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ETHIK/1333: Jahrestagung 2022 - Wege zur gerechten Preisbildung bei teuren Arzneimitteln (Deutscher Ethikrat)


Infobrief des Deutschen Ethikrates Nr. 30 - Juli 2022 - 01/22

JAHRESTAGUNG

Hohe Preise - Gute Besserung?
Wege zur gerechten Preisbildung bei teuren Arzneimitteln

von Lilian Marx-Stölting, Anneke Viertel und Luca Böllert


Rund 1.300 Gäste folgten - vor Ort sowie online - am 22. Juni 2022 der Einladung des Deutschen Ethikrates zu seiner Jahrestagung, die sich mit ethischen Herausforderungen bei der Bepreisung und Verteilung teurer Medikamente beschäftigte.


Für einige zuvor kaum therapierbare seltene Erkrankungen gibt es inzwischen hochwirksame, aber teils sehr teure Medikamente. Preise von zwei Millionen Euro pro einmalig notwendiger Dosis oder 275.000 Euro für ein Behandlungsjahr werfen dabei eine Reihe ethischer Fragen auf, insbesondere da die Zulassung weiterer hochpreisiger Arzneimittel für die kommenden Jahre erwartet wird. Es gilt, die Ansprüche von Versicherten auf bestmögliche Behandlung, aber auch die Ansprüche von forschenden Arzneimittelherstellern auf Refinanzierung ihrer Investitionen gegen das Erfordernis abzuwägen, Gesundheitskosten und insbesondere Krankenkassenbeiträge nicht beliebig ansteigen zu lassen. Angesichts begrenzter Ressourcen besteht die Notwendigkeit, tragfähige Verfahrensweisen in Bezug auf die gerechte Bewertung, Preisbildung und Verteilung hochpreisiger Medikamente zu entwickeln.

Warum so teuer?

Unter dieser Überschrift näherte sich gleich zu Beginn des ersten Tagungsteils Bertram Häussler, Leiter des IGES-Instituts, der Frage der Preisgestaltung bei Medikamenten. Diese würden, so Häussler, im Durchschnitt aller in Deutschland verordneten Arzneimittel für 0,83 Euro pro Tagesdosis von den Herstellern abgegeben. Der am häufigsten verordnete Wirkstoff koste weniger als einen Cent pro Tagesdosis. Allerdings gebe es auch Injektionsflaschen für etwa zwei Millionen Euro pro Anwendung. Wie kommt es zu diesen extremen Preisunterschieden? Häussler erläuterte, dass die Unternehmen in den ersten Jahren nach Zulassung eines Medikaments Aufschläge auf die reinen Produktionskosten verlangen könnten, was die Refinanzierung der Aufwendungen für Forschung und Entwicklung ermögliche. Die Gestaltung dieser Aufschläge sei dabei stark von den Produktmengen abhängig. Sehr hohe Preise würden bei neuen Arzneimitteln verlangt, die nur selten angewendet würden. Die Preise seien hingegen sehr gering, wenn nach Ende der Patentlaufzeit Exklusivität nicht mehr garantiert werde und viele Menschen die Arzneimittel häufig einnähmen.

Hohe Preise, die in einem begrenzten Zeitraum in wohlhabenden Ländern verlangt werden, seien damit die Grundlage dafür, dass das global verfügbare Angebot an Arzneimitteln ständig wachse und zu langfristig niedrigen Preisen weltweit zur Verfügung stehe. "So gesehen ist diese Preisbildung letztendlich die Basis dafür, dass es so etwas gibt wie ein Welterbe der Pharmazie", so Häussler. Positiv hob er zudem hervor, dass vermehrt kleine und sehr junge Firmen am Markt aktiv seien. Innovative Arzneimittel leisteten einen erheblichen Beitrag zur Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung. Beispielhaft verwies er auf zwei sichtbare Erfolge: So konnte die Sterblichkeit an kardiovaskulären Erkrankungen um etwa zwei Drittel gesenkt werden, bei HIV/Aids sei es sogar eine Minderung um rund 85 Prozent.

Überhitzter Markt oder begründet hohe Preise?

