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GESCHICHTE/596: Ärzte in der NS-Zeit - Unmenschliche Tests durch Kieler Ärzte (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 6/2015

Ärzte in der NS-Zeit
Unmenschliche Tests durch Kieler Ärzte
Die Verstrickung des Physiologen Ernst Holzlöhner und anderer Kieler Universitätsärzte in NS-Medizinverbrechen.

Von Karl-Werner Ratschko


Kieler Universitätsmediziner sind auch an den unmenschlichen Humanexperimenten an KZ-Häftlingen in der NS-Zeit beteiligt. Mit ihnen wollte das Regime ohne Rücksicht auf Gesundheit und Leben der unfreiwilligen Versuchspersonen zu schnellen medizinischen Ergebnissen kommen, die auch direkt oder indirekt der Optimierung der Kriegsführung dienen sollten.

Zwei Ärzte der Kieler Medizinischen Fakultät, der Physiologe Ernst Holzlöhner und der Assistenzarzt aus der Medizinischen Klinik Erich Finke, führten als Stabsärzte der Luftwaffe 1941 im Konzentrationslager (KZ) Dachau Unterkühlungsversuche an KZ-Häftlingen durch, ein dritter, der Dermatologe Vonkennel, war Anfang 1943 einem Ruf nach Leipzig gefolgt, setzte aber dort die in Kiel begonnenen Arbeiten fort. Die mit dem SS-Sturmbannführer in Zusammenhang stehenden Versuche wurden 1944 im KZ Buchenwald vorgenommen. Die Untersuchungen zur praktischen Durchführung einer "Sterilisierung von Jüdinnen durch Einspritzen einer Reizflüssigkeit" wurden von SS-Brigadeführer Carl Clauberg, einem ehemaligen Schüler des Kieler Direktors der Frauenklinik Robert Schröder vorgenommen, der schon 1932 aus Kiel nach Königsberg gewechselt war, während die eigenmächtigen Versuchsoperationen, die von dem Kieler chirurgischen Volontärassistenten und stellvertretenden Leiter des Krankenreviers im KZ Sachsenhausen, dem SS-Obersturmführer Ernst Frowein, 1942/43 zur angeblichen Behandlung der Schrumpfblase vorgenommen wurden, auf eigener Initiative beruhten.(1)

Experimente an KZ-Häftlingen können nach Vorschlägen der israelitischen Historikerin Nava Cohen in zwei Kategorien eingeteilt werden: "1. Versuche, deren Zielsetzung zwar der medizinischen Ethik nicht widersprach, deren Durchführung jedoch die Moral verletzte; 2. Versuche, deren Zielsetzung gegen die menschliche Ethik und die allgemeinen Normen der medizinischen Forschung verstießen." Die erste Kategorie unterteilt Cohen noch in zwei Untergruppen: "1a. Experimente bezogen auf Überlebensfähigkeit und Lebensrettung und 1b. solche, die medizinische Behandlungsmethoden betrafen (Zielgruppen Kriegsverletzte, Opfer von Gasangriffen und Seuchenkranke)".(2) Holzlöhners Unterkühlungsexperimente an Häftlingen des KZ Dachau sind in Untergruppe 1a, die Vonkennelschen Sulfonamidversuche an Häftlingen mit Fleckfieber des KZ Buchenwald in Untergruppe 1b, Claubergs Experimente an weiblichen Häftlingen in Auschwitz und Ravensbrück und Froweins chirurgische Eingriffe an Häftlingen des KZ Sachenhausen in die Kategorie 2 einzuordnen. Bei Frowein kommt als Besonderheit dazu, dass er seine Versuche bei Häftlingen in Oranienburg in eigener Machtvollkommenheit durchführte.

Der Physiologe und SS-Sturmbannführer Ernst Holzlöhner war anders als die drei anderen aus der Kieler medizinischen Fakultät stammenden Ärzte zum Zeitpunkt seiner Versuche an Menschen zwar Stabsarzt der Luftwaffe, aber auch Mitglied der Kieler medizinischen Fakultät. Die Versuche im KZ Dachau wurden im Auftrag der Luftwaffe mit maßgeblicher Unterstützung Himmlers durchgeführt, Holzlöhner hatte in der ersten Phase die Leitung und Planung.

