etwa von Kindern und Jugendlichen. Mögliche Abhängigkeiten mit der Notwendigkeit des Entzugs, vermindertes Größenwachstum usw. sind nicht auszuschließen.

Der zum Teil gehörte Einwand, aufgrund der noch nicht abschließend geklärten Nebenwirkungen könnten die Grundbedingungen für eine wirksame Einwilligung nicht erfüllt werden, weil eine Aufklärung mangels ausreichenden Wissens gar nicht möglich sei, ist medizinrechtlich unhaltbar. Denn eine Einwilligung ist auch in Gefährdungen möglich, die man noch nicht kennt, wenn nur auf die Möglichkeit des Eintritts noch nicht absehbarer Gefährdungen hingewiesen wird. Mit dem Argument wäre sonst auch von vornherein eine Einwilligung in jegliche medizinische Forschung ausgeschlossen, weil diese begriffsnotwendig die Ungewissheit über Nebenfolgen voraussetzt. Wäre es anders, bräuchten wir die Forschung gerade nicht.

Möglicherweise ließe sich aber mit den potenziellen Gefahren die Einwilligungssperre des § 228 StGB heranziehen. Dort wird geregelt, dass eine Einwilligung unbeachtlich ist, wenn die Körperverletzung gegen die guten Sitten verstoße. Unterstellt, wir hätten es beim Neuro-Enhancement mit einer Körperverletzung zu tun, stellt sich die Frage, ob dieses sittenwidrig ist, ob es gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkender verstößt. Das ist erkennbar ein sehr offener und weitestgehend unbestimmter Maßstab. Er ist daher inzwischen von der Rechtsprechung auf seinen rechtlichen Kern begrenzt worden. Die Sittenwidrigkeit ist nur zu bejahen, wenn der Umfang der Verletzung sehr groß ist und der Betroffene erheblichen Gefahren, insbesondere für sein Leben, ausgesetzt ist. Denn nur dann lassen sich generalpräventive und fürsorgliche Eingriffe in die Dispositionsbefugnis legitimieren. Diese Risikohöhe ist vorliegend kaum erreicht.

Hinzutreten muss die wirtschaftliche Aufklärung. Der Arzt hat den Patienten darüber zu instruieren, dass Neuro-Enhancement-Behandlungen als nicht indiziert außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenkassen stehen und von ihm selbst bezahlt werden müssen. Das ergibt sich aus § 27 Abs. 1 SGB V.

Gesellschaftlicher Anpassungsdruck
Ist eine erteilte Einwilligung wertlos, wenn latenter Zwang mit im Spiel ist? Die Befürchtungen sind nicht von der Hand zu weisen, dass es bei zunehmendem Einsatz von Psychopharmaka zu einem hohen Anpassungsdruck kommt. Um im Wettbewerb - im Berufsleben wie in der Freizeitgestaltung - mithalten zu können und gegenüber den Konkurrenten zu punkten, könnten sich viele gezwungen sehen, ebenfalls zu Hilfsmitteln zu greifen. Umgekehrt hätte derjenige ohne Neuro-Enhancement reduzierte Chancen: in der Schule, im Examen, im Beruf, im gesellschaftlichen Ansehen.

Nun sind vom Umfeld aufgedrängte Verhaltensweisen nichts Ungewöhnliches, ohne dass wir gleich annehmen müssten, wir seien nicht mehr frei in unserem Tun. Fast der gesamte Jahrgang von Jurastudenten geht zum teuren Repetitor, um sich dort auf das Examen vorzubereiten. Der freie Wille ist jedenfalls so lange nicht infrage gestellt, solange Ausweichstrategien möglich sind, der allgemeine Zwang sich also lediglich als vermeintlicher Zwang entpuppt und damit erheblich nachteilige Folgen nicht zwangsläufig eintreten.

