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ETHIK/939: Migration und Gesundheit (9) Versorgung zwischen Solidarität und Eigenverantwortung (Ethikrat)


Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2010
Migration und Gesundheit - Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für die medizinische Versorgung

Die medizinische Versorgung von Migrantinnen und Migranten zwischen Solidarität und Eigenverantwortung

Von Ulrike Kostka


Die medizinische Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund wurde bereits aus den unterschiedlichsten Perspektiven diskutiert. Ich möchte diese Thematik nun aus sozial- und politisch-ethischer Sicht beleuchten. Dabei werde ich selbst zwei Standpunkte einnehmen: als theologische Ethikerin und als Abteilungsleiterin für theologische und verbandliche Grundlagen im Deutschen Caritasverband. Mir geht es also um die Verbindung der ethischen Analyse und der konkreten Praxis auf verschiedenen Ebenen.

Mein Anliegen ist dabei, die medizinische Versorgung von Migrantinnen und Migranten aus einer mehrdimensionalen ethischen Perspektive zu betrachten und mich nicht nur auf eine rein sozialethische Betrachtung zu beschränken. Denn die sozialethische Perspektive steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit folgenden ethischen Reflexionsebenen und Akteuren: dem Individuum, den professionellen Akteuren, den relevanten organisationalen Akteuren, wie zum Beispiel den Krankenhäusern, Kostenträgern und sozialen Diensten, der Gesundheitssystemgestaltung sowie der gesellschaftlichen Ebene.[1] Die globale Ebene lasse ich aus Komplexitätsgründen weg.

Die mehrdimensionale ethische Perspektive soll dazu dienen, eine ethische Kriteriologie für eine milieu- und kultursensible Gestaltung des Gesundheitswesens zu entwickeln.[2]


Vorbemerkungen

Genauso, wie in den letzten Jahren allgemein akzeptiert wurde, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, wurde in den letzten Jahrzehnten die fundamentale Bedeutung des Gutes Gesundheitsversorgung anerkannt. Gesundheitsversorgung ist ein existenzielles Gut. Es ist die Voraussetzung für die Entfaltung anderer grundlegender Fähigkeiten. Jedoch kann sich der Einzelne dieses Gut nicht selbst sicherstellen. Er ist auf die Gewährleistung durch die Gesellschaft angewiesen. Ohne an dieser Stelle auf die internationale Debatte über ein Menschenrecht auf Gesundheitsversorgung einzugehen, besteht aus meiner Sicht ein Menschenrecht auf Gesundheitsversorgung. Die entscheidende Frage ist, welcher Umfang an Gesundheitsversorgung dem Einzelnen zu gewähren ist. Diese Frage stellt sich gerade auch für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland.[3]

Gesundheit ist zugleich etwas, was nicht als das Fehlen von Krankheit definiert werden kann. Gesundheit ist ein umfassendes Phänomen, das weder rein durch medizinische Maßnahmen, noch durch soziale Umstände oder durch genetische Faktoren produziert werden kann. Entsprechend breit und vielfältig sind auch die unterschiedlichen Gesundheits- und auch Krankheitsbegriffe.[4]

Ähnliches gilt auch für das Phänomen Migration. Jede Definition von Migration ist begrenzt und deckt nur Facetten dieses Phänomens und vor allem der Lebenswirklichkeiten der Menschen ab. Umso interessanter ist es, dass das Thema Migration und Gesundheit so an öffentlichem und politischem Interesse gewonnen hat. Sicherlich ist dies auch ein Kennzeichen, dass die Herausforderungen rund um Integration und Migration mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und Politik gerückt sind. Bis jetzt ist jedoch das Bewusstsein nicht genügend ausgeprägt, dass Migration nicht nur ein spezifisches Zielgruppenthema ist, sondern ein grundsätzliches Merkmal unserer Gesellschaft. Denn immerhin haben fast 20 Prozent der Bevölkerung eine Migrationsgeschichte - jeder Fünfte unter uns.

Eigenverantwortung und Solidarität - diese Spannung wurde mir aufgegeben. Schauen wir im Folgenden auf die einzelnen Ebenen einer mehrdimensionalen ethischen Betrachtung.


