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ETHIK/982: Thema Intersexualität - Diskursverfahren lieferte vielfältige Impulse (Infobrief - Dt. Ethikrat)


Infobrief des Deutschen Ethikrates Nr. 8 - August 2011 - 02/11

INTERSEXUALITÄT

Diskursverfahren lieferte vielfältige Impulse


Der Deutsche Ethikrat hat von Mai bis August 2011 ein dreistufiges Diskursverfahren durchgeführt, um unter Einbeziehung der verschiedenen Akteure und ihrer Perspektiven grundsätzliche Fragen der Medizin und der Ethik, der Grundrechte von Betroffenen und unseres Verständnisses von Geschlechtlichkeit zu diskutieren.


Hinter dem Begriff Intersexualität oder Zwischengeschlechtlichkeit verbergen sich viele unterschiedliche Phänomene nicht eindeutiger Geschlechtszugehörigkeit mit jeweils verschiedenen Ursachen. Angaben, wie viele Menschen betroffen sind, schwanken stark - je nach dem, welche Definition zugrunde liegt. Schon die verwendete Begrifflichkeit selbst impliziert jeweils unterschiedliche Bezugsgrößen und auch Wertungen. So wurde nach der Chicago Consensus Conference 2005 der Begriff Intersexualität in der Medizin durch Disorders of Sex Development ersetzt, abgekürzt DSD, wobei darunter auch medizinische Diagnosen fallen, die nicht im Begriff der Intersexualität enthalten sind. Die Abkürzung DSD wird seit 2008 - eingeführt durch die Arbeitsgruppe Ethik im Netzwerk Intersexualität - auch als Differences of Sex Development bezeichnet. Mit "Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung" ist man von der Sichtweise des Phänomens als defizitär abgerückt und richtet den Blick auf die Vielfalt an Körpern und Geschlechtern. Das jeweils zugrunde liegende Verständnis ist insbesondere für die Beantwortung der Frage von Bedeutung, ob intersexuell geborene Kinder durch medizinische Eingriffe dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugewiesen werden dürfen.

Gesellschaftlich befinden sich intersexuelle Menschen in einem Tabubereich. Wie sie leben, was sie erleben, welche Bedürfnisse sie haben, dringt kaum in die Öffentlichkeit vor. Allenfalls wird das Thema für die Öffentlichkeit dann greifbar, wenn intersexuelle Sportler durch einen problematischen und verletzenden Umgang der Sportverbände mit ihnen in den Fokus des medialen Interesses geraten.

Der Deutsche Ethikrat war bereits im Juni 2010 mit seinem Forum Bioethik "Intersexualität - Leben zwischen den Geschlechtern" (vgl. Infobrief 02/10) mit Betroffenen und Wissenschaftlern darüber ins Gespräch gekommen, wie intersexuelle Menschen leben und welche Verantwortung die Gesellschaft in diesem Zusammenhang trägt. Im Anschluss daran erhielt der Ethikrat Ende des Jahres 2010 von der Bundesregierung den Auftrag, den begonnenen Dialog fortzuführen und einen Bericht zur Situation intersexueller Menschen in Deutschland zu erarbeiten.

Angesichts des komplexen Themas und mit dem Ziel, einen möglichst diskursiven, transparenten und partizipativen Prozess der Meinungsbildung zu finden, der dazu beiträgt, das Thema zu enttabuisieren, hat der Ethikrat ein dreistufiges Diskursverfahren durchgeführt. Anfang Mai 2011 begann eine schriftliche Befragung von Betroffenen, an der sich die Angesprochenen auch online beteiligen konnten, sowie von Wissenschaftlern und Praktikern, die sich im Rahmen ihres jeweiligen Fachgebiets mit Intersexualität beschäftigen. Daran anschließend fand am 8. Juni eine öffentliche Anhörung von Betroffenen, Eltern, Medizinern, Psychologen und Juristen in Berlin statt, um über die schriftliche Befragung hinaus die Expertise für ein solides Fundament der zu erarbeitenden Stellungnahme einzuholen. Mit dem Tag der Anhörung startete der Ethikrat als dritten Schritt des Verfahrens einen Online-Diskurs, um damit auf eine niederschwellige und zeitgemäße Weise eine Debatte auf breiter gesellschaftlicher Ebene zu ermöglichen, weitere wichtige Informationen zu gewinnen und einen wechselseitigen Austausch von Betroffenen, Wissenschaftlern, Praktikern und Interessierten in Gang zu setzen.


