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TRANSPLANTATION/498: Interview - Medizin- und Kulturhistorikerin Anna Bergmann über Hirntod und Organspende (360°)


Journal 360° - Das studentische Journal für Politik und Gesellschaft
Ausgabe 2/2013: Glauben // Wissen

"Jeder Organempfänger muss mit Krebs rechnen"

Die Medizin- und Kulturhistorikerin Anna Bermann im Interview über Hirntod und Organspende

Fragen: Vinzenz Hokema



Olympiasieger_innen, Schauspieler_innen und Moderator_innen werben derzeit an Bushaltestellen und auf Plakaten mit dem Spruch: "Das trägt man heute". Der_die Träger_in gibt mit solch einer Karte seinen_ihren Körper zur Organspende frei, sollte etwa ein Schlaganfall, eine Hirnblutung oder Kopfverletzung dazu führen, dass ein Hirntod festgestellt wird. Die Organe können dann in den Körper von anderen Patient_innen verpflanzt werden.

Die Medizin- und Kulturhistorikerin Anna Bergmann hält diese Praxis für grundsätzlich verfehlt, da sie ein fragwürdiges Menschenbild zugrunde lege, Sterbenden ihre Rechte entziehe und den Empfänger_innen von Organen eine Heilung verspreche, die sie nicht erbringen könne. Ein Gespräch über die Grenzen der modernen Transplantationsmedizin und die Unbestimmbarkeit des Todes.


Liebe Frau Bergmann, was ist Hirntod und was hat er mit der Organspende zu tun?

Der Hirntod ist eine Definition, die historisch eine lange Vorgeschichte hat und auf ein bestimmtes Menschen- und Körperbild zurückgeht. Im Laufe der Geschichte wurden unterschiedliche Parameter zugrunde gelegt, aber heute ist ein hirntoter Mensch so definiert, dass es sich einerseits um eine tote Person handelt und andererseits um einen noch überlebenden übrigen Körper, so heißt es wortwörtlich in der Transplantationsmedizin. Diese Zweiteilung des Menschen in einen toten und einen lebendigen Teil weist bereits auf den Definitionscharakter hin. Er tritt noch deutlicher hervor, wenn wir bedenken, dass der Begriff der Person eigentlich aus der Philosophie stammt und die Medizin mit naturwissenschaftlichen Methoden den Personenbegriff durch nichts beweisen kann. Aber die Transplantationsmedizin geht grundsätzlich davon aus, dass die Person tot ist, weil der Hirnkreislauf zusammengebrochen ist, der allerdings anhand bestimmter medizinischer Parameter empirisch wiederum nachweisbar ist. Das heißt, eigentlich kommt hier ein Taschenspielertrick zum Zuge, denn die Grundannahme, dass es sich um eine tote Person handele, ist bereits eine durch nichts zu beweisende Hypothese. Diese Behauptung wird durch eine bestimmte Diagnostik im Rahmen der Hirntodbestimmung auch nicht richtiger. Denn die moderne Medizin ist für die Definition einer Person nicht kompetent, da die Person mit ihrem Untersuchungsbesteck nicht empirisch beweisbar ist, selbst wenn sie den Zusammenbruch des Hirnkreislaufs dokumentieren kann.


Lassen sich Körper und Geist so einfach trennen?
Welches Menschenbild steht hinter der Transplantationsmedizin?

Die Körper-Geist-Trennung ist immer ein gesellschaftliches Konstrukt. So geht ja auch die Religionswissenschaft davon aus, dass der Ursprung der Religion der Tod sei. Die Seele wird hier als das Prinzip der Unsterblichkeit dualistisch dem sterblichen Körper entgegengesetzt. Und so sind auch die Religionen von der Idee geleitet, dass die Seele den Körper nach Eintritt des Todes verlässt und unsterblich ist. Im Grunde handelt es sich dabei um eine tröstliche Vorstellung, die sich auch in unserer modernen Kultur hartnäckig zu halten scheint, wahrscheinlich weil die Vorstellung eines absoluten Todes zu beängstigend ist.

Der naturwissenschaftlich begründete Leib-Seele-Dualismus jenseits von Theologie wurde im siebzehnten Jahrhundert von dem französischen Philosophen René Descartes radikal formuliert, nachdem im sechzehnten Jahrhundert durch die anatomische Forschung an Leichen der Mensch bereits in einzelne Organfunktionen zerlegt und beschrieben war. Descartes war selbst ein passionierter Anatom und hat den Leib-Seele-Dualismus im Rahmen eigener Leichenzergliederungen begründet - er verortete den menschlichen Geist in der Zirbeldrüse.

Die Leichensektion war nicht nur eine methodologische Grundlage für die neuartige Erkenntnisgewinnung durch die Zergliederung des toten Körpers, sondern sie konstituierte auch ein neues Menschenbild - in dem Sinne, dass der Körper ein aus einzelnen Organen zusammensetzbares mechanistisches Gebilde darstellt. Damit wurde ein Natur- und Menschenbild verlassen, in dem Prinzipien der Verbundenheit und der Beseelung bestimmend waren. Hier ging man genau umgekehrt davon aus, dass alle im Kosmos und in der Welt vorhandenen Elemente auch im menschlichen Körper repräsentiert sind - zum Beispiel Wasser, Erde, Luft und Feuer. In der Vormoderne ist daher auch noch vom Leib die Rede - abgeleitet vom althochdeutschen lib, das Leben, während Körper, lateinisch corpus, bereits die materiale und entseelte Dimension betont. Die Prinzipien der Verbundenheit, der Beseeltheit und das Denken in Analogien kennzeichnen dagegen die magische Vorstellungswelt. Das heißt, die Trennung des Leibes in Körper und Geist ist diesem Denken absolut fremd.