Die Person Ernst Holzlöhners

Ernst Holzlöhner wurde am 23. November 1899 in Karalene/Insterburg geboren, die Promotion erfolgte 1924 in Würzburg, die Habilitation 1929 in Berlin, 1932 wurde er außerplanmäßiger Professor in Berlin. Holzlöhners "politischer" Lebenslauf ist durchaus als typisch für den eines nationalsozialistischen Hochschulfunktionärs anzusehen. Im November 1917 war er noch als Kriegsfreiwilliger Soldat geworden und an der Westfront eingesetzt. Er wurde als Fahnenjunker-Unteroffizier entlassen. 1921 war er, wie viele andere den radikalen Parteien zuneigende Akademiker, einige Monate Mitglied des Freikorps Selbstschutz Oberschlesien, 1923 dann des Bundes Oberland Würzburg. Aus beiden gingen später u. a. auch Teile der SA hervor. 1933/34 war Holzlöhner Mitglied des Sanitätsdienstes der SS und wechselte 1934 zum Fliegersturm. Am 1. Mai 1933 in die NSDAP eingetreten,(3) wurde Holzlöhner 1933/34 in Berlin Führerstellvertreter der Preußischen Dozentenschaft. Gleich nach Dienstantritt in Kiel übernahm er dann im November 1934 die Führung der Dozentenschaft der Universität und des NS-Dozentenbundes Kiel.(4) Seine positive Haltung zur nationalsozialistischen Ideologie in dieser Zeit ist einem Beitrag der Zeitschrift "Die Tat" aus dem Jahr 1934 zu entnehmen, in dem sich Holzlöhner programmatisch mit der neuen Bedeutung der Dozentenschaft im nationalsozialistischen Staat befasste.(5) Formulierungen wie "Nachdem aber das ganze Volk durch seinen Führer das Ziel erkannt hat und auf allen Wegen marschiert [...]" oder "Die Wissenschaft hat nicht dem neuen Staat Konzessionen zu machen, sie wird den Grundgedanken des Nationalsozialismus aufsaugen und verarbeiten müssen, weil sie sonst zugrunde geht" zeigen, wie sehr Holzlöhner die Wissenschaft nicht nur in den Dienst des nationalsozialistischen Staates stellen, sondern sie ihm unterordnen wollte. Die Schaffung der Dozentenschaft als einer "Fakultät der Jugend" solle den Einfluss aller Dozenten und Assistenten ohne Beamtenverhältnis gegenüber den etablierten verbeamteten Professoren verstärken, nachdem die Wissenschaft sich "die radikalste Lösung", "auf die Mitarbeit aller Bisherigen zu verzichten und alles von der Ausbildung eines neuen Menschentyps zu erwarten" nicht habe leisten können.(6) Die Berufung Holzlöhners als Nachfolger Höbers gestaltete sich Anfang 1934 nicht so komplikationslos, wie man es bei seiner politischen Hingabe zum NS-Regime hätte vermuten können. Es gab verständlicherweise keine Probleme mit der NS-Hochschulkommission in München, sondern vielmehr Konflikte zwischen Ministerium und Universität und innerhalb der Universität auf der einen Seite zwischen den NSDAP-Mitgliedern Rektor Wolf und Dekan Schröder, sowie auf der anderen Seite dem eingeschworenen nationalsozialistischen Dozentenführer Lothar Löffler. Löffler schlug Holzlöhner in der Fakultätssitzung vom 26. Februar 1934 für Platz 3 auf der dem Ministerium vorzulegenden Liste vor und entsprechend wurde auch in der Sitzung beschlossen. Dekan Schröder teilte jedoch in seinem Schreiben vom 26. März 1934 an den Kurator über den Rektor eine vom Beschluss der Fakultät abweichende Dreierliste mit: "1. Rein/Göttingen, 2. Wagner/Erlangen 3. Achelis/Berlin".(7) Holzlöhner wurde trotz der Entscheidung der Fakultät nicht genannt. Ein nicht ungeschickter, vielleicht etwas plumper Schachzug der Kieler war auch das hierbei ausgesprochene Votum, mit dem sich die Universität Kiel für die Berufung des als hauptamtlicher Referent im Ministerium tätigen, an der Berliner Universität als außerplanmäßiger Professor lehrenden Physiologen und Ministerialrats Prof. Dr. Johann Daniel Achelis auf den Kieler Lehrstuhl für Physiologie einsetzte.(8) Rektor, Dekan und die Medizin-Ordinarien wollten also Holzlöhner trotz oder vielleicht sogar gerade wegen seines nationalsozialistischen Engagements nicht. Auch im Ministerium bestanden noch Zweifel bezüglich der Berufung Holzlöhners. Einen Streit mit der Hochschulkommission wollte man wegen dieser Personalie jedoch nicht. Erst als die Hochschulkommission ihr Einverständnis gab,(9) erfolgte zum 9. Oktober 1934 die Berufung von Ernst Holzlöhner auf den Lehrstuhl für Physiologie in Kiel.(10) Seitens des Ministeriums wurde ihm neben einem eher im unteren Bereich der Hochschullehrervergütungen befindlichen Jahresgehalt von 8.000 RM jährlich u.a. eine Kolleggeldgarantie von jährlich 1.000 RM, eine befristete außerplanmäßige Assistentenstelle sowie eine zusätzliche Schreibkraft und ein Mechaniker zugesagt. Über seine Erscheinung als Hochschullehrer aus Studentensicht berichtet Stephan Pfürtner als Zeitzeuge aus dem Sommersemester 1942: "Holzlöhner war ein kleiner, zierlicher Mann. Er sprach leise, wirkte auf mich feinfühlig wie ein sensibler Musiker, trug eine schmale, goldumrandete Brille und kam meist in der Uniform eines Sanitätsoffiziers der Luftwaffe. Er hatte wie Freerksen eine sehr ruhige Umgangsart mit Studenten und vermochte, uns Prozesse der Physiologie didaktisch ausgesprochen klug zu vermitteln.[...]"(11)

