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ETHIK/839: Was heißt denn "gesund"? (Uni-Journal Jena)


Uni-Journal Jena - Nr. 02 - Sommersemester 2010

Was heißt denn "gesund"?

Prof. Knoepffler mit dem Versuch einer Begriffsklärung


Was ist eigentlich mit "gesund" gemeint? Im Rahmen medizinischer Sachkenntnis sind dies empirisch erhebbare und beschreibbare Parameter, die eine physische und psychische Funktionalität erkennen lassen. In vielen Fällen ist damit die Frage bereits entschieden, ob jemand als gesund zu verstehen ist oder nicht, beispielsweise bei einem schweren Herzinfarkt. In anderen Fällen jedoch ist diese Frage gerade nicht entschieden, wie etwa die Auseinandersetzung um eine Beurteilung der Veranlagung zur Homosexualität zeigt. Die wurde aus dem Krankheitsregister der Psychopathologien zwar gestrichen, wird nach katholischer Lehrmeinung aber noch immer als krankhafte Veranlagung bezeichnet, der nachzugeben als eine schwere Sünde verstanden wird. Hier zeigt sich, in welch hohem Maß eine gruppenspezifische, aber auch die individuell-subjektive Konstruktionstätigkeit mitbestimmt, was als Funktionalität bzw. Nicht-Funktionalität gelten soll.

Dennoch bedeutet diese Konstruktionstätigkeit eben gerade nicht, dass "gesund" einer reinen Konstruktion entspringt. Wie wir im Stande sind, Tag und Nacht auseinanderzuhalten, so können wir auch recht gut unterscheiden, was wir unter Gesundheit und unter Krankheit verstehen. Jeder, der beispielsweise schon einmal einen Bandscheibenvorfall hatte, kann dies bestätigen. Er ist krank. Oder wie meine Tochter als Vierjährige mit schwacher Stimme sagte, als sie sich Salmonellen geholt hatte: "Papa, jetzt bin ich wirklich krank."

Allerdings gibt es eben auch Zeiten der "Dämmerung" - übertragen menschliche Zustände -, von denen es nicht einfach ist zu sagen, ob sie als gesund oder krank anzusehen sind. Selbst ein betroffener Mensch weiß manchmal nicht, ob er noch gesund oder schon krank ist. Ist eine leichte Erkältung schon eine "Krankheit" - meine Tochter würde dies verneinen - oder bin ich doch noch gesund genug, um zur Arbeit zu gehen?


Veranlagung für Krankheiten

Die neuen Möglichkeiten der Gentechnik, insbesondere der Gendiagnostik, lassen zudem mehr und mehr erkennen, wie sehr jeder einzelne von uns für bestimmte Krankheiten veranlagt ist. Dennoch ist der Mensch so lange gesund, solange diese genetische Grundlage noch nicht die betreffende Krankheit hat ausbrechen lassen. Hierfür ist der klassische Unterschied zwischen einem bereits eingetretenen Ereignis - Ausbruch einer Krankheit - und einem Ereignis, das mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit oder sogar mit Sicherheit eintreffen wird, aber eben noch nicht eingetroffen ist, von zentraler Bedeutung. Dies lässt sich auch leicht daraus ersehen, dass jeder Mensch einmal sterben muss. Mit dem Tod ist damit für jeden das Gesundsein zu Ende und nach medizinischer Definition geht jedem Tod eine Krankheit im Sinne einer Dysfunktionalität voraus.


Fließende Übergänge

Wie aber steht es mit genetisch bedingten Dysfunktionalitäten, die den meisten Menschen als Behinderungen erscheinen, bei denen sich aber manche Betroffenen als gesund bezeichnen würden? Man denke an den Fall in England, bei dem ein lesbisches Taubstummenpaar die Präimplantationsdiagnostik mit der Zielsetzung verwenden ließ, ein taubstummes Kind zu bekommen. Hier zeigen sich erneut die Grenzen dessen, wie unterschiedlich "Gesundheit" verstanden wird. Die Begründung des Paares lautete nämlich, dass sie dem Kind die Möglichkeit geben wollen, die wertvollen Erfahrungen der Gemeinschaft taubstummer Menschen zu teilen und so zu einem besonderen Lebensstil befähigt zu werden. Hier wird eine üblicherweise als Behinderung verstandene Einschränkung - nicht in "normaler" Weise hören und sprechen zu können - als eine besondere Begabung ausgelegt. Ich teile diese Deutung zwar nicht, aber sie widerlegen zu können, fällt nicht leicht. Jede Widerlegung setzt nämlich interpretationsoffene Begrifflichkeiten von "Norm", "Behinderung" und "Begabung" voraus. Im Fall des Taubstummseins dürfte den meisten Menschen noch sehr deutlich sein, dass hier der Begriff "Behinderung" angemessen ist. Wie aber ist ein Mensch einzuschätzen, der in einem Bereich eine phantastische Begabung zeigt, beispielsweise ein großartiger Schachspieler ist, aber im normalen Leben ohne fremde Hilfe nicht "funktionieren" kann?