Die individualethische Perspektive

Ohne Gesundheitsversorgung geht nichts - wie wir aus vielen unterversorgten Ländern wissen. Das Gut Gesundheitsversorgung ist per se ein Gut, das Solidarität erfordert. Denn alleine kann ich es mir nicht sicherstellen - außer wenn ich zu den wenigen Milliardären zähle. Jedoch hat das Gut Gesundheitsversorgung nicht nur diese sozialethische Seite. Es hat auch eine individualethische Seite. Denn Gesundheit ist eng verbunden mit meiner eigenen Sicht auf meinen Leib, mit meiner Beziehung zu mir als Subjekt. In der Subjekthaftigkeit ist jeder von uns konfrontiert mit seinen eigenen leiblichen Grenzen - einschließlich des eigenen Beginns und Endes des Lebens. Grenzen meines Leibes, auch Krankheiten erfahre ich als Begrenzungen meiner Handlungs- und auch Entscheidungsfähigkeit. Gleichwohl erfährt jeder Mensch, dass er fähig ist, Einfluss auf seine Leiblichkeit und seine Gesundheit zu nehmen, zum Beispiel durch den Lebensstil, durch die eigene Sorge für den Leib - einschließlich der Seele. Aus der Beziehung des Subjektes zu sich selbst resultiert auch die Verantwortung für sich selbst. Meiner Meinung nach besser geeignet ist der Begriff der Selbstsorge.

Denn sie beschreibt diese Verantwortung gegenüber mir selbst als kontinuierlichen Prozess, der spätestens in der Aufmerksamkeit für mich selbst, für meine eigenen Bedürfnisse beginnt. Diese Selbstsorge kann ich weder an Ärzte, Gesundheitspolitiker oder die Gesellschaft delegieren. Gleichwohl ist die Selbstsorge etwas, was ich lernen muss, wozu jeder befähigt werden muss. Diese Befähigung beginnt im Elternhaus, findet statt im Kindergarten und in der Schule, in Peergroups, im Sportverein, in der Gemeinde und wird durch die Medien und gesellschaftliche Trends beeinflusst. Die Befähigung zur Selbstsorge ist ein entscheidender Faktor, um für die eigene Gesundheit und die Gesundheit anderer Verantwortung zu übernehmen. Befähigungsangebote müssen so angelegt sein, dass sie Menschen in ihrer kulturellen Vielfalt erreichen. Eltern-Kind-Angebote zum Beispiel sollten nicht nur in adretten Familienbildungsstätten stattfinden, sondern dort, wo sich Familien sowieso begegnen wie zum Beispiel im Kindergarten. Deswegen ist der Ausbau der Kindertageseinrichtungen zu Familienzentren ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Damit einhergehen sollte dabei auch die interkulturelle Öffnung dieser Einrichtungen.

Die persönliche Sicht auf Krankheit und Gesundheit wird auch durch kulturelle Faktoren geprägt. Jeder Mensch hat im Sinne seiner Selbstbestimmung ein Recht auf seine kulturelle Sicht auf Krankheit und Gesundheit. Dies gilt es zu respektieren. Gleichwohl endet dieses Recht natürlich dort, wo Rechte anderer Personen beginnen. Daraus ergibt sich auch die Pflicht, zum Beispiel mit Eltern zu arbeiten, wenn ihre kulturelle Sicht auf Krankheit und Gesundheit das Wohl ihres Kindes gefährdet.


Die professionsethische Ebene

Professionelle Akteure im Gesundheitswesen - damit meine ich zum Beispiel Ärztinnen und Ärzte, Pflegende sowie Fachleute der sozialen Arbeit - haben jeden Tag mit Menschen mit Migrationshintergrund zu tun. Für viele ist das keine Besonderheit, sondern Alltag. Für viele ist es selbstverständlich, dass diese Patienten nicht auf ihren Migrationshintergrund reduziert werden dürfen - auch nicht im Hinblick auf ihre Krankheit und Gesundheit. Michael Knipper und Yasar Bilgin stellen dazu fest: "Im medizinischen Kontext kann die Kategorie Migration überall dort sinnvoll verwendet werden, wo ein Zusammenhang zwischen besonderen Krankheitsrisiken, Versorgungsproblemen und/oder konkreten Aspekten des Migrationshintergrunds plausibel erscheint."[5] Eine stereotype Sichtweise auf den Patienten mit Migrationshintergrund als den Migranten widerspricht seiner Individualität und bedeutet einen ethisch nicht zu rechtfertigen Reduktionismus.

