Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → FAKTEN

ETHIK/728: Das Lebensende selbst bestimmen (JOGU Uni Mainz)


[JOGU] Nr. 208, Mai 2009
Das Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Das Lebensende selbst bestimmen
Ethikkomitee hat Vordruck für eine Patientenverfügung entwickelt

Von Frank Erdnüss


Die sich ständig verbesssernden medizinischen Möglichkeiten lassen uns heute nicht nur schwerwiegende Krankheiten heilen, sondern versetzen uns auch in die Lage, unheilbar kranke Menschen beispielsweise durch künstliche Ernährung am Leben zu halten. Letzteres ist möglicherweise von den Betroffenen so gar nicht gewollt. Eine frühzeitig und eindeutig verfasste Patientenverfügung kann hier sehr hilfreich sein.

Bereits im Dezember 2006 trat die Leitlinie des Ethikkomitees der Mainzer Universitätsmedizin in Kraft; sie regelt den Umgang mit Patientenverfügungen und insbesondere auch Fragen zum so genannten mutmaßlichen Patientenwillen. Dieser ist selbst bei vorliegender Patientenverfügung oft nicht leicht zu ermitteln, insbesondere dann, wenn die Verfügung nicht eindeutig auf die konkret vorliegende medizinische Situation angewendet werden kann. Vorrangig für Patienten des Klinikums, aber auch für andere Interessierte, hat das Ethikkomitee daher auch einen Vordruck für eine Patientenverfügung entwickelt, der alle wesentlichen Gesichtspunkte berücksichtigt und das Verfassen erleichtern soll. Sowohl die Leitlinie als auch der Vordruck waren unbedingt notwendig, wie Prof. Dr. Norbert W. Paul, Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Mainz, erläutert: "Aus einer Befragung von knapp einhundert Mainzer Bürgern, die wir im Jahre 2006 durchgeführt haben, wissen wir, dass teilweise auch in höheren Bildungsschichten ein Informationsdefizit beziehungsweise enorme Unsicherheit besteht, zum Beispiel was die Funktion und Reichweite des Dokuments angeht. Außerdem zeigte sich, dass viele Menschen die Patientenverfügung zwar als positives Instrument der Selbstbestimmung am Lebensende ansehen, selbst aber gar keine Patientenverfügung erstellt haben."

Die Bereitschaft der Bevölkerung, sich aktiv mit dem Thema Krankheit und Sterben auseinanderzusetzen, ist also eher gering. Durchaus nachvollziehbar möchte man meinen, wer beschäftigt sich schon gern mit dem eigenen Tod. Aber die fehlende Sensibilität für dieses Thema bringt einen gravierenden Nachteil mit sich, wie Paul weiß. "Die Möglichkeiten und Grenzen der Selbstbestimmung am Lebensende werden ohne eine Patientenverfügung stark eingeschränkt und unter Umständen auch größtenteils dem Zufall überlassen", sagt der Medizinethiker. Denn auch die ärztlich und pflegerisch Tätigen sind oft nicht ausreichend informiert beziehungsweise fortgebildet. Ist ein Patient aufgrund seiner Krankheit oder seiner Bewusstseinslage nicht mehr fähig, sich zu äußern, müssen die Angehörigen zusammen mit den medizinisch Verantwortlichen entscheiden, ob eventuell sogar das kurative Therapieziel aufgegeben wird. Hier kommt die Palliativmedizin ins Spiel, über deren Möglichkeiten laut Paul auch noch viel zu wenig bekannt ist. Dabei bestehen gerade in Mainz hervorragende Bedingungen für unheilbar kranke Menschen. Sie können auf der Palliativstation der Universitätsmedizin sehr umfassend und einfühlsam betreut werden (vgl. JOGU 199), was eine Schmerzbehandlung beziehungsweise eine symptomatische Therapie mit einschließt. Generell muss zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe unterschieden werden.

Als großes Problemfeld erwies sich in der Befragung das Thema Sterbehilfe. Allzu oft gingen die Befragten davon aus, dass sie mit einer Patientenverfügung auch eine Regelung der Sterbehilfe für sich selbst erreichen können. "Hier besteht sehr großer Aufklärungsbedarf, vor allem was die Abgrenzung von Therapiezieländerung, Therapiereduktion und Palliativmedizin gegenüber der missverstandenen Sterbehilfe betrifft", erläutert Paul. Generell muss zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe unterschieden werden. Erstere bedeutet etwa, einem Sterbewilligen bewusst ein Medikament in tödlicher Dosis zu verabreichen; passiv ist die Sterbehilfe dagegen, wenn beispielsweise lebensverlängernde Maßnahmen, wie künstliche Beatmung oder Ernährung, auf Wunsch des Patienten zur Vermeidung unnötigen Leidens am Lebensende gestoppt werden. Anders als zum Beispiel in den Niederlanden steht die aktive Sterbehilfe in Deutschland generell unter Strafe und lässt sich daher auch nicht per Patientenverfügung regeln. Sehr wohl kann jedoch der Zeitpunkt des Therapieabbruchs mit Hilfe des Dokuments selbst bestimmt werden. Gerade dieser Punkt wurde von 94,6 Prozent der Befragten als die wichtigste zu regelnde Frage der Patientenverfügung angesehen.