Holzlöhners Unterkühlungsversuche an Dachauer KZ-Häftlingen

In dem auf den Sieg gegen Frankreich 1940/41 folgenden "Luftkrieg gegen England" hatten über dem Ärmelkanal zahlreiche Flieger der Luftwaffe oft aus Treibstoffmangel notwassern müssen und waren im kalten Wasser nach kurzer Zeit durch Unterkühlung zu Tode gekommen. Die Luftwaffe wollte die Ursachen des schnellen Kältetodes herausfinden und einen Schutz dagegen entwickeln.(12) Bereits am 24. Februar 1942 hatte Erich Holzlöhner vom Inspekteur des Sanitätswesens der Luftwaffe, Generaloberstabsarzt Prof. Erich Hippke, den Auftrag erhalten, eine Untersuchung zum Thema "Die Wirkung der Abkühlung auf den Warmblüter" durchzuführen. Ergänzend dazu wurden auf Vorschlag von Stabsarzt Dr. Rascher, einem Schüler Schittenhelms(13) und Protegé Himmlers, die Untersuchungen auf den Menschen ausgedehnt. Zur Durchführung der Untersuchungen an Dachauer KZ-Häftlingen wurde eine Versuchsgruppe "Seenot" zusammengestellt, bestehend aus Prof. Holzlöhner als Leiter sowie den Stabsärzten Dr. Rascher und Dr. Finke.(14)

Im August 1942 begannen die unmenschlichen Versuche. Die Häftlinge aus dem KZ Dachau wurden in einem Wasserbottich mit Wassertemperaturen von 2,5 bis 12 Grad stark unterkühlt, die Körpertemperatur und der Herzschlag kontinuierlich gemessen, bei jeder Verminderung der Körpertemperatur um ein Grad Blut und Urin abgenommen und über Punktionen des Rückenmarkkanals Hirn-Rückenmarksflüssigkeit gewonnen.(15) Die KZ-Häftlinge wurden hierbei auf eine Körpertemperatur bis zu 26,5 Grad abgekühlt.(16) Die "Unterkühlungsuntersuchungen" wurden in zwei Gruppen mit insgesamt ca. 280 bis 300 Versuchspersonen durchgeführt. Holzlöhner und Finke waren ausschließlich an der Gruppe 1 beteiligt, die ungefähr 50-60 Häftlinge aus Dachau umfasste. Einzelheiten der Versuche wurden in den Verhören im Nürnberger Ärzteprozesses bekannt.(17) Aus der Gruppe 1 kamen 15-18 Personen um.(18) Rascher äußerte sich über die Haltung Holzlöhners zu den Kälteversuchen am 9. Oktober 1942 in einem Schreiben an Himmler: "Da Prof. Holzlöhner die wissenschaftliche Verwertung der Versuche im Interesse seines wissenschaftlichen Namens (Menschenversuche: Pfui) ablehnt, werde ich die Auswertung über das Universitätsinstitut von SS-Obersturmbannführer Prof. Pfannenstiel vornehmen."(19) In einem "Bericht über Abkühlversuche am Menschen" vom 10. Oktober 1942 wurde Himmler durch die Arbeitsgruppe Holzlöhner/Rascher/Finke informiert und um Freigabe für eine Ende Oktober 1942 vorgesehene Tagung von Sanitätsoffizieren gebeten.(20)

