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ETHIK/1255: Menschen nach Maß? Die neue Gentechnik (Securvital)


Securvital 1/2018 - Januar-März
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen

Menschen nach Maß?
Die neue Gentechnik

von Norbert Schnorbach


Das menschliche Erbgut kann mit gentechnischen Methoden immer zielgenauer verändert werden. Das könnte helfen, Krankheiten zu heilen. Aber die Folgen der neuen Technik sind unabsehbar. Wissenschaftler und Ethik-Fachleute fordern eine grundsätzliche Debatte über die Manipulation am Erbgut.


Das Erbgut des Menschen ist nicht mehr unantastbar. In China und jüngst auch in den USA und Großbritannien haben Wissenschaftler das Tabu gebrochen und die Erbanlagen von menschlichen Embryos zu Forschungszwecken gezielt verändert. In vielen Ländern sind solche Manipulationen am menschlichen Erbgut verboten, auch in Deutschland. Aber rund um den Globus hat ein Wettrennen mit neuen gentechnischen Methoden eingesetzt. Wissenschaftler und Ethik-Fachleute sind alarmiert und warnen vor einer unwiderruflichen Grenzüberschreitung.

Das britische Wissenschaftsmagazin Nature berichtete im September, dass Forscher in London das Erbgut von 41 menschlichen Embryonen veränderten. Mit neuen Gentechnik-Werkzeugen schalteten sie ein bestimmtes Gen in den Erbanlagen aus. Die Embryonen waren künstlich befruchtet worden, wurden einige Tage lang untersucht und dann vernichtet. Das Experiment sollte Erkenntnisse darüber liefern, wie jenes Gen sich in der Embryonalentwicklung auswirkt. Wenige Wochen zuvor war ein ähnlicher Versuch an 58 Embryonen in Portland/USA veröffentlicht werden.

Revolutionäre Entdeckung

Die Möglichkeiten zur genetischen Manipulation haben sich in jüngster Zeit mit atemberaubender Schnelligkeit entwickelt. Es ist gerade erst fünf Jahre her, dass die Grundlagenforschung eine neue Methode entdeckte, die seither die Gentechnik revolutioniert. Diese Methode mit dem sperrigen Namen Crispr/Cas9 macht es möglich, das Erbgut von Pflanzen, Tieren und Menschen zu ändern, so einfach und schnell und billig, dass Tausende von Laboratorien rund um den Globus damit experimentieren. Das weckt große Hoffnungen - und ebenso schlimme Befürchtungen.

"Es ist eine machtvolle Technik", sagt die französische Genetikerin Dr. Emmanuelle Charpentier, die 2012 gemeinsam mit der US-Biochemikerin Dr. Jennifer Doudna die Crispr/Cas9-Methode entdeckte. Sie bezeichnet es als "Gen-Schere", weil man wie mit einer Schere in den Erbanlagen arbeiten kann: Einzelne oder zusammenhängende Gene können herausgeschnitten werden, durch andere ersetzt oder in neuer Kombination eingefügt werden. Die Gen-Forscher sind fasziniert und sehen ungeahnte Möglichkeiten.

Die Entwicklung geht rasend schnell voran. In den USA wurden bereits Pflanzen mit der Gen-Schere verändert, in China Tiere mit neuen Eigenschaften ausgestattet, an vielen Orten laufen Versuche, Menschen mit Erbkrankheiten zu helfen. Die Hoffnungen und Versprechungen klingen ähnlich wie schon bei der "alten" Gentechnik vor 20 Jahren: Ertragreichere Pflanzen herzustellen und den Hunger in der Welt zu besiegen, Tiere mit neuen erwünschten Eigenschaften auszustatten und - besonders vielversprechend und besonders heikel - Menschen zu heilen und Krankheiten zu besiegen.

Gen-Therapien

Die neue Gentechnik sei tatsächlich "eine Revolution", erklärt der Molekularbiologe Prof. Toni Cathomen, Direktor des Instituts für Gentherapie des Freiburger Universitätsklinikums. "Man kann die Gen-Scheren spezifisch für bestimmte Erkrankungen herstellen. Damit steuert man ein ganz bestimmtes Gen an, schneidet es auf und tauscht dann die Sequenzabfolge, die die Krankheit verursacht, gegen eine gesunde aus." Das Freiburger Forscherteam untersucht zurzeit einen nach eigenen Angaben "vielversprechenden Ansatz", mit der neuen Gentechnik HI-Viren unschädlich machen zu können. Die Crispr-Methode berechtigt nach Cathomens Ansicht zur Hoffnung, Gen-Scheren nicht nur gegen Erbkrankheiten, sondern auch zur Heilung anderer Krankheiten einsetzen zu können.