Am Beispiel: Es laufen zwar alle Jurastudenten zum Repetitor, sie müssten es aber nicht tun. Diejenigen, die sich selbstständig auf das Examen vorbereiten, schneiden genauso gut oder schlecht ab, wie diejenigen, die dem allgemeinen Tross folgen. Beim Enhancement scheint es sich derzeit noch analog zu verhalten: Die Wirkungen der Psychopharmaka sind wohl eher vorsichtig einzuschätzen. Gleiche Ergebnisse lassen sich durch gesunde Ernährung, ausreichenden Schlaf etc. erzielen, auch Placebo-Effekte sind nicht auszuschließen. Der zwanghafte Griff zu den Schachteln beruht auf einem bloßen virtuellen Druck von außen. Die Konzeption der Willensfreiheit geht aber von einem aufgeklärten, verständigen Menschen aus und muss daher auf Aberglauben und falsche Hoffnungen keine Rücksicht nehmen. Und selbst eine Entscheidung in Drucksituationen führt nicht ohne Weiteres dazu, dass es sich um keine freie Willensentscheidung mehr handelt.

Auch im Prüfungsrecht kann ich als Prüfer mit den Hilfsmitteln leben, soweit nicht die eigentliche Prüfungsleistung wie Intelligenz, Wissen und Verstand manipuliert werden. Bei Müdigkeit oder Nervosität werden Nachteile ausgeglichen, die bei anderen Kandidaten, die besser schlafen können oder nervlich höhere Belastungen ertragen, keine Rolle spielen. Es findet ein Ausgleich natürlicher Defizite statt. Und diese Defizite sollten für die Prüfungsleistung als solche gerade irrelevant sein und nicht in die Bewertung einfließen. Die Güte der Leistung als solche bleibt gleich. Deshalb bleibt die unter Ritalin®-Einwirkung verfasste Klausur eine Leistung des Kandidaten. Sowohl in dessen Wahrnehmung wie in meiner Außenperspektive bleibt die Leistung echt, weil sie nicht erheblich vom Leistungsniveau ohne Hilfsmittel abweicht. Das Wissen und die methodischen Fähigkeiten erweitert Ritalin® nicht. Entscheidend wird sein, die unzulässige Manipulation, den Betrug, von der wohl akzeptablen Leistungsverstärkung, der bloßen Unterstützung, zu unterscheiden. Diese Grenze verschiebt sich ständig und ist Moden, Erfahrungen und Gewöhnungsprozessen unterworfen, also Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse.

Eine Parallele zum Doping ist erst dann zu ziehen, wenn die Chancengleichheit massiv gestört wird. Das könnte unter Umständen bei mündlichen Prüfungen oder auch bei Bewerbungsgesprächen eine Rolle spielen, wenn dort Schlüsselqualifikationen mit in die Bewertung eingehen. Eine aufgeputschte Aufmerksamkeit und Wachheit können durchaus auch Parameter wie Verhandlungsgeschick, Gesprächsführung, Schlagfertigkeit und Reaktionsvermögen in Stresssituationen usw. beeinflussen. Ob der Aspekt unlauterer Wettbewerbsvorteile aber überhaupt schon das Verbot des Sport-Dopings trägt, ist sehr umstritten. Gleiches gilt für einen Verstoß gegen das sportliche Ethos oder das Fairnessgebot. Beim Sport-Doping treten als Grund für die Strafbarkeit die gesundheitlichen Gefahren hinzu, die mit der Medikamenteneinnahme verbunden sind.

Bei staatlichen Prüfungen jedenfalls dürfte der Aspekt der Gewährleistung von Chancengleichheit ausreichen, um ein Verbot der Einnahme von Psychopharmaka zu rechtfertigen. Im öffentlich-rechtlichen Prüfungsverhältnis wird anders als beim privaten Sport der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG unmittelbar relevant. Anders als bei den Pillen für diesen Vortrag denken wir zudem nicht mehr ergebnisorientiert. Was sollten wir auch mit 160 richtigen Examenslösungen sinnvollerweise anfangen? Hier geht es primär um das Verfahren, den Weg hin zur Fähigkeit, eine gute Arbeit abzuliefern.