In einer Ende Oktober 1942 in Nürnberg stattfindenden Tagung der Luftwaffe über "Ärztliche Fragen bei Seenot und Winternot" berichtete Holzlöhner über die Versuche. Wenn die Unterkühlung 31 Grad erreiche, komme es zu einer Bewusstseinseintrübung, unter 30 Grad zu einer Kältenarkose und unter 28 Grad aus einer Herzarrhythmie heraus zum Herztod. Der Tod trete auch ein, wenn der Hirnstamm und das Hinterhirn (Sitz der Wärme- und Gefäßregulationszentren) unterkühlt würden.(21) Eine Bestätigung, dass sich die Beobachtungen auf Versuche an Konzentrationslagerhäftlingen bezogen, war im Anschluss an das Referat Holzlöhners den Bemerkungen Raschers zu den Versuchen zu entnehmen. Holzlöhner und Finke waren nicht bereit, weitere Experimente dieser Art durchzuführen und deswegen seit Oktober 1942 an der Durchführung der Untersuchungen nicht mehr beteiligt. Vorher hatte Holzlöhner offensichtlich nicht den Mut gehabt, dem Druck Himmlers zu widerstehen. Schon damals jedoch machte er sich keine Illusionen über die Verwerflichkeit seines Handelns. Im Sommer 1943 soll er jedenfalls seiner Sekretärin gesagt haben, dass er sicher sei, im Falle eines Sieges der Alliierten von diesen aufgehängt zu werden.(22) Der Freiburger Pathologe Büchner(23) berichtet in seinen Lebenserinnerungen auch über die Nürnberger Tagung. Es folgt eine aufschlussreiche Anmerkung: "Eine Tatsache sei hier noch besonders mitgeteilt: Der an den Experimenten beteiligte Sanitätsoffizier der Luftwaffe hatte vor seiner vorübergehenden Mitarbeit an diesen Versuchen rücksichtslose Selbstversuche über die Wirkung der Unterkühlung und ihre möglichen Gefahren durchgeführt. Auf der Tagung habe ich ihm sehr ernst ins Gewissen geredet. Im Sommer 1944 hat er mich in Freiburg aufgesucht und sich unter vier Augen wegen seiner Verfehlungen schwer ausgeklagt. Am Kriegsende hat er dem Leben seiner Familie und seinem eigenen Leben ein Ende bereitet?"(24)

Am 6. Juni 1944 wurde Holzlöhner vom Rektor der Kieler Universität Predöhl als Nachfolger Freerksens zum Prorektor ernannt.(25) Nach der vollständigen Zerstörung des Physiologischen Instituts im August 1944 wurde es erst nach Schuby, dann in die Bauernschule in Mohrkirch-Osterholz/Angeln verlegt.(26) Am 10. April 1945 erfolgte durch Minister Rust die Ernennung Holzlöhners zum Rektor der Kieler Universität für zwei Jahre als Nachfolger Predöhls. Er wurde am 6. Juni 1945 von den Britischen Militärbehörden aus seinem Amt als Hochschullehrer entlassen.(27) Nach einem Besuch des Direktors des Luftfahrtmedizinischen Instituts beim Royal Aircraft Establishment in Farnborough, Sir Bryan Matthews,(28) im Juni 1945 fühlte sich Holzlöhner enttarnt, sah zudem nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staates für sich, den Nationalsozialisten und SS-Offizier, und seine Familie keine Zukunft mehr(29) und versuchte, sich und seine Familie am 14. Juni 1945 durch Vergiftung mit Kohlenmonoxid umzubringen. Seine Ehefrau und seine damals vierzehnjährige Tochter Barbara überlebten.(30)