Eines von vielen anderen Beispielen aus jüngster Zeit: Das Fachmagazin New England Journal of Medicine berichtete im Oktober von den Versuchen eines amerikanisch-französischen Ärzteteams, mit Hilfe der Gen-Scheren-Technik eine lebensbedrohliche Erbkrankheit bei Kindern zu stoppen. Die Ärzte entnahmen im frühen Stadium der Krankheit Zellen aus Blut und Knochenmark, tauschten darin defekte Gene aus und führten die veränderten Zellen wieder zurück in den Körper. Bei 15 von 17 behandelten Kindern stabilisierten die korrigierten Zellen den Krankheitsverlauf, berichteten die Ärzte. Ob die Erfolge von Dauer sind, ist noch nicht bekannt. Langfristige Nebenwirkungen und Gefahren sind möglich. Bei ähnlichen Versuchen mit "alten" Gentechnik-Methoden gab es unerwartete Krebs- und Todesfälle.


Die Entdeckung der Gen-Schere

Im Jahr 2012 veröffentlichten Dr. Emmanuelle Charpentier und Dr. Jennifer Doudna in der Fachzeitschrift Science ihre Forschungsergebnisse zur Gentechnikmethode Crispr/Cas9. Die Amerikanerin Doudna (57) lehrt als Biochemikerin und Molekularbiologin an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Die Französin Charpentier (49) ist derzeit Direktorin des Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie in Berlin. Sie haben dafür zahlreiche Wissenschaftspreise erhalten. Streit gibt es allerdings um Patente: Patentrechte an der Methode wurden gerichtlich dem Bioingenieur Feng Zhang vom Massachusetts Institute of Technology in den USA zugesprochen. Er hatte kurz nach der Science-Veröffentlichung erweiterte Anwendungen der Gen-Schere beschrieben.


Größere Ziele

Die Molekularbiologen und Gentechniker streben noch weitaus größere Ziele an. Sie wollen nicht nur bestehende Krankheiten heilen, sondern auch Gesundheitsrisiken schon lange vor der Geburt durch eine "Reparatur" am Erbgut verhindern. In diese Richtung zielt auch der eingangs genannte Versuch der Londoner Forscher an Embryonen. Allerdings dämpfen sie allzu hohe Erwartungen: In absehbarer Zeit seien konkrete Erfolge nur bei wenigen seltenen Erbkrankheiten zu erhoffen, von denen bekannt ist, dass sie durch ein einzelnes, bestimmtes Gen verursacht werden. Bei den häufigsten Krankheiten aber sind die Ursachen so vielfältig und komplex, dass eine gezielte Veränderung aller krankheitsverursachenden Erbanlagen selbst von optimistischen Gentechnik-Befürwortern nicht in Aussicht gestellt wird. Noch einen entscheidenden Schritt weiter gehen die Visionen, das Erbgut des Menschen mit neuen erwünschten Eigenschaften auszustatten, die von Generation zu Generation weiter vererbt werden und sich damit auch auf alle Nachkommen auswirken könnten.

Dies würde bedeuten, die genetische Ausstattung der Nachkommen aktiv zu gestalten und Menschen nach Maß zu schaffen - klüger, schöner, gesünder, mit längerem Leben. Eine solche "Optimierung" von Menschen klingt wie Science-Fiction. Aber an Pflanzen und Tieren wird bereits mit diesem Ziel gearbeitet.

Alles unter Kontrolle?