Nun wird man sich auch im Berufsleben mit anderen messen müssen. Freilich bewegen wir uns in diesem Sektor im Bereich der privaten Marktwirtschaft, die in unserer Wirtschaftsordnung von der Privatautonomie beherrscht wird. Unter den Gesichtspunkten der Herstellung von Chancengleichheit wären gesetzliche Eingriffe hier weitaus begründungsbedürftiger.

Würdeverletzung bei Einwilligung in den Eingriff

Zu klären ist nun, ob trotz prinzipiell denkbarer Einwilligung ein Eingriff in die Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG vorliegen könnte. Das wird zum Teil angenommen.

Die Schwierigkeit liegt darin, dem unbestimmten Begriff der Menschenwürde, einem Verfassungsrechtssatz von weitester Offenheit und umfassender Allgemeinheit, Konturen zu geben und den materiellen Inhalt der Menschenwürde zu bestimmen.

Eine abstrakte Definition gibt es nicht. Vielmehr muss in einer Gesamtwürdigung des potenziellen Rechtsträgers, seiner Situation und des möglichen Eingriffs bewertet werden, ob eine Verletzung der Menschenwürde anzunehmen ist. Die Bestimmung und Beurteilung des Verletzungsvorgangs folgt dem in Philosophie und Erkenntnistheorie anerkannten "negativen Prinzip", wonach unsere Erkenntnis beim Falsifizieren sehr viel sicherer ist, als wenn wir positiv sagen müssten, was die Menschenwürde ausmacht.

Die Rechtswissenschaft hat unterschiedliche Kriterien entwickelt, mit deren Hilfe der Menschenwürdeeingriff im konkreten Einzelfall festgestellt werden kann. Der populärste Weg geht dabei von der Objektformel des Staatsrechtlers Günter Dürig aus. Deutlich im Anklang an Immanuel Kant, dass der Mensch nicht "bloß als Mittel gebraucht werden kann, sondern ... jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden (muß)",[3] prägte Dürig die Formel, dass bei der Herabwürdigung des konkreten Menschen "zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe" eine Würdeverletzung vorliegt.[4] Dabei ist die Objektformel nur als Ausgangspunkt der Überlegungen zu verstehen. Damit der Maßstab nicht inhaltsleer bleibt und als Passepartout für subjektive Wertungen aller Art genutzt wird, muss hinzutreten, dass die Subjektqualität prinzipiell infrage gestellt wird oder in der Behandlung des Betroffenen eine Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seiner Personalität zukommt, zum Ausdruck kommt.

Schon aus der Objektformel ergeben sich Schwierigkeiten, und zwar in beiden denkbaren Konstellationen des Enhancements: in eigener Person und mittels eines Dritten.

Es ist wenig einsichtig, dass man sich selbst zum Objekt seiner Wünsche machen kann. Das wäre allenfalls konstruierbar, wenn man behaupten könnte, die Person P1 sei nach einer Hirnstimulation oder der Einnahme von Psychopharmaka nicht mehr sie selbst, sondern eine andere Person P2 geworden. Man könnte zwar noch begründen, dass auch die Würde der ja zum Zeitpunkt des Eingriffs noch gar nicht existenten Person P2 verletzt sein kann, weil schon vor der Existenz von Leben eine prävitale Würde durchaus begründbar erscheint. Aber dass P1 und P2 nicht identisch wären, ist so wenig einleuchtend wie die Behauptung, mit der Herztransplantation oder in der Sterbephase werde man zu einem anderen Ich. In der Konzeption der Persönlichkeit durch die Rechtsordnung wird es als Teil des Selbstbestimmungsrechtes verstanden, sich auch selbst zu verändern. Ist die Veränderung Ergebnis des eigenen Willens, bleibt die Authentizität gewahrt.