Im anschließenden Gespräch verwies Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK, einerseits zwar auf die großen Erfolge der pharmazeutischen Industrie - unter anderem in der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie -, vertrat andererseits aber auch die Meinung, dass der Arzneimittelmarkt "überhitzt" sei. Viel Geld werde für relativ kleine Patientengruppen ausgegeben. Die Gewinnmargen, die im pharmazeutischen Bereich deutlich höher als in anderen Branchen seien, sollten aus Schröders Sicht reduziert werden. 50 bis 66 Prozent der Kosten für Forschung und Entwicklung würden aus öffentlichen Geldern finanziert, sodass die Menschen in Deutschland sozusagen doppelt für Medikamente aufkommen müssten. "Wir zahlen eigentlich, zumindest in Deutschland, in unserem solidarischen System zweimal, nämlich einmal über unsere Steuern und danach nochmal über überzogene, überhitzte Preise", so Schröder. Patentschutz sei richtig und wichtig, dürfe aber nicht dazu führen, dass Monopolisten hohe Preise durchsetzen könnten. Hier müsse die Politik stärker regulierend eingreifen. Außerdem sei mehr Transparenz bezüglich der Kosten der Arzneimittelentwicklung sowie mit Blick auf die Gewinne geboten. Han Steutel, Präsident des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller, entgegnete, die Preise seien zwar hoch, dies sei aber begründet, und gälte stets nur temporär, wie schon Bertram Häussler in seinem Vortrag dargelegt habe. Steutel unterstrich zudem, wie glücklich sich die Menschen in Deutschland schätzen könnten, innovative Medikamente so schnell zur Verfügung zu haben. Schröder kritisierte weiter, dass auch neue Medikamente ohne nennenswerten Zusatznutzen zugelassen würden, während gleichzeitig für bestimmte Indikationen Arzneimittel und Forschungsanstrengungen fehlten, etwa in Bezug auf Tuberkulose, Malaria oder im Bereich der Reserveantibiotika. Auch diesbezüglich sei politische Regulierung wünschenswert. Steutel betonte demgegenüber die Innovationskraft und die unternehmerischen sowie gesellschaftlichen Verdienste der pharmazeutischen Industrie am Beispiel der Entwicklung von Impfstoffen gegen COVID-19.

Zwei Beispiele: Hämophilie und Mukoviszidose

In den folgenden zwei Vorträgen lag der Fokus auf der Bedeutung hochwirksamer und zugleich hochpreisiger Medikamente für das Leben Betroffener. Bettina Kemkes-Matthes, Professorin an der Justus-Liebig-Universität Gießen, berichtete aus ärztlicher Sicht von der Behandlung der Hämophilie, einer seltenen Erbkrankheit (auch als Bluterkrankheit bekannt), bei der infolge einer Veränderung auf dem X-Chromosom die Blutgerinnung gestört ist. Noch bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei die Lebenserwartung der betroffenen Menschen extrem verkürzt und ihre Lebensqualität stark vermindert gewesen, wie Kemkes-Matthes erläuterte. Heute könnten sie dagegen dank neuer Medikamente ein annähernd normales Leben führen, denn die pharmazeutische Forschung habe enorme Fortschritte in der Hämophilie-Behandlung ermöglicht. Allerdings entstünden in Deutschland jährlich Gesamtkosten von circa 900 Millionen Euro für Blutkonzentrate - hinzu kämen Ausgaben für weitere Behandlungen und Beratungen. Die Kosten zum Beispiel für eine sogenannte Heimselbstbehandlung, bei der Patientinnen und Patienten sich Medikamente zu Hause selbst injizieren, hätten in den letzten 20 Jahren circa 5.000 Euro pro Woche und Person betragen. Die Lebensqualität, ja häufig das Überleben der Betroffenen hingen also ganz entscheidend von den verfügbaren finanziellen Mitteln ab.

