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ETHIK/830: Interview mit Prof. Dr. Axel Bauer zur Präimplantationsdiagnostik (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 94 - 2. Quartal 2010
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

»Eine Menge Fremdbestimmung«

Interview mit Prof. Dr. Axel Bauer zur Präimplantationsdiagnostik


Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) will den Deutschen Ethikrat beauftragen, das BGH-Urteil zur Präimplantationsdiagnostik (PID) zu bewerten und Konsequenzen für den Gesetzgeber aufzuzeigen. »LebensForum« ist schon einmal vorgeprescht. Mit dem Medizinethiker Professor Dr. med. Axel W. Bauer, der dem Deutschen Ethikrat seit 2008 angehört und der die PID zu den Schwerpunkten seines dortigen Engagements zählt, sprach Stefan Rehder.


Lebensforum: Herr Professor Bauer, der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes (BGH) entschied Anfang Juli, dass die Präimplantationsdiagnostik (PID) nicht gegen das Embryonenschutzgesetz (ESchG) verstößt. Wie konnten sich die Reproduktionsmediziner, die sich seit Jahren darüber beklagten, dass ihre Kollegen im Ausland künstlich erzeugte Embryonen selektieren und dies ihren Patienten auch in Rechnung stellen dürfen, derart gewaltig und geschäftsschädigend irren?

Professor Axel W. Bauer: Die PID ist in Deutschland seit mehr als zehn Jahren ein intensiv diskutiertes rechtspolitisches und medizinethisches Thema gewesen. Technische Voraussetzung für die PID war damals die Abspaltung einer in der Regel gerade noch totipotenten Zelle aus dem 8-10-Zellenstadium zum Zweck der genetischen Untersuchung. Da aber nach Paragraf 8, Absatz 1 des bereits am 1. Januar 1991 in Kraft getretenen Embryonenschutzgesetzes (ESchG) »jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag«, ihrerseits als Embryo im Sinne des Gesetzes gilt, wäre die Abspaltung einer solchen Zelle in Deutschland als strafbewehrtes Klonen im Sinne von Paragraf 6, Absatz 1 ESchG aufzufassen gewesen. Das Verbot der PID wurde weiterhin gestützt durch Paragraf 2, Absatz 1 ESchG, wonach die Verwendung eines extrakorporal erzeugten Embryos »zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck« mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft würde. Zusätzlich ging man davon aus, dass auch Paragraf 1, Absatz 1, Nr. 2 ESchG der PID entgegenstünde, wonach es strafbar ist, »eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt«. Obwohl diese - nachträgliche - Auslegung des ESchG niemals unumstritten war, wurde die PID in Deutschland von den Reproduktionsmedizinern wegen der genannten juristischen Bedenken nicht durchgeführt.

Schon zu Beginn dieses Jahrzehnts wurde jedoch durch zellbiologische Forschungen die These erhärtet, dass Embryonen jenseits des 8-Zellen-Stadiums praktisch nicht mehr totipotent sind, so dass bei einer Untersuchung in diesen späteren Entwicklungsstadien Paragraf 8, Absatz 1 ESchG nicht mehr eingreifen würde. Um solche Untersuchungen jenseits des Stadiums der Totipotenz handelte es sich in dem jetzt vom BGH zu entscheidenden Fall. Eine Expertenkommission der Bundesärztekammer sprach sich schon im Jahr 2000 unter bestimmten Bedingungen für die Erlaubnis der PID aus: Es müsse sich um Paare handeln, bei denen Unfruchtbarkeit durch eine künstliche Befruchtung therapiert werden solle und bei denen ein hohes Risiko für eine bekannte und schwerwiegende genetische Erkrankung vorliege. Der von der Expertenkommission erarbeitete Richtlinienentwurf wurde vom damaligen Bundesgesundheitsministerium unter Ministerin Andrea Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) umgehend scharf kritisiert, weil er ein Einfallstor zur Embryonenforschung und zum Eingriff in die Keimbahn darstelle. Auch innerhalb der Bundesärztekammer sowie im »Deutschen Ärzteblatt« fand eine lebhafte und kontrovers geführte Debatte statt. Nun hat der BGH mit einem Schlag alle rechtlichen Bedenken gegen die PID, die aus dem ESchG abgeleitet wurden, für obsolet erklärt.