Die Leichensektion machte den Körper
zum mechanistischen Gebilde.


Dagegen löst die Anatomie das ganzheitliche Denken der Beziehungsebenen zwischen Mensch, Welt und Kosmos auf und beruht umgekehrt auf dem Prinzip der Trennung. Die Vorstellung von einem in einzelne Organe zerlegbaren Körper, in dem Organe als jeweils autonome Gebilde gedacht sind, stellt somit eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung der Transplantationsmedizin dar. Dieses Konzept wird in der kartesianischen Körpermaschine zugespitzt. Denn Descartes nimmt eine weitere Trennung von Körper und Geist vor. Die Seele verortet er im menschlichen Gehirn und den Körper beschreibt er als mechanistische Gliedermaschine, sodass Tiere in dieser Vorstellung nichts weiter als Reaktionsbündel sind. Der von Descartes vorgestellte Körper-Geist Dualismus, in dem der menschliche Geist hierarchisch über den nach Gesetzen der Mechanik funktionierenden Körper gesetzt ist, wird von Transplantationsmediziner_innen für die Hirntoddefinition herangezogen: Diese sprechen von einer inneren Enthauptung, um die Doppeldeutigkeit des Hirntodes, das Konstrukt eines Leichnams mit einem noch lebenden Körper, begründen und legitimieren zu können. Nur durch diese Aufspaltung des Menschen in einen Körper und einen im Gehirn verorteten Geist darf der lebendige Körper von als tot definierten Patient_innen aufgeschnitten werden - auch hier sind dann Bewegungen von hirntoten Patient_innen, wie bei der kartesianischen Gliedermaschine auch, etwa Heben der Arme, Hochziehen der Schultern, Fingerbewegungen - wozu hirntote Patient_innen ja noch in der Lage sind - als reine Reflexreaktionen gedeutet. Wir haben es also mit dem Konstrukt einer lebendigen Leiche zu tun.

Die anatomische Zerlegung und Aufspaltung des menschlichen Körpers sind aber nicht nur für die Definition des Hirntodes hinsichtlich der Organspender_innen wesentlich, sondern für das Menschenbild der Transplantationsmedizin insgesamt, und sie betreffen ebenso die Organempfänger_innen. Denn die Leichenzergliederung als Erkenntnismethode, in der - wie Michel Foucault sagt - der Tod zum Spiegel des Lebens wird, erfuhr ihre Erweiterung als Heilmethode durch die Begründung der Transplantationsmedizin im neunzehnten Jahrhundert, als die moderne Medizin sich auf die Chirurgie als Heilmethode zu fokussieren begann.

Der Satz "Ein Mensch braucht eine neue Leber." reproduziert genau dieses anatomische Menschenbild. Denn die Leber wird nun als ein autonom existierendes Organ aus seinem leiblichen Zusammenhang gerissen und nicht einmal ihre Wechselbeziehung zu anderen Organen, wie zum Beispiel Herz, Galle, Nieren oder Lungen, geschweige denn die leibliche Verbundenheit sind in dieser fantastischen oder utopischen Körpervorstellung noch irgendwie berücksichtigt. Das heißt die Leber wird aus dem Körper herausgedacht und auf dieser Ebene mechanisch auswechselbar.


Wer hat diese Hirntoddefinition gestaltet?

Hier waren verschiedene Entwicklungen maßgeblich. Denn im neunzehnten Jahrhundert begannen Mediziner damit, die Organverpflanzung chirurgisch zu erproben. Erst im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts wurde das bis heute nicht gelöste Kardinalproblem der Transplantationsmedizin präziser wahrgenommen, nämlich dass die chirurgische Technik noch so perfekt sein kann, doch das angeborene Immunsystem stößt das Organ als Fremdkörper grundsätzlich wieder ab, was ja die mechanistisch-anatomische Vorstellung von einem einfachen Organwechsel schon widerlegt. Die immunologische Grundproblematik wurde durch Methoden und Medikamente zur Unterdrückung der natürlichen Immunabwehr zu lösen versucht. Außerdem gibt es ein weiteres Grundproblem der Transplantationsmedizin, das ist ihre Abhängigkeit vom Körper und dem Tod von Patient_innen. Es ging also auch um die Frage, wie Organe aus dem Körper anderer Menschen so gewonnen werden können, dass sie überhaupt noch verpflanzbar sind, in denen also noch keine Verwesungsprozesse stattgefunden haben und die außerdem hinsichtlich der Gewebekompatibilität und Blutgruppe für die Empfänger_innen nicht tödlich sind. Auch war bald klar, dass die Organe auf jeden Fall aus einem lebenden oder ganz frisch verstorbenen Menschen stammen müssen. All diese komplexen Zusammenhänge führten schließlich in den neunzehnhundertsechziger Jahren zur Einführung der Hirntoddefinition in die transplantationsmedizinische Praxis, mit deren Hilfe man den Problemen der Organkonservierung und der Organgewinnung aus einem lebenden Körper schon näher kam.

