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ETHIK/1286: Debatte - Pro und Contra Widerspruchsregelung bei der Organspende (Infobrief - Deutscher Ethikrat)


Infobrief des Deutschen Ethikrates Nr. 24 - Januar 2019 - 01/19

FORUM BIOETHIK
Deutscher Ethikrat debattiert Pro und Contra der Widerspruchsregelung bei der Organspende

von Steffen Hering und Stephanie Siewert


In Deutschland warten derzeit über 10.000 Menschen auf ein Spenderorgan. Die Anzahl der Spender ist jedoch stark rückläufig und erreichte 2017 mit weniger als 800 Spendern ihren bisherigen Tiefstwert.


Um strukturelle Hindernisse bei der Organspende zu beheben, hat das Bundeskabinett beschlossen, dem Deutschen Bundestag das zweite Gesetz zur Änderung des Transplantationsgesetzes für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende (GZSO) zur Entscheidung vorzulegen. Ergänzend dazu fand am 28. November 2018 im Deutschen Bundestag eine Orientierungsdebatte darüber statt, ob zukünftig anstelle der erweiterten Entscheidungsregelung eine Widerspruchsregelung etabliert werden soll, um die Anzahl der gespendeten Organe zu erhöhen. Demnach käme als Organspender in Betracht, wer zu Lebzeiten keinen Widerspruch eingelegt hat. Im Fall des nachgewiesenen Hirntods des potenziellen Spenders können auch Angehörige der Spende noch widersprechen. Anlässlich der politischen Debatte diskutierte der Deutsche Ethikrat am 12. Dezember 2018 im Rahmen einer Abendveranstaltung aus der Reihe "Forum Bioethik" über die rechtlichen und medizinethischen Implikationen der Widerspruchsregelung.

Einigkeit im Ziel - Dissens über den Weg

In seiner Begrüßungsrede betonte der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Peter Dabrock, noch einmal das gemeinsame Ziel der Kontrahenten: die Steigerung der Spenderate. Es herrscht gemeinhin Konsens darüber, dass die Organspende ein Akt der Solidarität mit Schwerstkranken darstellt. Der Deutsche Ethikrat hat sich bereits im Februar 2015 in seiner Stellungnahme "Hirntod und Entscheidung zur Organspende" einhellig zu dieser Tatsache bekannt und vermehrte Anstrengungen in der Kommunikation gefordert, um die Zahl der gespendeten Organe zu erhöhen. Über die Instrumentarien zur Erreichung dieses Ziels herrscht jedoch Uneinigkeit. Der Vorschlag von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der die Diskussion zur doppelten Widerspruchsregelung neu entfacht hat, stößt gesamtgesellschaftlich auf geteilte Resonanz. Dies spiegelte sich auch in den Vorträgen der Referenten des Forums Bioethik wider.

Rechtliche Perspektiven

Der erste Teil der Diskussion befasste sich mit der rechtlichen Auslegung des Widerspruchsmodells. Ratsmitglied Reinhard Merkel beleuchtete zunächst die rechtsethische Perspektive und wies darauf hin, dass die Organspende als individueller Akt postmortaler Solidarität zu sehen sei, zu der weder eine moralische noch eine rechtliche Pflicht besteht. Anderenfalls würde das Persönlichkeitsrecht auf unzulässige Weise verletzt. Allerdings ergebe sich aus dem Prinzip der Minimalsolidarität die moralische Pflicht zur Erklärung und Kundgabe der eigenen Spendebereitschaft. Merkel erklärte: "Auch in einer liberalen auf individuellen Grundrechten beruhenden Rechtsordnung ist die Durchsetzung dieser Pflicht per Rechtszwang legitim und rechtsethisch vernünftig". Eine Widerspruchsregelung sei deshalb zulässig. Sofern man den Hirntod als normativ angemessenen Begriff des menschlichen Todes akzeptiert, verletze sie weder das Persönlichkeitsrecht noch greife sie in den Schutzbereich des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit ein.

Der Verfassungsrechtler Wolfram Höfling, ebenfalls Mitglied des Deutschen Ethikrates, stimmte Reinhard Merkel zu, dass ein Widerspruchsmodell nur auf der Grundlage der Hirntodkonzeption basieren könne, hält diese jedoch nicht für tragfähig. Zudem verkenne man mit dem Widerspruchsmodell, dass die Entscheidung zur Organspende immer auch eine Entscheidung über das eigene Sterben ist. Damit marginalisiere sie die grundrechtliche Garantie auf freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Der Einsatz prämortaler organprotektiver Maßnahmen ohne Zustimmung sei zudem eine unzulässige Form der Instrumentalisierung und beeinträchtige letztlich auf verfassungswidrige Weise das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Statt einer neuen Spenderegelung bedürfe es Höfling zufolge vielmehr eines Wechsels "vom Defizitmodell der Selbstregulierung zu einem demokratisch legitimierten, rechtsstaatlich strukturierten und kontrollierten Transplantationssystem".

Medizinethische Überlegungen

In der zweiten Runde der Debatte, in der es um medizinethische Fragestellungen ging, sprach sich Ethikratsmitglied Wolfram Henn für eine Widerspruchsregelung aus. Nach seiner Auffassung unterscheide sich diese jedoch nur in den wenigen Fällen von der bestehenden Regelung, in denen weder der potenzielle Organspender zu Lebzeiten noch die Angehörigen nach seinem Hirntod eine Zustimmung oder Ablehnung zur Organspende verfügt haben. Im Zeitalter von mündigen Bürgerinnen und Bürgern sei es "ethisch nicht bloß akzeptabel, sondern geboten, den Verzicht auf ein ablehnendes Votum durch den verstorbenen Menschen und seine Angehörigen in der Güterabwägung mit dem Leben eines transplantationsbedürftig kranken Menschen als Akzeptanz zu bewerten", jedoch nur unter der Voraussetzung, dass neutral über die Verfügungsmöglichkeiten der eigenen Organe aufgeklärt und zeitgemäße Verfahren zur Stärkung selbstbestimmter Entscheidungsfindung angeboten werden.