Weitere Medizinverbrechen von aus der Kieler medizinischen Fakultät stammenden Ärzten

Die Schwächung der Kampfkraft der deutschen Wehrmacht durch Gelbfieber, Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten, Wundinfektionen u. a. m. führte zu einer immer größeren Bedeutung der Bekämpfung von Infektionen durch die Sulfonamide, eine Arzneimittelgruppe, die u. a. durch den Kieler Dermatologen Vonkennel erforscht wurde. Die SS wurde auf ihn aufmerksam und neben seiner schon bestehenden Tätigkeit als beratender Arzt für Geschlechtskrankheiten in der Marine erfolgte jetzt die Ernennung zum beratenden Dermatologen der Waffen-SS.(31) Seine durch Himmler bewirkte Berufung nach Leipzig und die geheime Gründung eines von der SS finanzierten "Chemotherapeutischen Forschungsinstituts" unter seiner Leitung war eine Folge dieses Sachverhaltes. Für das Institut war der Reichsarzt-SS Ernst Grawitz persönlich zuständig.(32)

Die Synthese des Diaminodiphenylsulfons führte zu einem damals vielversprechenden Sulfonamid, das jedoch als Nebenwirkung eine Zyanose hervorrief. In einem Brief an den SS-Standartenführer Helmut Poppendick beim Reichsarzt-SS schlug Vonkennel, mittlerweile SS-Sturmbannführer, vor, einige orientierende Versuche bei Fleckfieberkranken machen zu lassen, um zu überprüfen, inwieweit weitere Arbeiten zur Entgiftung einen Sinn ergäben. Er bat um die Zusammenarbeit mit einer Klinik.(33) Ergebnis war die Durchführung von Fleckfieberversuchen an Häftlingen in der Fleckfieberabteilung des KZs Buchenwald. Vonkennel hatte die Humanexperimente im KZ Buchenwald nicht als solche geplant und auch nicht persönlich durchgeführt, aber er hatte Kenntnis von ihnen und unterstützte sie dadurch, dass er das Präparat zur Verfügung stellte und bei der Durchführung beratend tätig war. Er nahm die Versuche an Häftlingen des Konzentrationslagers Buchenwald billigend zur Kenntnis und machte sie durch seine Sulfonamid-Lieferungen überhaupt erst möglich.(34) Noch am 30. Januar 1945 wurde Vonkennel SS-Obersturmbannführer, im April 1945 wurde er nach der Besetzung Leipzigs durch die Amerikaner verhaftet und interniert, 1948 in Darmstadt als entlastet entnazifiziert. Er war dann in den Chemischen Werke Rheinpreußen in Düsseldorf tätig und wurde 1950 ordentlicher Professor für Dermatologie in Köln. Nachdem seine Verwicklung in die Häftlingsversuche aufgedeckt worden war, nahm er sich am 13. Juni 1963 das Leben.

Der Gynäkologe Carl Clauberg führte Menschenversuche zur Sterilisierung von Frauen im Auftrag Himmlers durch. Er war von 1925 bis 1932 Assistent bei Robert Schröder in Kiel mit dem wissenschaftlichen Schwerpunkt der Untersuchung des Menstruationszyklus und der weiblichen Sexualhormone gewesen. 1928 gelang es Clauberg, die Funktionsweise des Follikel- und des Gelbkörperhormons getrennt voneinander darzustellen und dadurch eine führende Position als Wissenschaftler für den Bereich der weiblichen Sexualhormone zu erlangen.(35) Seine menschlichen Eigenschaften deckten sich nicht mit seinen wissenschaftlichen Verdiensten. Der wegen seiner Kleinwüchsigkeit und hochgradigen Kurzsichtigkeit an Minderwertigkeitskomplexen leidende Arzt galt als Frauenheld, neigte zu Alkoholexzessen und Wichtigtuerei. 1923 hatte er in betrunkenem Zustand angeblich in Notwehr einen Mann erschossen, ohne dass dies strafrechtliche Folgen hatte.(36) Schröder wollte wohl nicht, dass er sich bei ihm habilitierte und lobte Clauberg mit einem guten Zeugnis, in dem er ihm "Fleiß, gute Forschungsarbeit und Herzenswärme als Arzt" bestätigte, 1932 nach Königsberg weg. 1933 erfolgte dort die Habilitation, 1939 wurde er außerplanmäßiger Professor.(37) Er war Mitglied der SA und seit 1933 der NSDAP, des Nationalsozialistischen Lehrerbundes und später dann SS-Brigadeführer.(38) 1940 wurde er Chefarzt der Frauenklinik des Knappschaftskrankenhauses in Königshütte in Oberschlesien.(39)