Solange die Komplexität einer Transplantation noch nicht verstanden war, begannen Transplantationschirurgen schon im neunzehnten Jahrhundert damit, Schilddrüsen, Hoden und Eierstöcke zu transplantieren. Weiter wurden dann Bauchspeicheldrüse, Milz, Nieren, Herz, Lunge, Thymus und sogar die Hypophyse experimentell transplantiert - und zwar wurden Organe von Tieren, wie zum Beispiel Kaninchen, Schafen, Schweinen, Affen und auch Menschen benutzt. Hier diente mitunter das Schlachthaus als Organlieferant. Aus den neunzehnhundertdreißiger Jahren ist dokumentiert, dass das Sterbebett einer Patientin abgeschirmt wurde, um unmittelbar nach Eintritt ihres Todes ihre Nebennieren gewinnen und sie einer anderen Patientin im Nachbarbett einpflanzen zu können. Solche Versuche endeten tödlich, weil die Probleme der Abstoßung durch das angeborene Immunsystem und der Gewebekompatibilität nicht gelöst werden konnten und auch die Konservierung von Organen nicht entwickelt war. Um an frische und gesunde Organe zu kommen, bedienten sich Transplantationschirurgen in Europa und in den USA auch an den Körpern von Hingerichteten - so beschafften sich zum Beispiel Anfang der neunzehnhundertfünfziger Jahre französische Transplantationschirurgen Nieren aus dem Körper direkt von der Guillotine. Der Rückgriff auf Exekutionsopfer hatte bereits eine lange Tradition in der Geschichte der modernen Medizin, denn die Körper von Hingerichteten wurden über Jahrhunderte für die Leichensektion benutzt. Daher geht auch die Organgewinnung aus dem Körper von Hingerichteten in China auf diese europäische Tradition zurück. Aber erst die Entwicklung einer systematischen Unterdrückung der Immunabwehr durch bestimmte Medikamente und die Einführung der neuen Todesdefinition verhalfen schließlich der Transplantationsmedizin zum Durchbruch in den neunzehnhundertsechziger Jahren.


Hirntote dürfen noch den Oberkörper wälzen
oder die Arme heben.


Ein wichtiger Ausgangspunkt für die Entwicklung der Hirntoddefinition war zunächst abgekoppelt von der Transplantationsmedizin: die Einführung der Beatmungsmaschine in die Intensivmedizin in den fünfziger Jahren. Pierre Mollaret und Maurice Goulon, zwei französische Neurologen teilten Komapatient_innen, die an das Beatmungsgerät angeschlossen waren, in vier Kategorien ein. Die vierte Kategorie kennzeichneten sie als coma dépassé, was wir als überschrittenes Koma übersetzen können: Patient_innen dieser Gruppe befanden sich in einem so tiefen Koma, dass sie trotz der Beatmung nicht wieder das Bewusstsein erlangten. Hier stellte sich erstmals die Frage, ob bei dieser Gruppe ein Behandlungsabbruch zu rechtfertigen sei. Mollaret und Goulon haben diese Frage strikt verneint. Wichtig für das Verständnis der heutigen Hirntoddefinition ist, dass diese von Goulon und Mollaret beschriebene Gruppe von Komapatient_innen die heutigen Hirntoten repräsentieren. Mit technischer Unterstützung wird ihr Sterbeprozess verlängert, sodass die Organgewinnung im lebendigen Zustand erfolgen kann.

Gleichzeitig gab es in den sechziger Jahren eine internationale Hirntodforschung. Davon hat die Transplantationsmedizin schließlich profitiert. Bereits 1963 wurden in Belgien einem Patienten mit diagnostiziertem Hirntod die Nieren entnommen, um sie in den Körper eines anderen Patienten zu verpflanzen. Als dann 1967 Christiaan Barnard in Südafrika vor der Weltöffentlichkeit eine spektakuläre Herztransplantation durchgeführt hatte, thematisierte er auch gleich den Hirntod und forderte, dass ab jetzt die Öffentlichkeit dazu erzogen werden sollte, die Organgewinnung aus dem Körper von hirntoten Patient_innen zu akzeptieren, um sozusagen das Problem der Organbeschaffung langfristig zu lösen und diese Therapieform in größerem Umfang möglich zu machen.

Die Harvard Universität hat 1968 auf die neue Praxis und die von Barnard ausgelöste Transplantationswelle reagiert und eine Kommission einberufen, um Hirntodkriterien für den Zweck der Organspende festzulegen. Aber in den Harvard-Kriterien wurde die Areflexie als obligatorisches Zeichen des Hirntodes bestimmt. Das heißt, in dieser Hirntoddefinition zählte das Rückenmark noch zum Gehirn, sodass der Hirntod nur dann als eingetreten galt, wenn im Rahmen der Diagnostik kein vom Rückenmark ausgehender Reflex mehr zu provozieren war. Dieses Kriterium wurde jedoch noch im selben Jahr aufgegeben, weil der Sterbeprozess der Harvard-Toten bereits zu weit fortgeschritten und entsprechend die Spenderorgane für Transplantationszwecke zu beschädigt waren. Man hat deswegen noch im selben Jahr auf die Schrift der deutschen Neurochirurgen Wilhelm Tönnis - der übrigens in die medizinischen Verbrechen im Nationalsozialismus involviert war - und Reinhold Frowein zurückgegriffen, die bereits 1963 den cerebralen Tod definiert hatten, der nunmehr auf die Schädelkapsel eingegrenzt war. Auf Basis der Definition von Tönnis und Frowein dürfen seither Hirntote bestimmte Bewegungen aufweisen - Männer bis zu 17 und Frauen bis zu 14 Reflexe - und diese sind per Definition mit dem Leichenstatus vereinbar, etwa Wälzen des Oberkörpers, Heben eines Armes oder Bauchreflexe.