Befragung

Die Befragung von Betroffenen, Wissenschaftlern und Praktikern war der erste von drei Schritten zur Schaffung einer soliden Basis für die Stellungnahme zur Situation intersexueller Menschen, an der der Ethikrat derzeit arbeitet. Der Fragenkatalog bezog sich schwerpunktmäßig auf die Bereiche medizinische Eingriffe, Aufklärung und Einwilligung, Lebensqualität, Integration und Diskriminierung, Vernetzung Betroffener und das Personenstandsrecht.

Zur Befragung von Wissenschaftlern und Praktikern wurden Personen angeschrieben, die sich in ihrem Berufsfeld mit Intersexualität beschäftigen, und gebeten, eine schriftliche Expertise zu den vom Ethikrat formulierten Fragen abzugeben. Gleichzeitig war es das Anliegen des Ethikrates, möglichst viele Betroffene über den Kontakt zu den Betroffenen-Organisationen und Selbsthilfegruppen zu erreichen und zu befragen. Diese gaben den Fragebogen über ihre Verteiler weiter und informierten auf ihren Internetseiten und Veranstaltungen über die Möglichkeit, sich an der Befragung zu beteiligen. Betroffene konnten den Fragebogen vom 2. Mai bis Ende Juni 2011 auch online ausfüllen. Während die Antworten der Ärzte, Therapeuten, Sozialwissenschaftler, Philosophen und Juristen auf der Webseite des Deutschen Ethikrates verfügbar sind, erfolgte die Befragung der Betroffenen anonym. Die Ergebnisse der Befragung, deren Auswertung derzeit noch nicht abgeschlossen ist, werden zusammen mit den Informationen aus Anhörung und Online-Diskurs in die Stellungnahme des Ethikrates einfließen.


Anhörung und Dialog

Der zweite Schritt im Rahmen des Diskursverfahrens war die öffentliche Anhörung zur Situation intersexueller Menschen in Deutschland am 8. Juni. Zu den angehörten Sachverständigen gehörten Mediziner, Psychologen, Juristen und Vertreter von Elterninitiativen, Betroffenen-Organisationen und Selbsthilfegruppen.

Um nicht nur die verschiedenen Sichtweisen der angehörten Personen zu erhalten, sondern auch unterschiedliche Schwerpunkte in der Betrachtung selbst zu setzen, fand die Anhörung in zwei aufeinanderfolgenden Teilen statt. Der erste Teil beschäftigte sich mit dem Thema "Medizinische Behandlung, Indikation, Einwilligung", der zweite behandelte die "Lebensqualität, gesellschaftliche Situation und Perspektiven von Menschen mit Intersexualität".

In einer ersten Einschätzung (siehe Infokasten unten) benannten die an der Anhörung beteiligten Ratsmitglieder das Recht der Betroffenen auf körperliche Unversehrtheit als zentralen Punkt in der Debatte. Diesbezüglich scheint es einen Konsens darüber zu geben, dass irreversible medizinische Eingriffe zur Geschlechtszuweisung so lange wie möglich hinausgeschoben werden müssen. Ob dies gesetzlich oder über ärztliche Richtlinien geregelt werden sollte, wurde unterschiedlich beurteilt. Es wurde aber auch zu bedenken gegeben, dass es Einzelfälle geben kann, in denen irreversible Eingriffe aus dringenden gesundheitlichen Gründen früh, wenn das Kind noch nicht einwilligungsfähig ist, erforderlich sind und dann ausnahmsweise möglich sein müssen. Das alles mache es erforderlich, in der zu erarbeitenden Stellungnahme die Grenzen so klar wie möglich zu definieren. Dies sei schwierig und bedürfe einer sorgfältigen Auseinandersetzung.