Als der Gesetzgeber das Embryonenschutzgesetz erarbeitete, war die PID noch gar nicht entwickelt, konnte also auch nicht explizit verboten werden. Muss man aber nicht aus dem Wortlaut des Gesetzes schließen, dass der Gesetzgeber die PID verboten hätte, wenn er von ihr Kenntnis gehabt hätte?

Nach Meinung des BGH kann aus den Strafbestimmungen von Paragraf 1, Absatz 1, Nr. 2 und Paragraf 2, Absatz 1 ESchG nicht mit der im Strafrecht (wegen des Analogie- und Rückwirkungsverbots aus Artikel 103, Absatz 2 des Grundgesetzes) erforderlichen Bestimmtheit ein Verbot der PID abgeleitet werden. Deswegen urteilte der BGH jetzt, dass das Handeln des Angeklagten weder gegen den Wortlaut noch gegen den Sinn des Gesetzes verstoßen habe. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber die PID verboten hätte, wenn sie bei Erlass des ESchG schon zur Verfügung gestanden hätte. Diese Behauptung des BGH ist allerdings ihrerseits eine kühne und rein spekulative These, die durch historische Fakten nicht belegt werden kann. Entscheidend für die Zukunft ist allerdings, was der heutige Gesetzgeber, das heißt also die derzeitige Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, über die Legitimität der Präimplantationsdiagnostik denkt und welche rechtlichen Konsequenzen aus dem Leipziger Urteil gezogen werden.

Laut dem katholischen Moraltheologen Eberhard Schockenhoff, der wie Sie Mitglied des Deutschen Ethikrates ist, verstößt die PID auch gegen Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes, das eine Benachteiligung wegen einer Behinderung verbietet. Die Richter sind darauf - die ausführliche Urteilsbegründung steht ja noch aus - bislang nicht eingegangen. Hat der BGH da etwas übersehen oder irrt sich Ihr Kollege?

»Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« So steht es in Artikel 3, Absatz 3, Satz 2 des Grundgesetzes. Strittig ist dabei unter Verfassungsrechtlern die Frage, ob durch dieses Grundrecht auch schon der menschliche Embryo vor seiner Implantation in die Gebärmutter der Frau geschützt wird. Falls dies so sein sollte, dann wäre nicht nur die PID ein Verstoß gegen das Grundgesetz, sondern ebenso und erst recht die Spätabtreibung nach einer Pränataldiagnostik. Ich kann die Argumentation von Herrn Schockenhoff durchaus nachvollziehen. Es wäre dann aber weiter zu überlegen, ob das jetzige Urteil des BGH dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt werden sollte. Das Resultat einer solchen verfassungsrechtlichen Überprüfung wäre aber ebenso wenig vorhersehbar wie das aktuelle BGH-Urteil. Bislang hat das Bundesverfassungsgericht noch nie über den rechtlichen Status des extrakorporalen Embryos entscheiden müssen. Eine solche höchstrichterliche Entscheidung birgt für den Lebensschutz Chancen, aber durchaus auch Risiken.

Bleiben wir beim BGH. Der behauptet, die PID als solche schade dem Embryo nicht. Kritiker der Embryonenselektion sehen das anders. Sie behaupten, dass zahlreiche Embryonen den Gen-Check gar nicht überlebten. Ist der BGH falsch informiert gewesen?