"Insgesamt besteht noch großer Aufklärungsbedarf", meint Paul, "was beispielsweise die historisch gewachsene, ethische Problematik der Sterbehilfe in Deutschland betrifft." Zwar hat sich der Informationsstand der Bevölkerung in den letzten Jahren schon um einiges verbessert - sicher auch ein Verdienst der verstärkten Öffentlichkeitsarbeit der Mainzer Medizinethik. Aber die detaillierte Aufklärung der Menschen über die Möglichkeiten der (künstlichen) Ernährung, Beatmung, Notfallmedizin, Reanimation und Schmerztherapie sollte von ärztlicher Seite geleistet werden. Dazu muss das medizinische Personal natürlich entsprechend fortgebildet werden und die Beratung sollte wie jede andere reguläre ärztliche Leistung bei den Krankenkassen abgerechnet werden können.

Was die Weiterbildungsmöglichkeit für Ärzte und andere Berufstätige im medizinischen Bereich betrifft, ist Mainz nun bundesweit Vorreiter: Seit dem Wintersemester 2008 gibt es hier einen Masterstudiengang Medizinethik, zurzeit sind dafür rund 100 Studierende eingeschrieben. Neben theoretischen Grundlagen der Ethik widmet sich das in acht Module gegliederte Fernstudium vor allem auch praktischen Gesichtspunkten wie Sterbehilfe, diagnostischen Verfahren und rechtlichen Fragen. "Wir vermitteln ethische Entscheidungskompetenzen für den klinischen Alltag", bringt es Paul auf den Punkt. Und das kommt an: Trotz Studiengebühren von insgesamt 8.000 Euro (1.000 Euro pro Modul) verzeichnen die Mainzer steigende Bewerberzahlen.

Die von Paul maßgeblich mitgestaltete Leitlinie klärt vor allem ethische und rechtliche Fragen bezüglich des mutmaßlichen Patientenwillens und schafft so Sicherheit bei Ärzten, Patienten und Angehörigen. Oberstes Ziel aller Handlungsempfehlungen in der Leitlinie ist stets, eine Vorgehensweise zu finden, die der Patient unterstützt hätte. Zur Beurteilung dieses mutmaßlichen Patientenwillens sollen alle zur Verfügung stehenden Informationen herangezogen werden, also auch Aussagen von Angehörigen und Betreuern sowie frühere Äußerungen und Lebensentscheidungen des Patienten, die Aufschluss über seine Wertvorstellungen geben. Eine Vorsorgevollmacht, die einen Angehörigen mit den notwendigen rechtlichen Voraussetzungen zur Vertretung des Patientenwillens versieht, sollte daher unbedingt gemeinsam mit der Patientenverfügung verfasst werden. Die Leitlinie erleichtert dadurch auch den Umgang mit Patientenverfügungen, die noch nicht auf Basis des Vordrucks verfasst wurden. Dieser ist Bestandsteil der Leitlinie und ermöglicht es Patienten, eine Patientenverfügung zu erstellen, die nach medizinischen, rechtlichen und ethischen Gesichtspunkten geprüft ist und somit ein hohes Maß an Eindeutigkeit erreicht. "Dabei bleibt selbstverständlich Raum für eine Anpassung an persönliche Wertvorstellungen", betont Paul. Sowohl die Leitlinie als auch der Vordruck können im Internet heruntergeladen werden.

Für Menschen, die beabsichtigen, eine Patientenverfügung für sich selbst zu verfassen, sei gesagt, dass diese nicht notariell beglaubigt werden muss und auch jederzeit ein Widerrufrecht besteht. Dabei gilt, dass ein aktuell mündlich geäußerter Patientenwille, auch wenn dieser durch Betreuer, Bevollmächtigte oder gesetzliche Vertreter artikuliert wird, einen früher schriftlich niedergelegten Patientenwillen (Patientenverfügung) widerrufen kann. Die Angst, dass man sich durch eine Patientenverfügung an eine bestimmte Vorgehensweise im Ernstfall bindet, ist also unbegründet. Man selbst hat jederzeit die Möglichkeit, die Therapiemaßnahmen zu steuern. Das Dokument wird nur für den Fall abgefasst, dass man sich selbst nicht mehr äußern kann. Daher beinhaltet der Vordruck auch eine Vollmacht für eine nahestehende Person, der man verschiedene Befugnisse (Gesundheitssorge, Postverkehr, Behördenangelegenheiten, Vermögenssorge etc.) erteilen kann. Paul empfiehlt, sich dazu nicht ausschließlich von Juristen beraten zu lassen. Denn für die Abfassung einer im Ernstfall gut umsetzbaren Patientenverfügung bedarf es seiner Meinung nach vor allem einer guten Kenntnis über die möglichen medizinischen Entscheidungen am Lebensende; solches Wissen kann nur von Ärzten vermittelt werden.


Information: http://www.klinik.uni-mainz.de/index.php?id=9009


Prof. Dr. Norbert W. Paul ist Vorsitzender des Ethikkomitees der Mainzer Universitätsmedizin und Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Johannes Gutenberg-Universität und Leiter der Studiengangskommission des Masterstudiengangs Medizinethik.


*


Quelle:
[JOGU] - Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Nr. 208, Mai 2009, Seite 12-13
Herausgeber: Der Präsident der Johannes Gutenberg-Universität Mainz,
Univ.-Prof. Dr. Georg Krausch
Tel.: 06131/39-223 69, -205 93; Fax: 06131/39-241 39
E-Mail: AnetteSpohn@verwaltung.uni-mainz.de

Die Zeitschrift erscheint viermal im Jahr.
Sie wird kostenlos an Studierende und Angehörige
der Johannes Gutenberg-Universität sowie an die
Mitglieder der Vereinigung "Freunde der Universität
Mainz e.V." verteilt.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2009