Als wichtiger Punkt im Zusammenhang mit medizinischen Eingriffen wurde das den Eltern garantierte Grundrecht gesehen, über medizinische Eingriffe zum Wohl des Kindes zu entscheiden, solange das Kind nicht selbst entscheidungsfähig ist. Da medizinische Eingriffe zur Geschlechtszuweisung den Kern des Persönlichkeitsrechtes jedes Menschen, seine Geschlechtsidentität, seine sexuelle Empfindungsfähigkeit und seine Fortpflanzungsfähigkeit beträfen, finde das Elternrecht hier seine Grenzen. Auch dies spreche dafür, mit solchen Eingriffen so lange wie möglich zu warten, damit die betroffenen Intersexuellen selbst entscheiden könnten. In diesem Zusammenhang wurde ein Moratorium vorgeschlagen, das Aufschub für eine Entscheidung schaffe und es den Eltern erlaube, ihr intersexuell geborenes Kind kennenzulernen. Gefordert wurde auch eine weitestmögliche Partizipation des Kindes: Durch eine altersgerechte kontinuierliche Aufklärung, interdisziplinäre Beratung und Einbeziehung in alle Entscheidungen, und zwar jenseits der Frage seiner Entscheidungsfähigkeit, soll das Kind unmittelbar mit einbezogen werden.

Als weiteres Thema für die Beratungen des Ethikrates ergab sich das Personenstandsrecht, auch wenn dies von einzelnen Betroffenen im Verlauf der Anhörung als sekundär, wenngleich nicht unwichtig, bezeichnet wurde. Gefordert wurde, dass das Personenstandsrecht es ermöglichen sollte, die Zuordnung zu einem Geschlecht bis zur Einwilligungsfähigkeit oder bis zur Volljährigkeit aufzuschieben. Die nach § 47 Personenstandsgesetz gegebene Möglichkeit, einen unrichtigen Geschlechtseintrag zu korrigieren, wurde nicht als ausreichend angesehen.

Wie die Einwilligungsfähigkeit bestimmt werden soll, ist eine schwierige Frage. Aus verschiedenen Gründen ist zum Beispiel die Pubertät ein womöglich problematischer Zeitpunkt für eine autonome Entscheidung, da in dieser Zeit grundsätzliche Identitätsfindungsprozesse im Gange sind. Offen ist auch, wie die Frage für diejenigen gelöst werden kann, die intersexuell sind und sich auch im Erwachsenenalter weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen können oder wollen. Diese Personen dürften wegen des Diskriminierungsverbots und des Selbstbestimmungsrechts nicht gezwungen werden, sich den binären Kategorien männlich oder weiblich zuzuordnen.

Die Betroffenen forderten in der Anhörung eine Entschädigung für durch medizinische Eingriffe erlittenes Leid. Dagegen wurde zu bedenken gegeben, dass der Nachweis der schuldhaften Verletzung medizinischer Standards zu einem in den meisten Fällen lange zurückliegenden Zeitpunkt schwierig sei, zumal es zu früherer Zeit keine medizinischen Standards gab, deren Verletzung nachweisbar wäre. Einige Teilnehmer konnten sich aber die Regelung einer Wiedergutmachung bzw. Kompensation über einen staatlichen Fonds vorstellen. Dagegen bezweifelten andere, dass ein staatlicher Fonds rechts- und finanzpolitisch durchsetzbar sei.

Die Sachverständigen waren sich darüber einig, dass die medizinische und psychologische Beratung und Behandlung Intersexueller in interdisziplinär zusammengesetzten Zentren mit speziell ausgebildeten Fachkräften erfolgen müsse.

Der Ethikrat hat darüber hinaus den Eindruck gewonnen, dass die Bereiche der regelmäßigen medizinischen Versorgung und der angemessenen Berücksichtigung Intersexueller in den Sozialversicherungen von großer Bedeutung sind.

Insgesamt forderten die meisten Teilnehmer der Anhörung mehr Information, Aufklärung und Beratung sowie die staatliche Unterstützung der bestehenden Hilfen, um die Situation intersexueller Menschen in Deutschland zu verbessern.


Online-Diskurs

Der dritte Baustein des vom Ethikrat durchgeführten Diskursverfahrens bestand in einer internetbasierten Beteiligungsplattform, mit der der Ethikrat erstmals ein digitales und frei zugängliches Mittel der transparenten und partizipativen Kommunikation nutzte, um einen Dialog zwischen intersexuellen Menschen und Eltern von intersexuell geborenen Kindern sowie Wissenschaftlern und Praktikern zu ermöglichen und das komplex angelegte Thema einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Vom 8. Juni bis zum 7. August 2011 hatten Betroffene, Wissenschaftler und Praktiker verschiedener Disziplinen und Mitglieder des Deutschen Ethikrates die Möglichkeit, sich aus ihrer jeweiligen Perspektive heraus mit unterschiedlichen Fragen im Kontext von Intersexualität auseinanderzusetzen und sich untereinander zu verständigen.