Die PID ist ein manipulativer Eingriff in den frühen Embryo, bei dem Zellen für Untersuchungszwecke entnommen werden. Der Gesundheit des betroffenen Embryos dient ein solcher Eingriff sicher nicht. Zum einen kann der winzige Embryo bei der Zellentnahme selbst irreparabel beschädigt werden, zum anderen fehlen ihm, jedenfalls nach der Entnahme, die besagten Zellen. Da die Zellen in diesem Stadium bereits nicht mehr totipotent sind, ist es keineswegs sicher, dass ihre Wegnahme in allen Fällen problemlos durch weitere Zellteilungen kompensiert werden kann. Da der frühe Embryo für die Reproduktionsmediziner aber ohnehin nur ein mikroskopisch kleiner Zellhaufen ist, an dem sie ihre Kunstfertigkeit erproben, stört es sie wohl kaum, wenn ein Embryo infolge der PID zugrunde geht. Es werden dann eben neue hergestellt.

Kritiker der PID behaupten auch, mittels PID würden selbst Embryonen selektiert, die später gesund wären, weil die PID die »Selbstheilungskräfte« des Embryos unberücksichtigt lasse (Stichwort: Mosaikbildung). Was muss man sich unter den »Selbstheilungskräften« des Embryos vorstellen?

Bei jedem biomedizinischen Untersuchungsverfahren gibt es »falsch positive« und »falsch negative« Ergebnisse. Bei einem »falsch positiven« Resultat, das Sie ansprechen, wird die zu testende Krankheitsanlage fälschlicherweise diagnostiziert, obwohl sie gar nicht vorhanden ist. Bei einem »falsch negativen« Ergebnis würde die gesuchte Krankheitsanlage dagegen fälschlicherweise übersehen, obwohl sie vorliegt. »Falsch positive« Ergebnisse kommen besonders dann zustande, wenn die angewendete Untersuchungsmethode eine hohe Sensitivität aufweist, wenn sie also darauf angelegt ist, möglichst wenige Krankheitsanlagen zu übersehen. Was die Frage der »Selbstheilungskräfte« des Embryos angeht, so bin ich hier kein Experte. Sicherlich kann man aber sagen, dass die genetische Untersuchung eines wenige Tage alten Embryos nicht ausreichen kann, um seine spätere körperliche und geistige Entwicklung im Detail sicher zu prognostizieren.

Der BGH rechtfertigt sein Urteil unter anderem damit, die PID sei geeignet, die Zahl der Abtreibungen zu reduzieren. Sie haben sich auch mit dem Thema Spätabtreibungen beschäftigt. Erwarten Sie eine Reduktion von Spätabtreibungen?

Mangels einer aussagekräftigen Statistik haben wir bei den so genannten Spätabtreibungen eine hohe Dunkelziffer. Es ist vollkommen spekulativ, wenn jetzt behauptet wird, durch die Einführung der PID könne die Zahl der Spätabtreibungen gesenkt werden. Es dürfte eher so sein, dass die Bandbreite von »Normalität«, die in unserer Gesellschaft künftig noch toleriert werden wird, durch die Möglichkeiten, welche die PID bietet, immer schmaler werden wird. Immer kleinere Abweichungen von der vermeintlichen »Idealnorm« werden künftig bereits durch die PID vorselektiert werden, und diese Entwicklung wird sich nach erfolgter Pränataldiagnostik fortsetzen. Denn ein Embryo, der nach einer PID erfolgreich in die Gebärmutter implantiert werden konnte, hat ja nur die erste Hürde künftiger »QualitätsChecks« überlebt. Bis zur Geburt bleiben dann immer noch rund 260 Tage, in denen Humangenetiker, Gynäkologen und werdende Eltern dem Embryo beziehungsweise später dem Fötus das (Über-)Leben weiterhin schwer machen können.

Der BGH betont in seiner Pressemitteilung, Gegenstand seiner Entscheidung sei nur die Untersuchung von Zellen auf »schwerwiegende genetischen Schäden« gewesen. Einer »unbegrenzten Selektion von Embryonen« würde durch das Urteil deshalb keineswegs der Weg geebnet. Kritiker befürchten jedoch schon die Geburt von Designerbabys. Redet sich der BGH sein Urteil hier schön oder übertreiben die Kritiker des Urteils?