Die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Claudia Wiesemann, lenkte den Blick auf organisationsethische Konflikte bei der Organspende. Laut Wiesemann bestehe weniger ein Spendeproblem als vielmehr ein Melde- und Organisationsproblem der Krankenhäuser. Die aktive Akzeptanz der Organspende in Deutschland liegt konstant bei ca. 70 Prozent und auch die Zahl der Personen, die einen Organspendeausweis besitzen, steigt kontinuierlich. Im Jahr 2017 ist nur bei 24 Prozent der möglichen Organspender keine Zustimmung zur Organspende erteilt worden. Die geplante Einführung der Widerspruchsregelung verorte das Problem falsch und trage dazu bei, die ethischen Binnenkonflikte in den Entnahmekrankenhäusern zu verschleiern. Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegende, die sich an der Identifikation potenzieller Spender und der Organentnahme beteiligen, seien mit moralischen Verpflichtungen konfrontiert, die einander widersprächen. In der Erarbeitung praktischer Lösungsansätze liege das wesentlich größere Potenzial zur Erhöhung der Organspendezahlen.

Diskussion und Appell

In der abschließenden, von Ratsmitglied Alena Buyx moderierten und auch für das Auditorium geöffneten Podiumsdiskussion herrschte trotz der unterschiedlichen Positionen zur Einführung der Widerspruchsregelung Einigkeit darüber, dass die strukturellen Probleme der Organspende dringend gelöst werden müssen. Dazu bedürfe es einer hinreichenden Aufklärung und aktiven Einbindung der betroffenen Personen. Es wurde jedoch auch noch einmal deutlich, dass hinsichtlich der Konkretisierung der einzelnen Modelle sowie der normativen und faktischen Annahmen, die zur Abwägung zwischen den Modellen notwendig sind, viel Uneinigkeit, aber auch Unklarheit herrscht. Deshalb sei es besonders wichtig, so Peter Dabrock in seinem Schlusswort, der intensiven Reflexion zu diesem Thema ausreichend Raum zu geben, "damit das Vertrauen in diese Hochtechnologie nicht noch stärker gefährdet wird, sondern am Ende tatsächlich eine Steigerung der Organspenden dabei herauskommt." Die Konflikthaftigkeit der Positionen sollte dabei nicht eingeebnet werden, sondern aus Gründen der Transparenz und Aufklärung deutlich zum Ausdruck kommen. Zugleich sei es entscheidend, bei der Suche nach dem richtigen Weg, "Grundsätzliches mit pragmatisch Umsetzbarem zu verbinden". Diesbezüglich appellierte Peter Dabrock an den Deutschen Bundestag, angesichts des gemeinsamen Ziels nach tragfähigen Kompromissen zu suchen und in der bereits laufenden Parlamentsdebatte konkrete politische Lösungen zu finden.


INFO

- BEGRIFFE

Derzeit gilt in Deutschland die erweiterte Zustimmungsregelung, d.h. ohne die Zustimmung des Spenders ist eine Transplantation nicht zulässig. Die Entscheidung für oder gegen eine Organspende erfolgt freiwillig und zu Lebzeiten - beispielsweise in Gestalt eines Organspendeausweises oder einer Patientenverfügung. Liegt keine Entscheidung zur Organ- und Gewebespende vor, werden die Angehörigen nach dem mutmaßlichen Willen der verstorbenen Person gefragt. Jede krankenversicherte Person ab dem vollendeten 16. Lebensjahr erhält von ihrer Krankenkasse regelmäßig Informationsmaterial, um eine aufgeklärte und unabhängige Entscheidung treffen zu können.

Mit der Widerspruchsregelung käme als Organspender in Betracht, wer zu Lebzeiten keinen Widerspruch eingelegt hat. Im Fall des nachgewiesenen Hirntods des potenziellen Spenders können auch Angehörige noch der Spende widersprechen. In einigen europäischen Ländern wie Frankreich, Österreich, Polen oder Spanien werden bereits Varianten der Widerspruchsregelung angewendet.


WEITERES ZUM THEMA

Am 21. März 2012 diskutierte der Deutsche Ethikrat im Rahmen der öffentlichen Veranstaltung "Hirntod und Organentnahme - Gibt es neue Erkenntnisse zum Ende des menschlichen Lebens?", wie im Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit der Organtransplantation und dem Schutz der Menschenwürde ein ethisch gebotener und verantwortungsvoller Umgang mit hirntoten Menschen aussehen kann.
https://www.ethikrat.org/forum-bioethik/hirntod-und-organ-entnahme-gibt-es-neue-erkenntnisse-zum-ende-des-menschlichen-lebens/

Im Februar 2015 veröffentlichte der Deutsche Ethikrat die Stellungnahme "Hirntod und Entscheidung zur Organspende". Die Publikation findet sich unter:
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-hirntod-und-entscheidung-zur-organspende.pdf

- QUELLE
Die Präsentationen und weitere Dokumentationen der öffentlichen Veranstaltung "Pro + Contra: Widerspruchsregelung bei der Organspende" vom 12. Dezember 2018 finden sich unter:
https://www.ethikrat.org/forum-bioethik/pro-contra-widerspruchsregelung-bei-der-organspende/

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Quelle:
Infobrief Nr. 24 - Januar 2019 - 01/19, Seite 7 - 10
Informationen und Nachrichten aus dem Deutschen Ethikrat
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Februar 2019

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