Geboten hingegen ist eine persönliche Zuwendung zum Patienten, die seine Kultur berücksichtigt, wie immer diese geprägt ist. Eine kultursensible Pflege und Medizin kann sich demnach nicht auf den Umgang mit Migrantinnen und Migranten beschränken, sondern muss die Kultur jeder Person oder Gruppe respektieren. Das kann auch eine Person sein, die aus weltanschaulichen Gründen Medikamente ablehnt, deren Entwicklung Tierversuche erfordert haben.

Professionelle Akteure im Gesundheitswesen müssen dementsprechend befähigt werden, eine solche kultursensible Pflege und Medizin durchzuführen und interkulturell sprachfähig zu werden. Gleichwohl gelten Patientenrechte nicht unbegrenzt. Auch die Patienten und ihre Angehörigen haben die Pflicht, dem anderen mit Respekt zu begegnen und seine Kultur zu respektieren. Wenn Patienten die Betreuung durch Pflegende oder Ärzte eines bestimmten Geschlechts ablehnen, besteht kein unbeschränkter Anspruch auf die Betreuung durch das gewünschte Geschlecht. Dieser muss ohne negative Folgen für die professionellen Akteure oder andere Patienten realisierbar sein.

Professionelle Akteure dürfen nicht rechtlich belangt werden, wenn sie Patienten ohne legalen Aufenthaltsstatus bei medizinischer Notwendigkeit helfen. Aus professionsethischer Sicht kann die Hilfe in Not nicht vom Aufenthaltsstatus abhängig gemacht werden. Hier ist die Verwaltungsvorschrift ein Schritt in die richtige Richtung.


Die organisationsethische Ebene

Krankenhäuser, Praxen und andere Leistungserbringer im Gesundheitswesen müssen nach ihren Möglichkeiten die organisationalen Rahmenbedingungen sicherstellen, damit Menschen mit Migrationshintergrund den gleichen Zugang zu den Angeboten finden. Entscheidend ist dabei oft die Unterstützung bei Sprach- und Kommunikationsproblemen. Für viele Gesundheitseinrichtungen ist der Einsatz von Übersetzern - oft durch das eigene Personal - selbstverständlich. Sehr erfolgreich sind Modelle wie das in Mannheim praktizierte, wo neben Dolmetschern aus den eigenen Reihen auch Kulturdolmetscher im Krankenhaus eingesetzt werden. Die Theresienkrankenhaus und St. Hedwig-Klinik GmbH hat einen engen Kontakt zur Einsatzzentrale der Kulturdolmetscher des Caritasverbandes Mannheim. Die Kulturdolmetscher können jederzeit gegen Vergütung gerufen werden, um Menschen aus anderen Herkunftsländern bei Krankenhausaufenthalten zu begleiten. Die Qualifizierung von Menschen mit Migrationshintergrund zu Kulturdolmetschern oder auch Alltagsbegleitern für Pflegebedürftige kann auch ein wichtiger Schritt sein für den Zugang zum Ersten Arbeitsmarkt. Denn solche Personen werden zunehmend gerne von sozialen Einrichtungen und anderen Organisationen eingestellt. Es kann auch der Einstieg für einen sozialen Beruf sein. Wichtig ist es auch, Menschen mit Migrationshintergrund für die Berufe im Gesundheitswesen zu gewinnen.

Viele Gesundheitseinrichtungen sind jedoch überfordert, die notwendige Barrierefreiheit für Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern allein herzustellen. Im Sinne des Patienten- und auch des Mitarbeiterwohls sind sie daher verpflichtet, sich eng mit Migrationsdiensten, anderen sozialen Diensten und Migrantenselbsthilfeorganisationen zu vernetzen. Für die sozialen Dienste, wie zum Beispiel die Migrationsdienste, die allgemeine Sozialberatung und die Erziehungsberatung, besteht gleichzeitig die Pflicht, auch gesundheitliche Belange der Klienten mit Migrationshintergrund wie auch bei anderen Klientengruppen in den Blick zu nehmen. Problematisch ist nach wie vor, dass Menschen mit Migrationshintergrund von sozialen Diensten häufig vorwiegend durch die "Migrationsbrille" und zu wenig in ihrer individuellen Situation gesehen werden. Deshalb ist ein entscheidendes Ziel die interkulturelle Öffnung aller sozialen Dienste und nicht die alleinige Delegation an den Migrationsfachdienst. Dazu zählt auch, dass die sozialen Beratungsstellen Menschen aus anderen Ländern qualifiziert beraten können müssen, welche Rechte sie im Gesundheitswesen haben. Zum Teil besteht bei den Beratungsdiensten nicht immer ausreichend Kenntnis, welche Rechte zum Beispiel Bürger aus neuen EU-Ländern in Deutschland haben oder auch nicht. Hier besteht sicherlich noch Qualifizierungsbedarf auch angesichts einer nicht immer einfach zu durchschauenden Rechtslage.