Nimmt nun ein Dritter, etwa der Arzt, den Eingriff vor, wird ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG nur in Betracht kommen, wenn über jemandes Körper ohne dessen Einwilligung verfügt worden ist. Stimmt dagegen der Patient hinreichend aufgeklärt zu, werden dessen Rechte nicht verletzt. Diesem Argument lässt sich auch nicht mit der Überlegung begegnen, dass die in Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Würde des Menschen nicht dessen Verfügung unterläge. Denn wie oftmals konstituiert sich auch hier der Würdeverstoß erst dadurch, dass gegen den freien Willen der Person eine Einwirkung in deren Sphäre erfolgt: Der medizinische Eingriff ist keine Würdeverletzung per se, sondern erst dann und nur dadurch, dass er beispielsweise bei medizinischen Zwangsversuchen den Willen der Betroffenen nicht achtet.

Nun lassen andere diesen Aspekt außer Acht, weil sie annehmen, dass bei Eingriffen in das Gehirn etwas Unverfügbares betroffen sei. Es spiele daher keine Rolle, ob eine Einwilligung vorliege. Diese wäre unbeachtlich, so wie es § 228 StGB bei sittenwidrigen Eingriffen in den Körper vorsieht, weil die Unverletzlichkeit des Menschen tangiert sei, weil auf das Humanum schlechthin zugegriffen werde.

Zuzugeben ist, dass das Gehirn nicht nur ein besonderes, sondern das genuin wichtigste Organ des Lebewesens "Mensch" ist. Denn es stellt das zentrale Steuerungs-, Wahrnehmungs- und Integrationsorgan des Organismus mit diesen Funktionen für den Gesamtorganismus dar. Die in aufsteigenden Regelkreisen verarbeiteten Interaktionen von Gehirn und Körper führen zu einem elementaren Lebensgefühl, zu einem Kernbewusstsein. Auf diesem Kernbewusstsein baut das personale Bewusstsein und das Wissen und Empfinden vom "Ich" mit den Leibgefühlen der Affekte und Emotionen auf. Das Gehirn ist Quelle des Selbstbewusstseins, des Denkens und Fühlens. Es ist zugleich Ort unseres Erfahrungsgedächtnisses und gibt unsere Entscheidungen vor. Es weist einen biografisch-geschichtlichen Aspekt, beginnend mit dem Erfahrbaren im Mutterleib, auf, weil es immerfort neue Erfahrungen in offenen Schleifen in die Gedächtnisstrukturen einbauen kann. Damit ist das Gehirn zudem Organ unserer Möglichkeiten.

Die zentrale Bedeutung des Gehirns zeigt sich etwa darin, dass dessen Absterben für die Medizin den Zeitpunkt des Lebensendes markiert. Das Absterben des Gesamthirns, der sogenannte Hirntod, beendet die Existenz des Organismus "Mensch" als physisch-geistige Einheit, als integrationsfähigen Organismus; irreversibel ist die Möglichkeit von Wahrnehmung, zur Bildung von Bewusstsein und zu Handlungen verlorengegangen.

Diese Erkenntnis macht das Gehirn aber nicht vor jeglicher Beeinflussung sakrosankt. Schon wissenschaftsgeschichtlich zeigt sich, dass entsprechende Bedenken keine lange Halbwertzeit haben. Nach der ersten Herzoperation 1896 durch den Frankfurter Chirurgen Ludwig Rehn wurde zum Beispiel heftig darüber gestritten, ob Rehn damit nicht in die Humansubstanz des Menschen eingegriffen hatte und ob derartige Operationen verboten sein müssten.