Als weiteres Beispiel wurde die Behandlung von Mukoviszidose vorgestellt. Hierbei handelt es sich um eine genetisch bedingte seltene Multiorgan-Erkrankung mit einer Störung des Salz- und Wasserhaushalts, von der in Deutschland mehr als 8.000 Patientinnen und Patienten betroffen sind. Als Referent Stephan Kruip, Vorsitzender des Bundesvorstands Mukoviszidose e. V. und Mitglied des Deutschen Ethikrates, im Jahr 1965 mit Mukoviszidose geboren wurde, habe die Lebenserwartung Betroffener 8 Jahre betragen. Heute seien es dagegen durchschnittlich 55 Jahre. Nicht zuletzt dank der Anstrengungen der Mukoviszidose-Gesellschaft in den USA, die Forschung durch Spenden finanziert habe, gäbe es heute das Medikament Kaftrio, welches den Betroffenen ein annähernd normales Leben ermögliche. "Ein unbezahlbarer Zusatznutzen", so Stephan Kruip, "aber unbezahlbar ist auch der Preis." Die tägliche Dosis von drei Tabletten koste 700 Euro, was sich pro Patient und Jahr zu 250.000 Euro aufsummiere. Weltweit kämen aber nur etwa 12 Prozent der Betroffenen in den Genuss des teuren Medikaments. Die Herstellungskosten lägen dabei bei etwa 450 Euro pro Monat, was lediglich 2,1 Prozent des Verkaufspreises ausmache. 2021 habe der Umsatz des Unternehmens 7,6 Milliarden Dollar betragen, sodass davon auszugehen sei, dass die Entwicklungskosten sich bereits amortisiert haben und der Preis gesenkt werden könne. Es stelle sich die Frage, ob hier eine marktbeherrschende Stellung missbraucht werde, was möglicherweise ein Einschreiten des Kartellamtes rechtfertigen könne.

In der Diskussion wurde unter anderem erläutert, dass es, anders als im Fall der Mukoviszidose, bei Hämophilie-Medikamenten aktuell einen enormen Preisdruck auf dem Markt gebe. In den letzten zwei Jahren seien die Preise um die Hälfte gesunken. Außerdem wurde über den Vorschlag gesprochen, unangemessen hohe Verkaufspreise dadurch zu verhindern, dass die Länder der Europäischen Union ihre Marktmacht nutzen und Preise gemeinsam aushandeln.

Wann ist ein Preis gerecht?

Der zweite Teil der Tagung beschäftigte sich mit Kriterien und Prozessen gerechter Preisbildung im Arzneimittelbereich. Markus Zimmermann, Vizepräsident der Schweizer Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin, ging in seinem einführenden Vortrag auf die Frage ein, unter welchen Umständen Arzneimittelpreise als "gerecht" bezeichnet werden können und welche ethischen Kriterien im Umgang mit hochpreisigen Medikamenten relevant sind. Für den Umgang mit teuren Medikamenten sollten Zimmermann zufolge anhand verschiedener Allokationskriterien Grundsätze erarbeitet und diese von den zuständigen Behörden umgesetzt werden. Dabei unterschied er prozedurale von inhaltlichen Allokationskriterien. Zu ersteren zählten transparente Begründungen, Einsichtigkeit der Argumente, Widerspruchsmöglichkeiten im Verfahren und die Durchsetzung von Entscheidungen; als inhaltliche Kriterien nannte er Menschenwürde, Bedürftigkeit, Solidarität, Wirksamkeit und Nutzen. Während diese Prinzipien an sich nicht umstritten seien, ergäben sich bei ihrer Anwendung und Gewichtung ethische Herausforderungen. Auf vier von diesen ging Zimmermann näher ein: Die erste Herausforderung sei verbunden mit der sogenannten "rule of rescue", die vorsehe, der Rettung konkret identifizierbarer Menschenleben in Notsituationen den Vorrang zu geben. Viele Menschen hielten dies für richtig, auch wenn sich durch die Investition in Präventionsmaßnahmen statistisch gesehen auf lange Sicht mehr Leben retten ließen. Als weitere ethische Herausforderungen wurden benannt die Messung und Gewichtung von Kosteneffektivität, Probleme bei einer hohen Anzahl Behandlungsbedürftiger und der Umgang mit seltenen Erkrankungen. Zimmermann gelangte zu den folgenden Schlussfolgerungen: Die Bevölkerung müsse in die Debatte und Entscheidungen einbezogen werden. Es solle nicht davor zurückgeschreckt werden, schwierige Entscheidungen zu treffen. Fairness solle auch im Bereich der Wirtschaft, also für die Pharmaunternehmen gelten, zumal diese auf funktionierende Gesundheitssysteme angewiesen seien. Und schließlich solle unter Wahrung der nationalstaatlichen Solidarität auch die globale Perspektive nicht außer Acht gelassen werden.