Die Hilfe für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus darf für Gesundheitseinrichtungen nicht zum finanziellen Risiko werden. Ich halte das Nothilfegebot für die Menschen in Illegalität für nicht ausreichend. Ethisch geboten ist meiner Ansicht nach eine umfassendere und legale medizinische Versorgung, die auch präventiv wirkt - insbesondere für Kinder und Jugendliche.


Die Ebene der Gesundheitssystemgestaltung

Menschen mit Migrationshintergrund haben keinen Sonderstatus als Bürgerinnen und Bürger. Sie haben die gleichen Rechte und Pflichten wie jedermann. Dies bedeutet jedoch, dass ihr Zugang zum Gesundheitswesen genauso gesichert werden muss wie bei anderen Menschen. Oberstes Kriterium für das Gesundheitswesen ist dabei die Bedarfs- und Befähigungsgerechtigkeit und die selbstbestimmte Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern im Gesundheitswesen. Daraus zu schließen ist, dass für Menschen mit Migrationshintergrund keine Sonderversorgungsstrukturen im Gesundheitswesen zu schaffen sind. Dadurch würden Parallelwelten geschaffen werden mit der Gefahr der Gettoisierung und Benachteiligung.[6] Die bestehenden Versorgungsstrukturen müssen die migrationsspezifischen Bedarfe berücksichtigen, soweit sie bezogen auf Krankheit und Gesundheit eine Rolle spielen. Menschen mit Migrationshintergrund müssen, soweit sie aufgrund ihrer persönlichen Situation nicht in der Lage sind, ihre Rechte im Gesundheitswesen zu kennen und zu nutzen, in der Wahrnehmung ihrer Rechte gestärkt werden. Angesichts von impliziten und noch immer von politischer Seite tabuisierten Rationierungsphänomenen im deutschen Gesundheitswesen besteht die Gefahr, dass Menschen mit eingeschränkten Zugangsmöglichkeiten aufgrund ihrer kommunikativen Möglichkeiten, ihres Bildungs- oder Gesundheitszustandes, besonders schnell zu Rationierungsopfern werden. Solchen Tendenzen sind durch eine Offenlegung von Rationierungserscheinungen und einer Enttabuisierung der Debatte entgegenzuwirken. Problematisch sehe ich in diesem Zusammenhang die Einrichtung von "Medizintafeln", medizinischen Basisdiensten, da sie auf signifikante Versorgungslücken hinweisen. Der Deutsche Ethikrat sollte aus meiner Sicht für einen öffentlichen Diskurs beziehungsweise Konsultationsprozess zur zukünftigen Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen eintreten, wo auch Themen wie Rationierung und Prioritätensetzung nicht tabuisiert werden.[7]

Menschen mit Migrationshintergrund müssen die Möglichkeit zur Beteiligung an politischen Prozessen zur Gestaltung des Gesundheitswesens haben (Beteiligungsgerechtigkeit).