Oft wird in dieser Debatte ein berühmtes Gedankenexperiment zur Evolution angeführt. Stellen wir uns unsere Mutter und deren Mutter und deren Mutter usw. vor, bis wir uns in einer Zeit heute vor sechs Millionen Jahren befinden. Dann handelt es sich bei der Mutter um einen Affen. Stellen wir uns nun weiter vor, die Affen hätten vor sechs Millionen Jahren beschlossen, eine Optimierung auch des Gehirns nicht zuzulassen, weil damit in die Unverletzlichkeit der Spezies "Affen" eingegriffen worden wäre, säßen wir heute noch auf den Bäumen. Ein Verbot mentaler Optimierung richte sich also gegen die Evolution selbst, so wird gesagt. Der Mensch hat Möglichkeiten, seinen Körper wie seine Umwelt zu optimieren, immer wahrgenommen und wird es künftig tun. Nun zielt das Gedankenexperiment auf die Diskussion, die um die Keimbahntherapie geführt wurde. Die Selbstmedikamentation beim Neuro-Enhancement hat eine weniger eingreifende Intensität. Aber das Experiment führt vor Augen, dass Optimierungen prinzipiell nicht per se unzulässig sein können.

Für einen Würdeverstoß scheint maßgebend zu sein, ob bei den neuronalen Optimierungen ein Dritter den Menschen steuert und determiniert. Erst wenn unser Denken das Ergebnis fremder Wünsche und Absichten ist, lässt sich ein Verstoß gegen die Menschenwürde annehmen. Das wäre etwa dann der Fall, wenn sich jemand in ferner Zukunft durch neuronale Stimulation über Fernbedienungen von Dritten fernsteuern ließe und eine moderne Form der Sklaverei einginge.

Weitere Einwände gegen freiwilliges Enhancement

Der bisherige Befund lässt Enhancement zu, weil der Betroffene in dieses wirksam einwilligen kann. Als letzte Grenze bleibt die Frage, ob Enhancement medizinisch vertretbar erscheint. Die Risiko-Nutzen-Bilanz wird somit zum Nadelöhr für eine mögliche Akzeptanz.

Bei der Erörterung interessiert weniger die Nutzenseite, die gut begründbar wäre. Neben dem kompetitiven Nutzen können unbestreitbar akzeptable Folgen eintreten, wie Beförderung von Lebensfreude und Selbstbewusstsein. Es lassen sich neben persönlichen auch soziale Vorteile ausmachen.

Entscheidend dürften die Gefahren sein, die dann möglicherweise auch den Gesetzgeber zum Einschreiten legitimierten. Es wird in ein Organ eingegriffen, welches zu den komplexesten Materien gehört, die die Evolution entwickelt hat. Sind gravierende Verwerfungen zu befürchten, wenn an diesem Gebilde manipuliert wird?

Beim Einsatz von Psychopharmaka scheint mir diese Befürchtung überzogen zu sein. Immerhin sind diese - freilich an Erkrankten - hinreichend getestet worden, ohne dass sich Verwerfungen ergeben hätten. Bei neueren Methoden der Hirnsteuerung ist diese Frage offener. Hier werden wir auf die Antworten der Neurowissenschaften angewiesen sein. Allerdings relativiert sich der Einwand dadurch, dass keine irreversiblen Schäden zu erwarten sind, die über den jeweils Einzelnen, der sich neuronal hat behandeln lassen, hinausgehen. Etwaige Fehlfunktionen werden nicht an die folgenden Generationen weitergereicht. Daher sind Interventionen in neuronale Prozesse den denkbaren humangenetischen Manipulationen im Rahmen etwa der Keimbahn-Gentherapie nicht gleichzusetzen. Die Gefahren müssen schon erheblich sein, um das Verdikt ärztlicher Unvertretbarkeit zu tragen.

Enhancement durch Dritte ohne Einwilligung

Abschließend wäre zu fragen, wie die Rechtslage zu bewerten ist, wenn - was eindeutig inakzeptabel erscheint - gegen den Willen des Betroffenen neuronale Prozesse fremdgesteuert werden.

Der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel meint in diesem Kontext, der Körperverletzungstatbestand weise eine Regelungslücke auf. Denn die bloße Veränderung psychischer Zustände sei nicht pathologisch und daher schon keine Körperverletzung.[5] Zunächst ist festzuhalten, dass im Rahmen des § 223 StGB eine Körperverletzung nach Auffassung von Rechtsprechung und herrschender Meinung nur dann vorliegt, wenn die psychischen Einwirkungen den Geschädigten in einen pathologischen, körperlich objektivierbaren Zustand versetzen. Eine üble, unangemessene Behandlung stellen sie ebenfalls nicht dar, weil bei Eingriffen ins Gehirn mit der Nanotechnik die Erheblichkeitsschwelle nicht erreicht werde.