Diese Äußerung in der Pressemitteilung des BGH habe ich überhaupt nicht verstanden. Hier muss man auf den genauen Urteilstext warten. Ich halte es aber für völlig ausgeschlossen, dass sich die nunmehr erlaubte PID dauerhaft auf bestimmte, als besonders schwerwiegend geltende Krankheiten oder Behinderungen eingrenzen lässt. Zum einen läge dann tatsächlich eine grundgesetzwidrige Diskriminierung derjenigen Menschen vor, die unter einer solchen Krankheit oder Behinderung leiden. Eine konkrete Liste mit für eine PID zugelassenen Krankheiten oder Behinderungen wird es also schon aus diesem Grund nicht geben. Zum anderen werden aber die dann als Alternative zu Gebot stehenden Einzelfallentscheidungen die Tendenz haben, immer mehr Normabweichungen für »schwerwiegend« zu erklären, denn dieser wertende Begriff ist nirgendwo scharf definiert und unterliegt naturgemäß einem enormen kulturellen, sozialen und historischen Interpretationsspielraum.

Binnen weniger Tage hat der BGH zwei schwerwiegende Entscheidungen getroffen. Das so genannte Grundsatzurteil zur Sterbehilfe und das jetzt ergangene zur PID. Werden strittige Fragen künftig durch Gerichte entschieden? Anders gefragt: Wäre es nicht vielmehr Aufgabe des Gesetzgebers, solche Fragen zu regeln?

Grundsätzlich ist es so, dass Gesetze einen gewissen Abstraktionsgrad besitzen müssen, um auf Dauer anwendbar und flexibel zu bleiben. Die jeweils aktuelle Interpretation von Gesetzen erfolgt durch die Gerichte. Das ist im Prinzip nicht zu kritisieren. Problematisch sind die Dinge jedoch vor allem im Strafrecht, das ja seiner Natur nach fragmentarisch angelegt ist und das, wie ich eingangs schon erwähnt habe, sehr präzise formuliert sein muss, da es nicht analog und rückwirkend interpretiert werden darf. Was wir nun sowohl im Fall der Sterbehilfe als auch im Fall der PID in den letzten Wochen durch die beiden BGH-Urteile erlebt haben, ist die Folge einer seit etwa 15 Jahren zunehmenden »liberaleren« Auslegung der entsprechenden Strafgesetze. Wir haben es mit einer gesellschaftlichen Entwicklung hin zu immer mehr Individualität und vermeintlicher »Selbstbestimmung« am Lebensanfang und am Lebensende zu tun, hinter der sich in Wirklichkeit aber politische Motive, finanzielle Interessen von Leistungsanbietern, demografische Probleme, kurzum eine Menge an Fremdbestimmung verbergen. Dieser Entwicklung unterliegt auch der Gesetzgeber. Der Gesetzgeber, das sind ja die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die von uns alle vier Jahre gewählt werden. An dieser Stelle allerdings haben die Bürgerinnen und Bürger jedoch einen gewissen Einfluss auf die Gestaltung künftiger Rechtsnormen, den sie durchaus nutzen können.


IM PORTRAIT

Prof. Dr. med. Axel W. Bauer
Jahrgang 1955, Studium der Medizin in Freiburg, 1980 Promotion und Approbation als Arzt; 1981-1986 Hochschulassistent in Heidelberg; 1986 dort Habilitation und Privatdozent für Geschichte der Medizin; seit 2004 Professor für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin und Leiter des gleichnamigen Fachgebiets an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg; 2001-2005 Mitglied im Beirat »Bio- und Gentechnologie« der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, seit 2004 Vorsitzender des Klinischen Ethik-Komitees (KEK) der Universitätsmedizin Mannheim und seit 2008 Mitglied im Deutschen Ethikrat.


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 94, 2. Quartal 2010, S. 12 - 14
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. September 2010