Die Priorität unseres nach wie vor stark kurativ ausgerichteten Gesundheitswesens sollte aus ethischer Sicht die Gesundheitsprävention sein. Einen umfassenden Ansatz dafür bietet die soziale Gesundheit. "Gesundheit und Krankheit sind danach nicht allein auf das Individuum zu beziehen, sondern ihre materiellen, kulturellen und gesellschaftlichen Ursachen und Rahmenbedingungen sind vorrangig zu betrachten."[8] Im Vordergrund der Prävention stehen dann nicht Raucherentwöhnungskurse, sondern die "Aktivierung der Ressourcen und sozialen Beziehungen im Sinne der Gesundheitsförderung sowie auf sozialer Unterstützung zur Alltagsbewältigung"[9] im Sozialraum. Dabei geht es auch um die Stiftung von Solidarität im Nahraum zwischen Menschen unterschie dlicher Herkunft. Dies kann die nachbarschaftliche Unterstützung von pflegenden Angehörigen sein, die Organisation einer Kinderfreizeit mit vielen Bewegungsangeboten oder auch die Förderung des ehrenamtlichen Engagements im Stadtteil mit dem Ziel der Sinn- und Solidaritätsstiftung. Initiatoren können Vereine, Bürgerbüros, soziale Einrichtungen, Bildungseinrichtungen, Pfarrgemeinden, Migrantenselbstorganisationen und viele Akteure mehr sein. Gesundheitseinrichtungen können sich in solche Netzwerke einbringen und Räume sowie Fachkompetenz und Ansprechpartner zur Verfügung stellen. Eine solche Initiative für soziale Gesundheit kann gesundheitliche Problemlagen und Versorgungslücken aufdecken und niederschwellige Angebote schaffen. Solche Angebote sollten auf der Prioritätenliste der Kommunen und der anderen staatlichen Ebenen weit nach oben rücken. Für eine solche Prioritätensetzung sollte auch der Deutsche Ethikrat eintreten.


Die sozialethische Perspektive

Solidarität und Eigenverantwortung hängen eng zusammen. So, wie jeder Selbstsorge für seine Gesundheit wahrzunehmen hat, hat jeder auch die Pflicht, seinen Beitrag nach seinen Möglichkeiten für die solidarisch finanzierte Gesundheitsversorgung zu leisten. Nach unserem jetzigen Modell ist die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gekoppelt an die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge. Eine hohe Arbeitslosigkeit belastet die GKV-Finanzierung. Das Risiko, arbeitslos zu sein, ist für gering qualifizierte Menschen viermal so hoch wie bei Akademikern. Jugendliche mit Migrationshintergrund verlassen proportional besonders häufig die Schule ohne Abschluss. Die Ursachen dafür sind vielfältig und häufig vor allem in Armut und Benachteiligung begründet. Die Risiken sind langfristig Arbeitslosigkeit und soziale Benachteiligung.

Investitionen in Bildungsgerechtigkeit sind eine Investition auch in die Finanzierungssysteme des Gesundheitswesens. Dies gilt auch für den Zusammenhang zwischen Bildungsstand und Gesundheit. Die gesundheitlichen Belastungen von bildungsfernen Personen sind deutlich höher als bei bildungsnahen Personen. Deswegen sind bessere Bildungschancen ein wesentlicher Beitrag zur Gesundheit von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.

Diese Zusammenhänge zeigen auch, dass das Thema Migration und Gesundheit nicht allein aus der Perspektive des Gesundheitswesens und der Gesundheitspolitik gesehen werden kann. Das Gesundheitswesen könnte noch so gut mit Ressourcen ausgestattet werden, es wird diese Zusammenhänge zwischen Armut, Bildung, Gesundheit und Benachteiligung nur begrenzt verändern. Im Gegenteil: Das Gesundheitswesen und seine Akteure sind häufig Auffangbecken für soziale Nöte von Menschen, die auch durch eine oder im Zusammenhang mit einer Migrationsgeschichte ausgelöst sein können - sei es Einsamkeit, Arbeitslosigkeit, fehlende Beheimatung oder das Risiko, abgeschoben zu werden. Da hilft keine Medizin, sie kann höchstens Symptome lindern. Es besteht im Gegenteil sogar die Gefahr, dass solche Nöte medikalisiert werden. Deswegen zum Schluss mein Plädoyer für eine Demedikalisierung von Lebenslagen - auch eines Lebens mit Migrationsbiografie.

So wichtig das Thema Migration und Gesundheit ist, es darf nicht einseitig aus medizinischer Sicht betrachtet werden, sondern erfordert einen übergreifenden Ansatz im Sinne der Verhältnisprävention. Dazu braucht es eine Zusammenarbeit aller relevanten Ministerien, der Migrantenorganisationen, Wohlfahrtsverbände, Kirchen und anderen gesellschaftlichen Akteure. Solidarität und Eigenverantwortung lassen sich auch im Blick auf Migration und Gesundheit nicht gegeneinander ausspielen. Sie stehen in einer fruchtbaren Spannung. Zu beidem - Solidarität oder Selbstsorge - müssen Menschen befähigt werden. Dafür tragen wir alle Verantwortung!