Möglicherweise ist die Auslegung der ständigen Rechtsprechung zu überdenken. Freilich wird auch dort angenommen, dass etwa das Verabreichen von bewusstseinstrübenden Substanzen ausreicht, um den Tatbestand der Körperverletzung zu erfüllen. Wenn die Berichte der Hirnforschung stimmen, dass jede Gemütsregung in einer Veränderung der neuronalen Verknüpfungen oder Zustände zum Ausdruck kommt, ließe sich durchaus die Veränderung des neuronalen Bildes als nachteilige Veränderung eines Normalzustandes begreifen, und diejenigen könnten Recht haben, die sich entgegen der herrschenden Meinung schon immer für die Berücksichtigung auch seelischer Störungen ausgesprochen haben. Das führt nun in eine sehr spezifische, fachwissenschaftliche Debatte, die an dieser Stelle nicht weiterzuspinnen ist. Bei invasiven Methoden, wie der Einpflanzung von Glasfaserlichtleitern ins Gehirn mittels Nanorobotern, um mittels Lichtsignalen die kognitiven oder emotionalen Fähigkeiten zu verbessern, scheint aber auch § 223 StGB einschlägig zu sein.

Aber selbst wenn das Strafrecht aufgrund seines fragmentarischen Charakters keinen Straftatbestand vorhalten sollte, bleibt niemand vor skrupulösen Ärzten schutzlos. Diese sind aufgrund standesrechtlicher Vorgaben gebunden, Patienten niemals ohne deren Einwilligung zu behandeln. Es gilt der Grundsatz: Voluntas aegroti suprema lex.[6]

Jenseits des Standesrechts greift das zivile Haftungsrecht, hier § 823 Abs. 1 BGB mit der Konsequenz von Schadensersatz- und Schmerzensgeldzahlungen. § 823 BGB ist in seinem Anwendungsbereich weiter als § 223 StGB. "Schutzgut des § 823 I BGB ist nicht die Materie, sondern das Seins- und Bestimmungsfeld der Persönlichkeit, das in der körperlichen Befindlichkeit materialisiert ist".[7] Im Anwendungsbereich des § 823 BGB umfasst die Gesundheit also neben der physischen grundsätzlich ebenso die psychische Unversehrtheit. Eine Erheblichkeitsschwelle für (physische) Körper- und Gesundheitsverletzungen wie bei § 223 ist daher nicht zwingend. Sobald dem Opfer durch eine Handlung ein Schaden an Körper oder Gesundheit zugefügt wurde, ist dieser ersatzfähig, auch wenn er gering ist. Um die Haftung nicht zu weit auszudehnen, werden auch hier Grenzen gezogen. So sind übertriebene Reaktionen des Betroffenen im Falle von sogenannten Bagatellen nicht ersatzfähig, ebenso wenig psychische Schäden, die auf dem allgemeinen Lebensrisiko und nicht auf einer konkreten Verletzung beruhen. Fehlt es gänzlich an einer Gesundheitsbeschädigung, bleibt immer noch ein Schmerzensgeldanspruch, wenn dem Betroffenen ein neuronaler Eingriff aufgezwungen wird, weil ohne dessen Einwilligung das allgemeine Persönlichkeitsrecht verletzt wurde.