Deutsche und europäische Perspektiven

Zwei parallele Foren beleuchteten im dritten Teil der Veranstaltung Gerechtigkeit und Solidarität bei der Allokation von Medikamenten. Forum A nahm dabei deutsche und europäische Perspektiven in den Blick, Forum B stellte globale Perspektiven in den Mittelpunkt. Im Forum A forderte Torsten Meireis von der Humboldt Universität zu Berlin gerechte Preise sowohl in Bezug auf die Angebots- als auch auf die Nachfrageseite. Seitens der Anbietenden stehe zumeist die Effizienz der Investitionen im Fokus, den Nachfragenden hingegen gehe es vornehmlich um Solidarität sowie Verteilungs- und Bedürfnisgerechtigkeit. Meireis unterstrich zudem, dass Gerechtigkeit nicht nur im nationalen Rahmen verwirklicht werden müsse, sondern auch im internationalen Kontext von Bedeutung sei.

Petra Thürmann von der Universität Witten/Herdecke kritisierte neben der teils intransparenten Preispolitik der Pharmafirmen, dass öffentliche Beiträge zur Medikamentenentwicklung wie z. B. steuerfinanzierte Grundlagenforschung nicht hinreichend berücksichtigt würden. Als solidarisches System setze die gesetzliche Krankenversicherung einen fairen Umgang miteinander und wechselseitiges Vertrauen voraus. Dabei sei problematisch, dass die Versicherten durch die Versicherungspflicht dazu gezwungen seien, sich auf dieses System zu verlassen, obwohl ihnen etwa zu tatsächlichen Herstellungskosten nur lückenhafte Informationen zur Verfügung stünden. Thürmann wies außerdem darauf hin, dass die Versicherten auch über die Zahlung der Krankenversicherungsbeiträge hinaus zur Solidarität beitragen können, indem sie nämlich ihre Behandlungsdaten für wissenschaftliche Analysen zur Verfügung stellen.

Thomas Müller vom Bundesministerium für Gesundheit trat für das Erfordernis staatlicher Regulierung im Bereich der Arzneimittelherstellung ein. Diese müsse im Lichte gesellschaftlichen Wandels und naturwissenschaftlich-technischer Entwicklungen kontinuierlich angepasst werden. In Deutschland gebe es eine lange Tradition der Solidarversicherung und der Preisregulierung - tatsächlich sei die erste Arzneimittelrichtlinie zur wirtschaftlichen Verordnungspraxis bereits 1923 eingeführt worden. Die richtige Balance bei der Preisbildung für Arzneimittel, die aktuell in Deutschland nach einem Verhandlungsmodell organisiert sei, müsse immer wieder neu gefunden werden. Müller unterstrich zudem die Bedeutung staatlicher Förderung einschlägiger Grundlagenforschung, welche jedoch die Produktentwicklung durch privatwirtschaftliche Unternehmen nie ersetzen könne. Bedenke man, dass heutige Forschungsinvestitionen sich erst nach 10 oder mehr Jahren in Gestalt neuer Arzneimittel bezahlt machten, handele es sich auch um eine Frage intergenerationeller Gerechtigkeit.

Globale Perspektiven

Andreas Reis von der WHO eröffnete das Forum B mit dem Hinweis auf ein Forschungsdefizit: Es würden nur 2 Prozent der weltweiten Forschungsgelder für Krankheiten in den Entwicklungsländern ausgegeben und nur 0,2 Prozent der Investitionen der elf größten Geldgeber im Bereich der biomedizinischen Forschung flössen in Länder mit geringem Einkommen. Die WHO habe daher die globale Gesundheitssicherung als höchstes Ziel ausgegeben. Auch die ungerechte Verteilung der COVID-19-Impfstoffe habe deutliche Defizite sichtbar gemacht. Erst als das Angebot an Impfstoffen die Nachfrage überstiegen habe, seien die reicheren Länder bereit gewesen, Impfstoffe an ärmere Länder in größerem Maße abzugeben. Als Lösungsansätze kämen finanzielle Anreize für die Entwicklung von Medikamenten infrage, die von der Pharmaindustrie als nicht profitabel eingestuft würden. Außerdem müsse die lokale Produktion von Impfstoffen gefördert werden.