Der Hirntod wird mit einem bestimmten Diagnoseschema festgestellt, vor allem durch Provokationen des Hirnstamms. Ergänzend werden noch bildgebende Verfahren herangezogen. Grundsätzlich wird der Hirntod medizinisch als Ausfall von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm definiert. Der Ausfall des Hirnstamms wird mit einem Ensemble von Provokationen, zum Beispiel durch Eiswasserspülung der Ohren und Schmerzreizen, wie einem Nadelstich in den Trigeminusnerv in der Nasenwurzel, überprüft. Wenn darauf keine Reaktionen erfolgen, gilt dies als wichtigstes Beweismittel für den Hirntod.


Wir können nicht wissen,
was in einer sterbenden Person vorgeht.


Es gibt aber auch unter Mediziner_innen Kritik an dieser Diagnostik. Ich habe beispielsweise einen Neurologen interviewt, der diese Todesfeststellung zunehmend als eine Form der Folter empfand. Er meinte, die Patient_innen damit noch weiter ins Koma zu treiben, zumal dieses Verfahren ja zweimal durchgeführt werden muss. Er betonte, dass jeder, der Komapatient_innen Schmerzreize zufügt, sich natürlich wünscht: "Bitte jetzt keine, keine Reaktion!" Das Ensemble der Hirntoddiagnostik ist also medizinethisch heikel. Denn man muss ja den Hirntod erst beweisen, der nicht zwangsläufig vorliegt. Bis dahin gelten Komapatient_innen auch juristisch weiterhin als Lebende, sie gelten erst mit der letzten geleisteten Unterschrift des zweiten Hirntoddiagnostikers als tot und somit als verwendbar für Organ- und Gewebespenden.


Wenn jemand einen nach der Hirntoddefinition zulässigen Reflex aufweist - was sagt das über die Lebendigkeit des Menschen aus? Inwieweit kann man von Tod sprechen, wenn die Person beispielsweise eine Wälzbewegung ausführen kann?

Die Transplantationsmedizin erklärt dieses Todeskonzept mit einer inneren Dekapitation, also einer inneren Enthauptung. In den vierziger Jahren wurden beispielsweise Katzen im Labor enthauptet, um sie im geköpften Zustand weiterhin am Leben zu erhalten. An solchen Experimenten orientiert sich die Hirntoddefinition. Der Neurologe Heinz Angstwurm, einer der Protagonisten der deutschen Hirntoddebatte, deutet solche Experimente als Beweis für den Hirntod. Diese Argumentationsfigur schließt übergangslos an die kartesianische Körpermaschine an und meines Erachtens handelt es sich dabei um eine zweckorientierte Konstruktion.

Die Transplantationsmedizin kennzeichnet ja auch hirnsterbende Patient_innen als human vegetable, Herz-Lungen-Pakete oder spricht von einem überlebenden Restkörper. Mit dieser entmenschlichenden Rhetorik werden diese Patient_innen letztlich sozial ausgestoßen und damit ihre Verdinglichung legitimiert. Ich möchte hervorheben, was auch der Philosoph Hans Jonas anlässlich der Harvard-Definition von 1968 betont hat: Dass uns jedes Wissen über das Erleben beim Sterben verwehrt bleibt, dass wir also nicht wissen können, was in einem sterbenden Menschen vorgeht. Deshalb fordert er eine Maximaldefinition des Todes. Mit einer verengten Todesvereinbarung, wie sie im Hirntodkonzept verwendet wird, begeben wir uns auf Glatteis, erst recht, wenn sie mit den gewalttätigen Konsequenzen einer Multiorganentnahme verbunden ist.


Das würde also bedeuten, dass der Hirntod kein natürlich auffindbarer Zustand ist?

Nein. Es können ausschließlich Patient_innen, die zum Beispiel einen Schlaganfall, eine Hirnblutung oder eine Schädelverletzung erlitten haben und deren Hirnkreislauf unwiederbringlich zusammengebrochen ist, die aber mit technischer Hilfe der Intensivmedizin am Leben erhalten werden, als hirntot diagnostiziert werden. Wenn die Geräte abgenommen werden, bricht der Herzkreislauf über kurz oder lang zusammen. Deswegen verbietet sich übrigens auch eine Organspende, wenn testamentarisch eine Ablehnung jeder lebensverlängernden Maßnahme vorliegt.