Im Agrarbereich hat die neue Ära der Gentechnik bereits zu Kontroversen darüber geführt, wie diese Entwicklung politisch und rechtlich unter Kontrolle zu halten ist. Während die alte Gentechnik mit der Zufallsmethode arbeitete und fremde Gene in Nutzpflanzen importierte, sind bei der neuen Crispr-Methode keine Gen-Reparaturen und auch keine fremden Gene mehr nachweisbar. Agrarkonzerne sehen darin ein milliardenschweres Zukunftsgeschäft. Sie wünschen sich, dass Crispr-manipulierte Pflanzen nicht unter die Gentechnik-Gesetzgebung fallen. Insbesondere sollten sie davon befreit werden, dass sie für die Verbraucher als genmanipuliert gekennzeichnet werden müssen.

Dagegen fordern Umweltschützer mit Nachdruck, dass auch bei Crispr-manipulierten Pflanzen die Freisetzung in die Umwelt sowie die transparente Kennzeichnung für die Verbraucher gesetzlich zu regeln sind. Nach den ersten Forschungserfolgen ist die Kritik an unabsehbaren Folgen und Risiken der neuen Gentechnik größer geworden. Zwar ist die Crispr-Methode im Gegensatz zur alten Gentechnik offenkundig präziser und weniger anfällig für Fehler und Zufälle. Aber es ist nicht auszuschließen, dass die Gen-Schere unbeabsichtigte Änderungen durchführt.

Riskante Folgen

Gerade im medizinischen Bereich ist die Sorge vor unerwünschten Nebenwirkungen berechtigt. Das Prinzip Versuch und Irrtum ist bei Anwendungen am Menschen besonders heikel. Die bisherigen Studien haben bereits gezeigt, dass auch Crispr nicht fehlerfrei funktioniert. Außerdem besteht die Gefahr, dass die neue Gentechnik in die falschen Hände geraten kann. Gerade weil die Gen-Schere relativ billig und leicht zu handhaben ist, steigen die Gefahren, ähnlich wie bei Chemie- und Biowaffen. "Der Schutz vor missbräuchlicher Anwendung scheint mir derzeit der ethisch relevanteste Bereich und die wichtigste Sicherheitsfrage zu sein", warnt Prof. Dabrock.

Emmanuelle Charpentier, die Entdeckerin der Crispr-Methode, plädiert für die Freiheit der Forschung und für ethische Grenzen bei der Anwendung. "Ich würde mir wünschen, dass wir uns weltweit darauf verständigen, wo die Grenzen sein sollen", betont sie. Wenn es um die praktische Anwendung geht, müsse sehr genau festgelegt werden, wo der Punkt ist, an dem es heißt: Bis hierhin und nicht weiter. "Ich bin strikt dagegen, den Menschen mit seinen heutigen Eigenschaften irgendwie zu optimieren", sagt die Forscherin, "diese Fantasie gibt es ja".

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Wie funktioniert die Gen-Schere?

Die Methode geht aus von der erstaunlichen Fähigkeit mancher Bakterien, Gen-Strukturen von angreifenden Viren zu erkennen und diese zu zerschneiden. Die Crispr/Cas9-Methode nutzt dieses Prinzip, um bestimmte Gene zu identifizieren, herauszuschneiden und neue einzufügen. Dieses Werkzeug lässt sich in allen lebenden Zellen von der Pflanze bis zum Menschen einsetzen, um Erbanlagen auszuschalten, zu verändern oder durch andere zu ersetzen.

1. Herstellen
Synthetische Erzeugung eines RNA-Moleküls, das sich an die gewünchste Stelle im Erbgut bindet und so den Zielort für die Gen-Schere vorgibt. Zusammen mit dem Schneide-Enzym Cas9 bildet diese Führungs-RNA das Werkzeug, das in die Zelle eingeschleust wird.

2. Finden
Die Führungs-RNA leitet den Werkzeugkomplex zum Zielort im Genom.

3. Schneiden
Das Enzym Cas9 schneidet den DNA-Doppelstrang an der vorgesehenen Stelle.

4. Verändern
Die natürlichen Reparaturmechanismen der Zelle fügen den durchtrennten Strang wieder zusammen. Dabei können Gensequenzen eingebaut bzw. DNA-Bausteine verändert oder entfernt werden.

Abbildung der Originalpublikation im Schattenblick nicht verwendet

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Quelle:
Securvital 1/2018 - Januar-März, Seite 6 - 10
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
Herausgeber: SECURVITA GmbH - Gesellschaft zur Entwicklung
alternativer Versicherungskonzepte
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Februar 2018

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