Die Wichtigkeit von Innovations- und Investitionsanreizen betonte auch Reto M. Hilty vom Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb. Weil die Gewährleistung von Verteilungsgerechtigkeit nicht Aufgabe privatwirtschaftlicher Anbieter sei, liege der Gedanke nahe, in den Pharmamarkt regulierend einzugreifen. Häufig werde dabei das Patentrecht als Regulationsoption genannt. Hilty wies in diesem Zusammenhang auf drei mögliche Arten von Marktversagen hin: Im ersten Fall fehle Anbietern in Ländern mit geringer Kaufkraft der Gewinnanreiz. Dem könne nur durch eine direkte Kostenübernahme etwa durch wohlhabendere Staaten entgegengewirkt werden. Im zweiten Fall drohten billigere Nachahmerpräparate die Gewinnaussichten zu beeinträchtigen. Vor solchen zu schützen, sei die eigentliche Aufgabe des Patentrechts. Doch das Patentrecht könne auch selbst zu einem Marktversagen führen, nämlich im dritten Fall, in dem zu breit gewährte Patentansprüche Innovationen verhinderten. Insgesamt sei es weniger einfach als häufig angenommen, Verteilungsgerechtigkeit durch das Patentrecht zu fördern.

Meike Schwarz von Ärzte ohne Grenzen berichtete über ihre Erfahrungen in der humanitären Arbeit. Als besonders problematisch hob sie den mangelnden Zugang zu bezahlbaren Medikamenten sowie große Defizite in Forschung und Entwicklung in Ländern mit geringem Einkommen hervor. Die wichtigsten Ursachen seien Patentrechte und die Monopolstellung bestimmter Pharmaunternehmen. Nicht erst bei der Entwicklung von Impfstoffen, Medikamenten und Diagnostika für COVID-19 habe sich gezeigt, dass Patentrechte der nötigen Produktionsausweitung und Preissenkung in ärmeren Ländern entgegenstünden. Als mögliche Lösungsansätze nannte Schwarz eine vorübergehende Aussetzung des TRIPs-Abkommens sowie Technologietransfer in den globalen Süden. Bei der Erforschung und Entwicklung von Medikamenten sollten nicht Profitinteressen, sondern vor allen Dingen die weltweiten Gesundheitsbedürfnisse ausschlaggebend sein.

Wege zu fairen Arzneimittelpreisen

Im letzten Teil der Veranstaltung wurde im Rahmen einer Abschlussdiskussion die Frage gestellt, wie sich die Verfügbarkeit undgerechte Verteilung kostenintensiver Arzneimittel verbessern ließen. Josef Hecken vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) betonte die Doppelrolle des G-BA, nicht nur durch Nutzenbewertungen die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung zu senken, sondern auch das Qualitätsgebot zu berücksichtigen, das den Versicherten die bestmögliche Versorgung sichern solle. In Deutschland sei eine Grundsatzentscheidung getroffen worden: Die Patientenversorgung habe stets Vorrang. Daher würden neue Wirkstoffe nach der Zulassung sehr schnell verfügbar gemacht, gerade auch bei seltenen Erkrankungen. Andere EU-Staaten wie Spanien oder Frankreich brächten nur eine kleine Zahl der zugelassenen neuen Wirkstoffe auf den Markt und bräuchten länger dafür.