Fazit

Wir haben gesehen, dass das Recht weitgehend indifferent auf die Fragen nach den Eingriffen ins Gehirn und das "Gehirn-Doping" antwortet. Es ist hierauf nicht vorbereitet. Muss uns das sorgen? Das Recht habe, so der Schweizer Rechtsphilosoph Hans Ryffel, gegenüber der Ethik den Vorzug, das jedenfalls vorläufig wirklich Maßgebende zu bestimmen.[8] Ich sehe für unsere Debatte den großen Vorzug in der Ethik gerade darin, dass die Rechtsordnung noch keine verbindlichen - und damit für oft längere Zeit auch endgültigen - Schlüsse gezogen hat. Mir scheint es derzeit vorschnell und verfrüht, gesetzliche Regelungen zu fordern, wie es zum Teil vorgeschlagen wird. Die Vergangenheit lehrt uns, dass zu schnelle gesetzliche Regulierungen moderner Technologien auch kontraproduktiv sein können.

Zunächst ist die ethische Debatte fortzusetzen und zu vertiefen. Was wollen wir? Welche Argumente können gesamtgesellschaftlich überzeugen? Für diese Debatte seien zwei Anregungen gestattet:

1. Moderne Gesetzgebungslehre bindet privaten Sachverstand in die Regulierung komplexer Sachverhalte durch Expertenkomitees ein. Das erhöht die Akzeptanz der beteiligten Kreise. Es kann schneller auf neue Entwicklungen reagiert werden (private governance). Hier könnte auf Ebene der - insbesondere - ärztlichen Selbstregulierung etwa im Rahmen der Bundesärztekammer Regulierungsbedarf ausgelotet und befriedigt werden.

2. Medizinisch relevante Sachverhalte sind global und sollten daher auch international möglichst einheitlich behandelt werden. Dass dies möglich ist, zeigen die Beispiele des Dopings im Sport und der Versuche am Menschen, die in der weltweit geachteten Deklaration von Helsinki/Tokio reguliert wurden. In unserem Kontext könnte der Weltärztebund als transstaatliches Gremium aktiv werden.


Henning Rosenau, geb. 1964, Prof. Dr. jur., Jurist, seit 2006 ordentliches Mitglied der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer, seit 2006 Universitätsprofessor an der Universität Augsburg für Deutsches, Europäisches und Internationales Straf- und Strafprozessrecht, Medizin- und Biorecht, seit 2009 Geschäftsführender Direktor des Instituts für Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht und Studiendekan der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg.


Anmerkungen

[1] Das Wohl des Patienten ist oberstes Gebot.
[2] Kant 1785, A 79 (S. 69).
[3] Kant 1785, A 67 (S. 61).
[4] Dürig 1956, S. 127.
[5] Referat auf der deutschen Strafrechtslehrertagung 2009 in Hamburg.
[6] Der Wille des Patienten ist oberstes Gebot.
[7] BGHZ 124, 52, 54.
[8] Ryffel 1969, S. 231 f. und 344 ff.


Literatur

Dürig, Günter (1956): Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde. In: Archiv für öffentliches Recht, 81, S. 117-157.

Kant, Immanuel (1785): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Berlin; hrsg. von Weischedel, Werke, Bd. 4, Darmstadt 1956.

Ryffel, Hans (1969): Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie. Neuwied, Berlin.


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INHALT

Vorwort von Christiane Woopen
Barbara Wild - Hirnforschung gestern und heute
John-Dylan Haynes - Bilder des Gehirns als Bilder des Denkens und Fühlens
Tade Matthias Spranger - Das gläserne Gehirn? Rechtliche Probleme bildgebender Verfahren
Isabella Heuser - Psychopharmaka zur Leistungsverbesserung
Thomas E. Schläpfer - Schnittstelle Mensch/Maschine: Tiefe Hirnstimulation
Henning Rosenau - Steuerung des zentralen Steuerungsorgans - Rechtsfragen bei Eingriffen in das Gehirn
Ludger Honnefelder - Die ethische Dimension moderner Hirnforschung
Dietmar Mieth - Der (gehirnlich) steuerbare Mensch - Ethische Aspekte
Wolfgang van den Daele - Thesen zur ethischen Debatte um das Neuro-Enhancement


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Quelle:
Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009
Der steuerbare Mensch? - Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn
© 2009 - Seite 69 - 82
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Vorsitzender: Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
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Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2011