Die fließende Grenze zwischen Gesundheit im Sinne von normaler Funktionsfähigkeit und Krankheit im Sinne von Nicht-Normalität zeigt sich bei der Frage nach dem Umgang mit Kleinwüchsigkeit. So gibt es auf der Erde Populationen, die im Durchschnitt deutlich kleiner werden als beispielsweise der "normale" Deutsche. Wenn ein deutsches Kind kleinwüchsig ist, kann es mit Hilfe der Krankenkasse eine Hormontherapie finanziert bekommen, um so dem Wachstum nachzuhelfen. Kleinwüchsigkeit wird hier als Krankheit verstanden, selbst wenn die betreffende Person 1,50 m ohne diese Therapie an Größe erreicht hätte, was in manchen Teilen der Erde ganz normal ist. Ab wann aber ist Kleinwüchsigkeit als eine Krankheit oder Behinderung zu behandeln, ein kleinwüchsiger Mensch also nicht mehr ganz gesund? Wieder wird hier das Dämmerlicht der Begrifflichkeit deutlich, das unser Verständnis von Gesundheit in manchen Fällen beleuchtet.

Genau in die gegenteilige Richtung scheint ein Verständnis von Gesundheit zu gehen, wie es die World Health Organisation formuliert hat. Sie bestimmt Gesundheit als einen "Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur des Freiseins von Krankheit und Gebrechen". Nach diesem Verständnis ist eigentlich niemand gesund, weil es praktisch jeden "irgendwo zwickt".

Medizinethiker, wie mein Oxforder Kollege Julian Savulescu, haben vor diesem Hintergrund einen perfektionistischen Imperativ aufgestellt: Wir haben die Pflicht, mit Hilfe gendiagnostischer Techniken wie der Präimplantationsdiagnostik möglichst dafür zu sorgen, dass unsere Nachkommen möglichst gute, der vollständigen Gesundheit förderliche Anlagen bekommen. Wir sollten deshalb mit Hilfe der Diagnostik genau diese Nachkommen auswählen. Ich teile diesen ethischen Perfektionismus nicht, auch wenn ähnlich wie oben eine Widerlegung der Position nicht einfach ist. Meine Überzeugung lautet, dass wir gerade keine Pflicht zur Perfektion haben, sondern ein gutes Leben auch Unvollkommenheiten einschließen kann, ohne dass man damit schon als krank gelten müsste.

Darüber hinaus gibt es noch ein philosophisches Verständnis von Gesundheit, das mit dem Namen von Martin Heidegger assoziiert werden kann. Er spricht davon, dass jeder Mensch die "Krankheit zum Tode" hat. Die Antwort beispielsweise des Christentums auf diese Erfahrung, dass wir einmal auf dieser Erde werden sterben müssen, besteht darin, uns Jesus Christus als den Heiland zu verkünden, der das Heilmittel der Unsterblichkeit (pharmakon athanasias) in der Einsetzung des Abendmahls gegeben hat. Mit Hilfe dieser Medizin kann dann sogar die Krankheit zum Tode überwunden und die gemäß dieser Deutung eigentliche und wahre Gesundheit erlangt werden.


Prof. Dr. mult. Nikolaus Knoepffler leitet des Ethikzentrum der Jenaer Universität und befasst sich u.a. mit den ethischen Aspekten der modernen Medizin - von der Forschung an embryonalen Stammzellen, über die Gentechnologie bis zur Transplantationsmedizin.


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Quelle:
Uni-Journal Jena Nr. 02, Sommersemester 2010, S. 39
Herausgeber: Rektor der Friedrich-Schiller-Universität Jena
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2010