Wie schon andere Vortragende im Rahmen der Tagung plädierte Josef Hecken für mehr Transparenz bei den Preisverhandlungen. Nur so lasse sich feststellen, welche Investitionen und welche Rückschritte im Forschungszyklus zum Preis beitrügen und ob die geforderten Preise zu einer angemessenen Rendite führten oder nicht. Bei Arzneimitteln für seltene Erkrankungen und Onkologika stünde ein geringer Anteil an den Verschreibungen von insgesamt 1,26 Prozent Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung von 22,1 Prozent gegenüber. Hier wäre es wichtig, auf begleitende Nutzenstudien zu setzen. Außerdem müsse § 130b des Sozialgesetzbuches Fünftes Buch so geändert werden, dass Risk-Sharing-Modelle einbezogen würden und Firmen für den Fall, dass Medikamente nicht wie erwartet wirkten, Geld zurückstellen müssten. Von zentraler Bedeutung sei die Neuregelung von Preisbildungsmechanismen für Kombinationstherapien, die bestehende Therapien nicht ersetzten, sondern mit zum Teil nur minimalem Zusatznutzen ergänzten. Letzten Endes sei es eine Entscheidung der Politik, wie viel wir als Gesellschaft für Gesundheit ausgeben wollten.

Die Sozialrechtlerin Dagmar Felix wies auf die juristische Grundfrage hin, wie sich der gesetzlich verankerte Anspruch auf innovative Medizin in der Realität umsetzen ließe, ohne das Recht pharmazeutischer Unternehmen zur Preissetzung zu sehr einzuschränken, und gleichzeitig die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung zu gewährleisten. Die zentrale Aufgabe des G-BA sei die Nutzenbewertung von Medikamenten, nicht die Gewährleistung angemessener Gewinne für Unternehmen. Eine Rahmenvereinbarung lege einen angemessenen Erstattungsbetrag fest und trage zum Ausgleich der Interessen zwischen der Gemeinschaft der Versicherten und den Unternehmen bei. Wettbewerbliche Verhandlungen dürften dabei nicht dazu führen, dass Medikamente vom Markt verschwänden, da es sich nicht mehr lohne, sie anzubieten. Erforderlich sei eine offene gesellschaftliche Diskussion darüber, was Innovation uns wert ist. Die vorhandenen Konfliktlösungsstrategien wie etwa die Schiedsstelle, die bislang jedoch nur selten angerufen werde, könnten zur Transparenz beitragen.

Der evangelische Theologe und Ethiker Thorsten Moos stellte abschließend ethische Überlegungen zur Verbesserung des bestehenden Systems der Preisgestaltung für Medikamente an. Dieses beruht seiner Ansicht nach auf einem ethischen "Grundsinn", der "in der fundamentalen Entkopplung von Lebenschancen und Ökonomie" liege. Diese Entkopplung lasse sich zwar niemals vollständig verwirklichen, solle jedoch als Ziel und Versprechen handlungsleitend sein. Menschen sollten unabhängig von ihrer finanziellen Situation gegen krankheitsbedingte Lebensrisiken abgesichert sein. Dies gelte auch für seltene Erkrankungen. Kosten und Nutzen dürften dabei prinzipiell nicht gegeneinander ausgepielt werden. Damit die "Lotterie des Lebens" ausgeglichen werden könne, müsse das Solidarsystem leistungsstark und stabil sein. Auch bezüglich der anstehenden Veränderungen des bestehenden Systems gelte es, den beschriebenen ethischen Grundsinn zu bewahren. Explizite Kosten-Nutzen-Erwägungen könnten gesellschaftlich legimitiert werden, würden jedoch die Lebenschancen an die Ökonomie binden. Mindern ließe sich die Kopplung von Lebenschancen und ökonomischen Möglichkeiten besonders durch eine bessere Wissensgenerierung und -nutzung. So könnten wirkstoffbezogene Register die Datenverfügbarkeit erhöhen, was zur Verbesserung von Nutzenbewertungen und Leitlinien beitragen würde. Darüber hinaus sei, so Moos, die Rolle der öffentlichen Hand und der Zivilgesellschaft nicht zu vernachlässigen, da die Entwicklung nicht weniger Arzneimittel auf universitärer oder spendenfinanzierter Forschung basiere.