Clauberg befasste sich seit 1940 zunehmend mit der Sterilisation von Frauen durch künstlich erzeugte Entzündungen, die zu einem Verschluss der Eileiter führten. Diese Arbeiten fanden das Interesse Himmlers, da sie eine Möglichkeit boten, ohne großen Aufwand die Vermehrungsfähigkeit von Jüdinnen und "Mischlingen", deren Arbeitskraft gebraucht wurde, zu unterbinden.(40) Nach einer im Juli 1942 im Führerhauptquartier durchgeführten Besprechung mit Himmler erhielt Clauberg die Möglichkeit, an Tieren und Menschen in Auschwitz Versuche durchzuführen. Dabei war das Ziel eine Sterilisation jüdischer Frauen, von der die Betroffenen nichts merken sollten.(41) Wörtlich heißt es in dem Schreiben vom 10. Juli 1942: "Bevor Sie mit Ihrer Arbeit beginnen, würde der Reichsführer-SS noch Wert darauf legen, von Ihnen zu erfahren, welche Zeit etwa für die Sterilisierung von 1.000 Jüdinnen in Frage käme. Die Jüdinnen sollen nichts wissen. Im Rahmen einer allgemeinen Untersuchung könnten Sie nach Ansicht des Reichsführers-SS die entsprechende Spritze verabreichen." Clauberg führte die Experimente an etwa 700 20- bis 30-jährigen weiblichen KZ-Häftlingen durch, denen ein formalinhaltiges Mittel gespritzt wurde, das eine Entzündung in den Eileitern bewirkte. Die darauffolgenden Verklebungen und Vernarbungen führten meistens zu einer Unfruchtbarkeit. Alle überlebenden Frauen berichteten, dass nach der Injektion ein fürchterlich brennendes Gefühl im Eileiter eintrat.(42) Mindestens sechs Frauen starben durch die Einspritzungen. Fast alle litten wegen des brutalen Vorgehens und der unzulänglichen Hygiene bei den Eingriffen an starken Schmerzen und Infektionen. Viele sterilisierte Frauen wurden anschließend in das Vernichtungslager Birkenau zurückgeschickt und dort ermordet.(43) Clauberg floh im Januar 1945 vor der Roten Armee in das KZ Ravensbrück, wo er seine Experimente fortsetzte. Am 8. Juni 1945 wurde er in Schleswig-Holstein verhaftet und in der Sowjetunion wegen der Ermordung sowjetischer Staatsbürger zu einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren verurteilt.(44) 1955 in die Bundesrepublik zurückgekehrt, fehlte ihm jede Einsicht in die Verwerflichkeit seines Handelns. Nach einer Zwischenstation "als gemeingefährlicher Geisteskranker" im Landeskrankenhaus Neustadt - dort wurde bei der Entlassung seine Unzurechnungsfähigkeit verneint und ihm eine abnorme Persönlichkeit bescheinigt - wurde er Ende 1956 wegen schwerer Körperverletzung in mindestens 170 Fällen, davon vier mit Todesfolge, von der Oberstaatsanwaltschaft in Kiel angeklagt. Kein deutscher Gynäkologe war bereit, ein Gutachten über Claubergs Methoden zu erstellen, auch deswegen verzögerte sich das Verfahren. Clauberg verstarb im August 1957 vor Eröffnung des Prozesses an einem Schlaganfall.(45)

"Auch die Jüngeren von uns müssen das Gedächtnis an die Untaten wachhalten. Das sind wir den Opfern schuldig. Tun wir es nicht, beginnt auch eine Schuld für uns."*
* Christian Maier: Verurteilen und Verstehen, in: Historikerstreit, München 1987, S. 55.