Außerdem würde ich nicht von einem Hirntod sprechen, weil Tod ja nicht mehr als eine Metapher ist. Den Begriff des Hirnsterbens halte ich für präziser, weil es sich um einen Sterbeprozess handelt, der in einer anderen Reihenfolge des Organversagens stattfindet. Denn es gibt beispielsweise auch das Leber- oder Nierenversagen, das zum Tod führt, aber erst ab dem Herzstillstand verwandeln sich die Sterbenden in eine Leiche mit den typischen Merkmalen, wie etwa Totenflecke und Leichenblässe. Im Falle des so definierten Hirntodes bricht der Hirnkreislauf zuerst infolge beispielsweise eines Schlaganfalls, Hirntumors, einer Hirnblutung oder Kopfverletzung durch ein Schädel-Hirn-Trauma zusammen. Wir haben es also bei hirnsterbenden Menschen mit dem Phänomen zu tun, dass als erstes das Gehirn zu sterben beginnt und erst danach der Herzstillstand eintritt.


Der Eintritt des Hirntodes bleibt
unbeobachtbar. Nur eine Unterschrift
besiegelt den Tod des Patienten.


Mit dem Begriff Hirntod habe ich grundsätzlich Schwierigkeiten, da der Tod ein Sprachbild ist, das selbst gar nicht zu enträtseln ist, denn wir können den Tod nicht definieren. Auf den metaphorischen Charakter des Begriffs Tod hat der Kulturwissenschaftler Thomas Macho hingewiesen - den Tod definieren zu wollen, bleibt ein vergebliches Unterfangen. Im Gegensatz dazu ist ein sterbender Mensch von uns beobachtbar. Thomas Macho kennzeichnet das Moment des Todeseintritts als "Auftritt des Toten". Während unsere Beziehung zu einem sterbenden Menschen noch von einer sozialen Interaktion geprägt ist, verändert sich ab dem Auftritt der Toten unsere Kommunikation und sie reduziert sich auf symbolische Handlungen, wie zum Beispiel Öffnen der Fenster, Anzünden von Kerzen, Leichenwäsche und Totenwache. Dies ist bei Komapatient_innen mit der Diagnose Hirntod komplett anders: Erstens bleibt der Eintritt des Hirntodes selbst von Spezialist_innen unbeobachtbar - es gibt keine sinnlichen Zeichen des Hirntodes, sondern nur den bürokratischen Akt einer Unterschrift des zweiten Hirntoddiagnostikers, der den Tod des Menschen besiegelt. Zweitens verfügt dieser Mensch auch nach seiner Todesfeststellung über Zeichen des Lebendigen, denn sein Herz schlägt weiter. Er atmet mit Unterstützung der Intensivmedizin, die soziale Beziehung wird durch seine Pflege, Ernährung und medizinische Betreuung bis zum Herztod aufrechterhalten. Erst wenn er auf dem Operationstisch einen Herzstillstand erleidet, stellen sich auch die Zeichen des Todes ein und die Kommunikation wird mit dem Auftritt des Toten abrupt eine andere. Mehrere Operationsschwestern haben mir dieses Moment unabhängig voneinander gleich beschrieben: Es wird still im Operationssaal.


Sind Leben, Sterben und Tod diskrete Zustände oder stellen sie eher ein Spektrum dar?

Sterben ist ein beobachtbarer Prozess, und solange sich Menschen im Sterben befinden, sind sie lebendig - ebenso wie die Geburt kann das Sterben individuell sehr verschieden sein und viele Ausdrucksformen haben. Und noch einmal: Sterbende sind Lebende. Mit sterbenden Menschen kommunizieren wir wie mit Lebenden - ob sich das sprachlich oder durch Körperkontakt abspielt. Auch wenn Sie ohne Sprache mit einem sterbenden Menschen kommunizieren, kann es ein, dass er seinen Arm wegzieht oder Ihre Hand drückt.

Das Leben hingegen ist ein sehr großer Begriff, der viele Sphären berührt. In der Hirntoddiskussion halte ich die Konzentration auf unsere Beziehung zu sterbenden Menschen für wesentlich und die Frage, wie weit unsere Gesellschaft gehen will: ob sie bereit ist, sämtliche kulturellen Umgangsformen und die soziale Beziehung zu sterbenden Menschen zugunsten einer Organ- und Gewebeentnahme zu verwerfen.

Wir haben einen besonderen Umgang sowohl mit sterbenden Menschen als auch mit unseren Toten kulturell entwickelt, der von Respekt und Pietät gegenüber den Toten wie ihren Angehörigen gekennzeichnet ist. Unsere Sterbe- und Bestattungskultur muss die Transplantationsmedizin notgedrungen über Bord werfen, um Organe und Gewebe von Patient_innen benutzen zu können. Stattdessen erfolgt eine chirurgische Bemächtigung der wehrlosen, sterbenden Patient_innen. Dieser Mensch wird von Grund auf für andere Interessen instrumentalisiert.


In der Diskussion um den Hirntod wird auch von justified killing gesprochen. Das ist eine aktuelle Sprachregelung, nach der die Patient_innen noch lebendig sind, es aber moralisch nicht verwerflich sei, sie zu töten.