Ulrike Kostka, geb. 1971, PD Dr. theol. habil., Moraltheologin, seit 2005 Privatdozentin im Fach Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster, Leiterin der Abteilung verbandliche und theologische Grundlagen und des Präsidenten- und Vorstandsbüros des Deutschen Caritasverbandes in Freiburg.


Anmerkungen

[1] Zum Modell einer mehrdimensionalen Ethik siehe Kostka 2008.

[2] Die Migranten-Sinusmilieu-Studie zeigt die Heterogenität dieses Milieus. Vgl. Becker 2009; Sinus Sociovision 2008. Zum Zugang zu sozialen Diensten vgl. Vorhoff 2009. Weitere Informationen siehe auch online im Internet: http://www.caritas.de/sinusmigranten [16.9.2010].

[3] Vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte 2008.

[4] Vgl. Kostka 2000.

[5] Knipper/Bilgin 2010, A78. Vgl. Knipper/Bilgin 2009.

[6] Vgl. Korzilius 2010.

[7] Vgl. Lohmann/Preusker 2010. Sozialethische Reflexionen zum Thema Rationierung/Priorisierung siehe Amos-international, Heft 2/2009: "Hauptsache gesund?".

[8] Fink 2009, 1.

[9] Fink 2009, 2.


Literatur

Becker, Thomas (2009): "Bestens ausgebildet, gut bezahlt". Migranten in Deutschland. Neue Caritas, 110 (4), 9-12.

Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.) (2008): Frauen, Männer und Kinder ohne Papiere in Deutschland - Ihr Recht auf Gesundheit. Bericht der Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität. Berlin.

Fink, Franz (2009): Zu sozialer Gesundheit gehört kultursensibles Handeln. Neue Caritas - Migration und Integration, 4/2009, 1-2.

Knipper, Michael; Bilgin, Yasar (2010): Migration und andere
Hintergründe. Deutsches Ärzteblatt, 107 (3), A76-A79.

Knipper, Michael; Bilgin, Yasar (2009): Migration und
Gesundheit
. Sankt Augustin; Berlin.

Korzilius, Heike (2010): "Wir müssen die Patienten dort abholen, wo sie stehen". Deutsches Ärzteblatt, 107 (3), A80.

Kostka, Ulrike (2008): Gerechtigkeit im Gesundheitswesen und in der Transplantationsmedizin. Mehrdimensionale Handlungsfelder als systematische und normative Herausforderung für die Bioethik und theologische Ethik. Basel.

Kostka, Ulrike (2000): Der Mensch in Krankheit, Heilung und Gesundheit im Spiegel der modernen Medizin. Eine biblische und theologisch-ethische Reflexion. Münster.

Lohmann, Heinz; Preusker, Uwe (Hrsg.) (2010): Priorisierung statt Rationierung: Zukunftssicherung für das Gesundheitssystem. Heidelberg et al.

Sinus Sociovision (Hrsg.) (2008): Zentrale Ergebnisse der Sinus-Studie über Migranten-Milieus in Deutschland.
Online im Internet: http://www.sinus-institut.de/uploads/tx_mpdownloadcenter/MigrantenMilieus_Zentrale_Ergebnisse_09122008.pdf [20.5.2010].

Vorhoff, Karin (2009): Migranten suchen Kompetenz und Zugang. Neue Caritas, 110 (8), 26-29.


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INHALT

Axel W. Bauer - Vorwort
Maria Böhmer - Gesundheit als Ziel der Integrationspolitik
Oliver Razum - Gesundheit von Migranten: Hintergründe
Ilhan Ilkilic - Medizinethische Aspekte des interkulturellen Arzt-Patienten-Verhältnisses
Theda Borde - Frauengesundheit und Migration: Bedürfnisse - Versorgungsrealität - Perspektiven
Alain Di Gallo - Risiken und Chancen der Migration aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht
Andreas Spickhoff - Spezielle Patientenrechte für Migranten? Juristische und rechtsethische Überlegungen
Bettina Schlemmer - "Migranten ohne Pass" beim Arzt: Realität und politische Konsequenzen
Ulrike Kostka - Die medizinische Versorgung von Migrantinnen und Migranten zwischen Solidarität und Eigenverantwortung


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Quelle:
Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2010
Migration und Gesundheit - Kulturelle Vielfalt als Herausforderung
für die medizinische Versorgung
© 2010 - Seite 85 - 93
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Vorsitzender: Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin
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E-Mail: kontakt@ethikrat.org
Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2011