Die Menschenversuche Froweins unterscheiden sich völlig von den bisher dargestellten Experimenten an KZ-Häftlingen. Der Kieler chirurgische Volontärassistent, KZ-Arzt und SS-Obersturmführer Ernst Frowein war in den Jahren 1942/43 im KZ Sachsenhausen stellvertretender Lagerarzt und Leiter der Operationsabteilung. Im Gegensatz zu den bisher geschilderten Humanexperimenten an Häftlingen der Konzentrationslager Dachau und Buchenwald, die in offiziellem Auftrag im Hinblick auf militärische Notwendigkeiten beziehungsweise im Rahmen der rassistischen Vernichtungspolitik der Nazis in den Konzentrationslagern Auschwitz und Ravensbrück durchgeführt wurden, erfolgten Froweins Versuche an Menschen auf eigene Initiative unter Ausnutzung der Machtmöglichkeiten, die ihm seine Stellung als Arzt im Konzentrationslager Sachsenhausen bot. Frowein wählte meist ältere Häftlinge mit Störungen beim Urinieren aus, denen er, in der Regel medizinisch sinnlos, durch eine Operation eine neue Harnblase verschaffte.(46) Frowein war ab 1. Februar 1941 Hilfsarzt in der Chirurgischen Universitätsklinik Kiel, promovierte 1940/42 und wurde Angehöriger der Waffen-SS. Von Juni 1942 bis März 1943 war er Arzt im KZ Sachsenhausen, ab Juli 1943 gehörte er der SS-Panzer-Grenadier-Division "Totenkopf" an und wurde ab Juni 1944 als SS-Hauptsturmführer Adjutant des Reichsarztes SS Ernst Grawitz. Am 7. Januar 1947 wurde er nach einer Verurteilung durch das sowjetische Militärtribunal in Berlin wegen der Beteiligung an der Hinrichtung von dreizehn Sachsenhausen-Häftlingen, der Anwesenheit bei Exekutionen von 24 Häftlingen und wegen der Durchführung von Experimenten an Häftlingen hingerichtet.(47) Seine Arbeit über die Operationen an Häftlingen wurde 1944 in der Zeitschrift Der Chirurg unter dem Titel "Beitrag zur operativen Behandlung der Schrumpfblase von Dr. med. E. Frowein, Assistent der Klinik, Aus der Chirurgischen Universitätsklinik Kiel (Direktor Prof. A.W. Fischer)"(48) veröffentlicht.

Bewertung

Alle diese Experimente an Menschen waren unzulässig und verstießen gegen die auch damals schon geltenden Regeln für medizinische Humanexperimente. Etwa bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war es jedoch für Ärzte selbstverständlich, Experimente an Menschen ohne deren Zustimmung vorzunehmen.(49) Ein die breitere Öffentlichkeit erfassendes Umdenken gab es erst um die Jahrhundertwende, nachdem der Breslauer Dermatologe Albert Neisser 1892 acht jungen Frauen ohne ihre Kenntnis Serum von Syphiliskranken injiziert hatte. Bei der Hälfte von ihnen trat nach vier Jahren eine Syphilis auf. Als Ergebnis der sich anschließenden öffentlichen Diskussion bestimmte im Dezember 1900 das Preußische Kultusministerium drei Ausschlusskriterien für medizinische Eingriffe: "1. Minderjährigkeit, 2. fehlende Zustimmung und 3. fehlende vorausgegangene Aufklärung." Der Widerstand in der Ärzteschaft hiergegen war erheblich, weil aus der Sicht der Ärzte die Beachtung der Aufklärung und Einholung einer Einwilligung einen Stillstand der medizinischen Forschung bedeutet hätten. Entsprechend dieser Auffassung wurden die Regeln des Ministeriums nur selten beachtet.(50) Infolge des Lübecker Impfunglücks, bei dem im Februar 1930 nach einer BCG-Impfung von 250 geimpften Säuglingen 72 starben,(51) wurden vom Reichsgesundheitsbeirat "Richtlinien für die neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen" beschlossen. U. a. heißt es dort: "Die ärztliche Ethik verwirft jede Ausnutzung der sozialen Notlage." Und weiter wird festgelegt: "Die Vornahme eines Versuchs [am Menschen, d. Verf.] ist bei fehlender Einwilligung unzulässig. Jeder Versuch am Menschen ist zu verwerfen, der durch einen Versuch am Tier ersetzt werden kann."(52) Damit ist klar, dass alle hier dargestellten Experimente am Menschen schon damals unzulässig waren. Hinzu kommt, dass sie an Personen durchgeführt wurden, bei denen eine freie Entscheidung über die Teilnahme ausgeschlossen war. Trotzdem ist eine Differenzierung möglich: Holzlöhner und Finke hatten einen Auftrag der Luftwaffe und arbeiteten nur mit Tierversuchen, erst die Einbeziehung Himmlers weitete die Untersuchungen auf Experimente an Menschen aus. Die Versuche an Tieren waren von Anlage und Zielrichtung her vertretbar.(53) Nach den schrecklichen Folgen in der ersten Gruppe, in der 15-18 Häftlinge von ungefähr 50-60 Häftlingen unter elenden Bedingungen starben, beendeten Holzlöhner und Finke ihre Arbeiten und schieden aus. Alle weiteren Arbeiten mit einer zweiten Gruppe u. a. m. wurden ohne die beiden Kieler allein in der Verantwortung des mit einer abnormen Persönlichkeitsstruktur ausgestatteten Sigmund Rascher vorgenommen. Finke starb gegen Ende des Krieges an kriegsbedingten Verletzungen in einem Lazarett im holsteinischen Neustadt. Holzlöhner bereute, wie Franz Büchner berichtet, schon während des Krieges sein Handeln tief und zog vielleicht auch in dem Glauben, dass nach dem Ende des Nationalsozialismus für ihn und seine Familie ohnehin alles verloren sei, mit seinem Tod die aus seiner Sicht allein mögliche Konsequenz. Vonkennel beteiligte sich an den Versuchen an Häftlingen ohne Widerspruch. Die Folgen der Experimente sind im Einzelnen nicht bekannt, bei dem schlechten Allgemeinzustand der beteiligten Häftlinge und den rücksichtslosen Versuchsbedingungen ist davon auszugehen, dass sie nicht von allen überlebt wurden.