Der Begriff justified killing kam auf, weil mittlerweile immer klarer geworden ist, dass die kleine Gruppe von hirntoten Patient_innen niemals den Bedarf der Transplantationsmedizin decken wird, selbst wenn die gesamte Bevölkerung organspendewillig wäre. Daher wurde zunächst in den USA zur Kompensation des Organmangels, der vor allem der expandierenden Transplantationsmedizin geschuldet ist, eine neue Gruppe von Organspendern erfunden - das sind die sogenannten Non-heart-beating-donors, also Patient_innen, deren Herz im Gegensatz zu den hirnsterbenden Spender_innen nicht mehr schlägt, die aber nicht zwangsläufig als hirntot gelten, denn bis zu 15 Minuten nach eingetretenem Herzstillstand können Hirnaktivitäten noch gemessen werden. Die Forderung nach einem gerechtfertigten Töten im Kontext der Transplantationsmedizin wurde mit der Einführung dieser neuen Gruppe von Organspender_innen gestellt. Amerikanische Transplantationsmediziner_innen rechtfertigten die Explantation der Non-heart-beating-donors mit dem Argument, es habe sich mittlerweile wissenschaftlich herausgestellt, dass der Hirntod mit dem Tod eines Menschen nicht gleichzusetzen sei und mit der Organgewinnung aus dem Körper von hirntoten Patient_innen schon länger eine medizinische Tötungspraxis begonnen worden wäre. Mittlerweile haben außerdem ja auch mehrere für hirntot erklärte schwangere Frauen unter intensivmedizinischer Betreuung Kinder ausgetragen. Die Erfahrungen mit hirnsterbenden Patient_innen haben die gängige Leichenvorstellung sehr stark irritiert, weil eben alle Anzeichen des Lebens erhalten bleiben, wie Blutkreislauf, Stoffwechsel, Atmung mit Unterstützung der Zwerchfelltätigkeit, Blutgerinnungs- und Immunsystem, sodass diese Patient_innen beispielsweise auch selbständig Infektionen abwehren oder Stresshormone entwickeln können. Vor diesem Hintergrund gibt es seit etwa 2008 eine neue internationale Fachdiskussion über die Fragwürdigkeit der Gleichsetzung des Hirntodes mit dem Tod eines Menschen und über die Frage, wie sicher die Hirntoddiagnostik ist, da auch hier mit Hilfe neuerer bildgebender Verfahren Zweifel aufgekommen sind.


Sind wir bereit, sämtliche soziale Umgangsformen
mit Sterbenden für die Organentnahme zu verwerfen?


An diese Debatte knüpfen amerikanische Transplantationsmediziner_innen an und verwerfen die Hirntodvereinbarung als wissenschaftlich unhaltbar, aber eben nicht, um die von ihnen so gekennzeichnete Tötungspraxis von hirnsterbenden Patient_innen zu kritisieren, sondern um die Verwendung von Non-heart-beating-donors ethisch zu rechtfertigen. Sie sprechen also von einem justified killing, um die zweckorientierte Tötung von bestimmten Patient_innen für die Organgewinnung zu enttabuisieren.

Die Non-heart-beating-donors wurden bereits 1995 in mehrere Kategorien eingeteilt - die Kategorie Maastricht III repräsentiert die größte und wichtigste Gruppe, hier spricht die Transplantationsmedizin von einer kontrollierten Organspende. Die Organentnahme erfolgt bei dieser Gruppe unmittelbar nach einem gezielten Behandlungsabbruch, wenn ein Herz-Kreislauf-Stillstand absehbar ist und die Angehörigen lebensverlängernde Maßnahmen ablehnen oder wenn ein Patient_innentestament in diesem Sinne vorliegt. Die Therapie wird beendet, indem die Patient_innen von der Beatmungsmaschine genommen und alle kreislaufunterstützenden Medikamente eingestellt werden. Parallel dazu steht schon ein Entnahmeteam mit Apparaturen, Kathetern, Medikamenten, Kanülen und Kühlflüssigkeit bereit und beginnt umgehend eine massive Intensivbehandlung der Spender_innen zur Gewinnung ihrer Organe. In diesem Fall wird versucht, den Sterbeprozess mit ausgeklügelten Mitteln - also etwa chemisch durch eine starke Blutverdünnung sowie mit einem apparativen Aufwand - unter großem Zeitdruck rückgängig zu machen, sodass der Behandlungsabbruch direkt an die Logistik der Organentnahme gekoppelt ist. Weil diese Gruppe die Organgewinnung bereits erheblich potenziert hat und auch nicht so viele ältere Patient_innen, wie dies bei den hirnsterbenden Spender_innen zunehmend der Fall ist, als Organspender_innen nutzbar gemacht werden können, wurde diese Gruppe gewissermaßen erfunden. In der Fachliteratur erhofft man sich dadurch eine Maximierung des - wie es heißt - Kadaverspenderpools von bis zu 42 Prozent. Hier findet eine genaue Umkehrung im Vergleich zur Organgewinnung im Falle eines Hirntodes statt. Denn während der Körper von hirntoten Spender_innen lebendig ist, das Herz schlägt, aber der Hirnkreislauf zusammengebrochen ist, erleiden die Non-heart-beating-donors der Maastricht-III-Kategorie einen Herzstillstand, der reversibel und entsprechend der Hirnkreislauf noch aktiv sein kann, aber keine Hirntodfeststellung erfolgt. Es gibt allerdings eine sogenannte Non-touch-period, die abgewartet wird, sie variiert zwischen zwei und zehn Minuten - aber Reanimationen können bis etwa zu 20 Minuten nach Herzstillstand erfolgreich sein. Wenn erst nach diesem Zeitraum mit der Organentnahme begonnen werden würde und das Kriterium des Hirntodes aufrechterhalten bliebe, wären die Organe unbrauchbar. Die Logistik der Organgewinnung ist daher eine völlig andere, da die Verwesungsprozesse unmittelbar nach dem Herzstillstand beginnen und die Explantation der Non-heart-beating-donors von einem sehr viel höheren Zeitdruck bestimmt ist. Das heißt, es gibt hier eine Crux, weil die Transplantationsmedizin ja ursprünglich gerade auf dem Hirntodkonzept bestanden hatte, das für die Realisierung der Organgewinnung bei dieser Spendergruppe wieder aufgegeben werden musste.