Um einen thematisch breit gefächerten Diskurs zu führen und um immer wieder neue Impulse zu setzen, wurden während der gesamten Laufzeit des Online-Diskurses zweimal pro Woche Autorenbeiträge eingestellt, die von den Diskursteilnehmern kommentiert werden konnten. Den ersten Autorenbeitrag formulierten die an der Anhörung beteiligten Ratsmitglieder mit einer ersten Einschätzung. Zudem wurden erste Eindrücke aus der Anhörung und kurze Video-Interviews mit den Sachverständigen der Anhörung online verfügbar gemacht. Es folgten Beiträge von Betroffenen, Ratsmitgliedern, Wissenschaftlern und Praktikern aus den Bereichen Rechtswissenschaft, Medizin, Psychologie, Philosophie und aus der Geschlechterforschung zu sechs verschiedenen Themenschwerpunkten:

• Medizinische Eingriffe
• Aufklärung & Einwilligung
• Lebensqualität
• Personenstandsrecht
• Integration & Diskriminierung
• Vernetzung & Hilfe

In 50 Fachbeiträgen und über 700 Kommentaren diskutierten die Diskursteilnehmer eine große Bandbreite an Fragen im Kontext der Intersexualität. Die große Bedeutung, die das auch in der Anhörung als wichtigste Frage herausgearbeitete Thema "medizinische Eingriffe" hatte, zeigt sich bereits in einem ersten Blick auf die zahlreichen Wortmeldungen zu diesem Thema im Diskurs. Die größten Kontroversen zeichneten sich in Fragen des Personenstandsrechts ab. Hierzu finden sich unterschiedliche und sehr differenzierte Regelungsvorschläge in den Kommentaren, die in den Beratungen des Ethikrates berücksichtigt werden.

Mehr als 34.000 Seitenaufrufe aus Deutschland und anderen Ländern wie der Schweiz, Österreich, den Niederlanden und den USA zeigen, dass das Diskursangebot des Ethikrates gut angenommen wurde. Für Michael Wunder, Mitglied des Ethikrates und Sprecher der ratsinternen Arbeitsgruppe zum Thema Intersexualität, ist der Online-Diskurs für die weitere Arbeit des Ethikrates äußerst hilfreich: "Es sind wichtige und interessante Gesichtspunkte in die Debatte eingebracht worden, die in unserer Stellungnahme eine Rolle spielen werden." Die allgemeine Diskussionskultur bewertete Wunder positiv: "Überwogen haben inhaltliche und themenbezogene Einlassungen, manchmal hart formuliert, manchmal sehr persönlich, aber das gehört dazu und tut der Sache keinen Abbruch."

Der Online-Diskurs ist seit dem 7. August abgeschlossen, bleibt aber online verfügbar.

Der Ethikrat wird den Online-Diskurs in den kommenden Wochen umfassend auswerten. Die Ergebnisse des gesamten, dreistufigen Diskursverfahrens - der Befragung intersexueller Menschen sowie Wissenschaftler und Praktiker verschiedener relevanter Disziplinen, der Anhörung vom 8. Juni 2011 und des Online-Diskurses - werden in die weiteren Beratungen des Ethikrates zum Thema Intersexualität einfließen.   (Be)


INFO
Expertengespräch
Eine erste Einschätzung der Anhörung kann unter
http://diskurs.ethikrat.org/2011/06/eine-erste-einschatzung
nachgelesen werden.

Online-Diskurs
Eine erste Zwischenbilanz zum Onlinediskurs findet sich unter
http://diskurs.ethikrat.org/2011/07/zwischenbilanz-des-diskursprojekts-zum-thema-intersexualitat


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Mediziner, Psychologen, Juristen und Vertreter von Elterninitiativen, Betroffenen-Organisationen und Selbsthilfegruppen während der Anhörung des Ethikrates am 8. Juni 2011 in Berlin


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Quelle:
Infobrief Nr. 8 - August 2011 - 02/11, Seite 5 - 7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. September 2011