Ganz anders sieht es bei den "Experimenten" Claubergs und Froweins aus. Clauberg versuchte immer wieder, Himmlers Interesse an einer effizienten und möglichst unauffälligen Sterilisierung von Jüdinnen und Mischlingen zu seinem eigenen Vorteil auszunutzen. Wäre er erfolgreich gewesen, so wäre das Ergebnis eine brutal durchgeführte lebensbedrohliche Beschädigung der körperlichen Unversehrtheit vieler Frauen gewesen. So blieben seine kriminellen Eingriffe auf die auch schon erschreckend hohe Zahl von 700 Frauen begrenzt, die nicht nur schreckliche Schmerzen ertragen mussten, sondern auch an den Folgen der Vernarbungen zu leiden hatten. Nicht wenige der so gequälten Frauen wurden in Gaskammern ermordet. Über die Experimente Froweins ist wenig Präzises bekannt, die Beteiligung der Fakultät liegt in der durch A.W. Fischer unkritisch ermöglichten Veröffentlichung der Arbeit Froweins, die nie in einer medizinischen Zeitschrift hätte erscheinen dürfen.


Literatur beim Verfasser:
Dr. med. Dr. phil. Karl-Werner Ratschko, Havkamp 23, 23795 Bad Segeberg


Infos

- Von Humanexperimenten mit KZ-Häftlingen erhoffte sich das NS-Regime schnelle medizinische Resultate, die direkt oder indirekt der optimierten Kriegsführung dienten.

- Physiologe Ernst Holzlöhner experimentierte im KZ Dachau, indem er Häftlinge stark unterkühlte. Viele von ihnen starben. Die Verwerflichkeit seiner Handlungen war ihm von Beginn an klar.

- Alle hier geschilderten von Kieler Ärzten mit zu verantwortenden Experimente an Menschen verstießen gegen die auch damals schon gelten Regeln für medizinische Humanexperimente.

- Der Gynäkologe Carl Clauberg sterilisierte Frauen im KZ Auschwitz durch künstlich erzeugte Entzündugen im Eileiter. Clauberg führte seine Experimente an rund 700 Häftlingen durch.

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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 6/2015 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2015/201506/h15064a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Kieler Ärzte waren in der NS-Zeit an Humanexperimenten mit
KZ-Häftlingen beteiligt.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
68. Jahrgang, Juni 2015, Seite 18 - 22
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-127, -119, Fax: -188
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juli 2015

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