Der Sterbeprozess ist in diesem Fall mit allen Mitteln, also chemisch sowie mit einem apparativen Aufwand rückgängig zu machen und zu stoppen: medikamentös - durch eine massive Blutverdünnung und über einen Katheter, durch den die Konservierungslösung sofort in die Aorta eingeflößt wird - sowie durch Maßnahmen, die einer Reanimation entsprechen, wie die Herzmassage. Die Hirntodkriterien sind bei den Non-heart-beatingdonors also einfach aufgegeben worden.


Nach welchen Kriterien kann ein Mensch als Non-heart-beating-donor freigegeben werden?

Die Maastricht-Kategorien für diese Gruppe der Spender_innen ohne Herzschlag wurden bereits 1995 eingeführt, die weitaus aufwändigere und kompliziertere Logistik der Organentnahme wurde aber erst langsam experimentell entwickelt. Auch hat man anfänglich nur die Nieren entnommen, bis neue Entnahme- und Konservierungstechnologien erprobt waren. In Europa hat sich diese Praxis in bestimmten Ländern bereits durchgesetzt, so etwa in Spanien, Belgien, England, Holland, Frankreich, Österreich und in der Schweiz. In Deutschland ist diese Form der Organgewinnung als Akt der Euthanasie verboten. Aber in anderen Eurotransplant-Verbundländern - wie in Belgien, Holland und Österreich - werden Non-heart-beating-donors bereits explantiert. In Deutschland wird damit noch gehadert, weil wir noch von der Geschichte der medizinischen Verbrechen im Nationalsozialismus gezeichnet sind und diese auch politisch bei der älteren Generation nicht ganz aus dem Bewusstsein verschwunden ist. Dadurch war es ja auch für den Bundestag schwieriger, das 1997 in Kraft getretene Transplantationsgesetz zu verabschieden. Es gab größere Widerstände und die private Deutsche Stiftung Organspende (DSO) hat sich lange engagiert, bis die an die Hirntoddefinition gekoppelte Entnahmepraxis von der Politik rechtlich abgesegnet werden konnte.


Man spricht von justified killing,
um die zweckorientierte Tötung von Patienten
zu enttabuisieren.


Aber die Durchsetzung dieser neuen Spendergruppe wird in Deutschland nur eine Frage der Zeit sein. Deutsche Transplantationschirurg_innen pochen in der Fachliteratur auf die Legalisierung dieser Organgewinnung, da es per se für die Bedürfnisse der Transplantationsmedizin zu wenig Hirntote gibt. Die Werbekampagnen für Organspende täuschen ja nur vor, dass eine größere Organspendebereitschaft automatisch den Organmangel lösen würde. Die Zahl der Transplantationszentren in Deutschland hat sich erhöht, ebenso die Zahl der Transplantationen. Und je mehr transplantiert wird, desto größer wird ja auch der Organbedarf, da es nicht selten zur Abstoßung des Organs kommt und eine Retransplantation notwendig wird. Entsprechend gehen Transplantationsmediziner_innen von einem zehnfach erhöhten Organbedarf in der Zukunft aus. Aber die Frage ist, ob unsere Gesellschaft tatsächlich bereit ist, diese Rechnung der Verzehnfachung mitzutragen.


Könnte man den Transplantationsmediziner_innen unterstellen, dass die Hirntoddefinition und die Einführung der Gruppe der Non-heartbeating-donors leichtfertig praktiziert wird, dass man also ethische Kriterien in den Hintergrund drängt, um an Spenderorgane heranzukommen?

Die Transplantationsmedizin basiert durch die Abhängigkeit vom Körper und dem Tod ihrer eigenen Patient_innen per se auf einer Kosten-Nutzen-Logik: Menschen, die sich ursprünglich in eine Klinik begeben, um eine Heilung zu erfahren, die aber dann im Sterben liegen, weil die Therapie scheitert, müssen - wenn sie als Spender_innen infrage kommen - als nützliche Patient_innen wahrgenommen werden - zwar mit dem hehren Argument, Menschenleben zu retten, doch der soziale und medizinische Umgang mit ihnen ist ab der therapeutischen Umorientierung zur Spenderkonditionierung von einer Verdinglichung geprägt. Der sterbende Mensch wird zu einem Nichtsnutz degradiert und unter dem Nützlichkeitsaspekt in Verbindung mit der Bekundung christlicher Nächstenliebe und Solidarität wird die Bemächtigung seines Körpers legitimiert. Menschen, die sowieso sterben, so lautet ja die Begründung, können noch einem guten Zweck dienen, wenn sie zuvor ihre Solidarität bekundet und sich zur Organspende bereit erklärt haben. Aber nüchtern betrachtet hat die Transplantationsmedizin einen neuen Patient_innentypus geschaffen, der medizinisch behandelt und operiert wird, einzig und allein, um seinen Körper als Therapeutikum verwertbar zu machen.