Beteiligung der Zuschauerinnen und Zuschauer

Sowohl die Zuschauerinnen und Zuschauer im Livestream als auch vor Ort konnten über ein Online-Modul Fragen in die Diskussion einbringen und bereits sichtbare Fragen bewerten. Während der Tagung wurden online insgesamt 139 Fragen gestellt. Darüber hinaus waren Wortmeldungen per Saalmikrofon möglich. Außerdem wurden über das Modul vier Umfragen durchgeführt. 85 Prozent der Zuschauerinnen und Zuschauer gaben dabei an, dass sie noch nicht selbst auf ein teures Medikament (mit einem Preis über 10.000 Euro pro Jahr) angewiesen gewesen seien, während 14 Prozent dies bejahten. Als zweites wurde nach der Bewertung teurer Medikamente gefragt, wobei Mehrfachnennungen möglich waren: 56 Prozent der Befragten empfanden teure neue Medikamente in erster Linie als Chance für Patientinnen und Patienten, gefolgt von 49 Prozent, die darin ein Problem für das solidarische Gesundheitswesen sahen. 47 Prozent beurteilten teure Medikamente als eine großartige Leistung der Forschung und 30 Prozent waren der Meinung, sie seien "eine Goldgrube für Unternehmen". Bei der Frage nach dem Umgang mit drohender Überlastung des solidarischen Gesundheitssystems durch teure Medikamente sahen 50 Prozent Subventionen aus Steuermitteln als beste Lösung, 28 Prozent befürworteten eine Erhöhung der Krankenkassenbeiträge und 20 Prozent eine Begrenzung der Verschreibungen. Allerdings fanden 35 Prozent der Befragten die von ihnen favorisierte Lösungsmöglichkeit nicht in den Antworten wieder und kreuzten dies entsprechend an. Die Bedeutung teurer neuer Arzneimittel für die weltweite Gesundheitsversorgung wurde eher positiv gesehen. 57 Prozent der Befragten waren dabei der Meinung, die Entwicklung der Medikamente begünstige die Forschung zu anderen Krankheiten, und 46 Prozent erklärten, diese Arzneimittel würden so langfristig allen zugutekommen. 41 Prozent waren jedoch der Ansicht, dies vergrößere die globale Ungerechtigkeit.

Was ist uns die Gesundheit wert?

In der abschließenden Diskussion ging es insbesondere um die Frage, wie viel Geld uns die Gesundheit wert sein sollte - eine Frage, die nur politisch zu beantworten sei. Welchen Anteil des Bruttoinlandsprodukts sind wir bereit, in das Gesundheitssystem zu investieren? Hierfür seien eine offene Debatte und ein gesellschaftlicher Grundkonsens wichtig. Dagmar Felix warf ein, ob den Menschen in Deutschland bewusst sei, in welch großartigem Gesundheitssystem sie lebten. Josef Hecken wies darauf hin, dass in der Theorie viele Menschen bereit seien, mehr Geld zu zahlen, in der Praxis aber schon eine minimale Erhöhung der Krankenkassenbeiträge ein Grund für viele junge und gesunde Menschen sei, die Kasse zu wechseln.

In ihrem Schlusswort stellte die Vorsitzende des Ethikrates Alena Buyx unter anderem fest, dass in der Diskussion - trotz der Komplexität der Fragestellungen und inhaltlicher Differenzen - die Forderung nach größerer Transparenz immer wieder als konsensueller Punkt aufgeschienen sei. Diese Forderung sei zwar von den Referierenden ganz unterschiedlich konkretisiert worden, dennoch liege hier ein möglicher Ansatzpunkt für zukünftige Bemühungen um Einigkeit.


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INFO

Quelle

Ein Video-Mitschnitt, die Transkription sowie Folien der Vorträge sind zu finden unter
https://www.ethikrat.org/jahrestagungen/hohe-preise-gute-besserung
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Quelle:
Infobrief Nr. 30 - Juli 2022 - 01/22, Seite 1-5
Informationen und Nachrichten aus dem Deutschen Ethikrat
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Jägerstraße 22/23, 10117 Berlin
Telefon: 030/203 70-242, Telefax: 030/203 70-252
E-Mail: kontakt@ethikrat.org
Internet: www.ethikrat.org

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 2. August 2022

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