Ich habe einige Organentnehmer_innen interviewt: Sie müssen einen utilitaristischen Blick auf Spender_innen haben, um ihr Handeln überhaupt menschenmöglich zu machen - denn in dem Moment, in dem sie empathisch mitfühlten, würde das ganze Prozedere zusammenstürzen wie ein Kartenhaus. Und deswegen ist ja auch jede Explantation als hochgradig arbeitsteiliger Prozess organisiert. Es betreten mehrere von außen anrückende Teams, teilweise aus anderen Eurotransplant-Verbundländern, den Operationssaal, der Spender ist komplett abgedeckt, sie bekommen ihn nicht zu Gesicht und die einzelnen Teams halten sich für die Entnahme eines Organs nur kurz im OP auf. Eine Multiorgangewinnung mit anschließender Gewebeentnahme zeichnet sich durch einen enorm hohen Grad der Arbeitsteilung aus.


Es gibt für die Bedürfnisse der
Transplantationsmedizin zu wenig Hirntote.


Gleichzeitig, und das konnten Sie gerade erst in der FAZ lesen, gibt es eine ethische Gefahrenquelle: und zwar die Anästhesist_innen sowie die Operationsschwestern und -pfleger, da sie die Organentnahme von Anfang bis Ende unterstützen und miterleben müssen. Die Explantation beinhaltet einen Eingriff, den es bei keiner anderen Operation in dieser Dimension gibt, angefangen mit dem langen Schnitt vom Brust- bis zum Schambein - der ganze Torso wird eröffnet. Dann kommt irgendwann der Moment, in dem sich der Patient in eine wirkliche Leiche verwandelt und der Herztod mit seinen bekannten Zeichen eintritt. Danach beginnt die Gewebeentnahme, die Knochen, Augen, Gehörknöchelchen und vieles anderes mehr umfassen kann. Die Beteiligung an einer Explantation hat psychisch eine andere Dimension für die Beteiligten als dies bei einer normalen Operation der Fall ist.

Auch für Anästhesist_innen ist die Organgewinnung schwierig. Die Anästhesiologie muss ja bis zum medizinisch hergestellten Herzstillstand für die Kreislaufstabilisierung sorgen. Dies ist sehr wichtig, damit die Organspender_innen nicht vor der Organentnahme an einem Kreislaufzusammenbruch sterben und für die Organspende hinfällig werden. Auch entscheiden die Anästhesist_innen, ob eine Narkose verabreicht wird. Die einen sagen, sie geben eine Narkose, um sicherzugehen, dass den Spender_innen keine Schmerzen zugefügt werden, andere lehnen eine Narkose ab, weil dies ein Eingeständnis dafür wäre, dass die Patient_innen noch leben und sie sich damit an einer Tötung beteiligen würden.

Aufschlussreich ist auch die Werbung für die Organspende, in der mit allen Mitteln versucht wird zu erreichen, dass niemand sich wirklich ein Bild von einer Multiorganentnahme mit anschließender Gewebegewinnung macht, wenn also auf dem Organspendeausweis beides angekreuzt ist - und das ist mehrheitlich bei einer Organspendeerklärung der Fall. 2012 waren es in Deutschland 84,5 Prozent, die eine Multiorganspende angekreuzt oder bei denen die Angehörigen zugestimmt hatten. Zum einen umfasst sie die Entnahme von Lunge, Nieren, Bauchspeicheldrüse, Dünndarm, Leber und Herz - neuerdings werden auch ganze Bauchpakete entnommen und transplantiert. Nachdem die Organe entnommen sind und der Herzstillstand durch die Organgewinnung hergestellt worden ist, beginnt die Gewebeentnahme, sollte dafür auch eine Zustimmung vorliegen. Dann dürfen auch Augen oder Knorpelgewebe wie zum Beispiel der Meniskus gewonnen sowie die Knochen herausgemeißelt und zu Knochenmehl verarbeitet werden - beispielsweise für den Aufbau von Implantaten. Das Gewebe kann zu Arzneimitteln verwertet und auf dem Markt verkauft werden. Auch darf die Haut abgezogen werden, sie wird beispielsweise für die Behandlung von Brandopfern verwendet. Es handelt sich also um eine eiskalte Körperverwertung, deren Freibrief mit altruistischen Argumenten und Appellen an die christliche Nächstenliebe erworben wird.


Unterscheiden wir uns in diesem Abrücken vom Tötungsverbot eigentlich noch moralisch von den Grenzüberschreitungen in den NS-Menschenexperimenten?

Die medizinischen Menschenversuche im Nationalsozialismus unterscheiden sich grundsätzlich von allen heutigen Praktiken, weil sie im Rahmen einer gezielten Vernichtung von Menschen stattfanden. Allerdings: Solche symbolischen Entmenschlichungsrituale wie Haarrasur und das Eintätowieren einer Nummer in den Arm boten Voraussetzungen für eine experimentelle Medizin, die eine gewisse Verwandtschaft mit den Menschenversuchen im neunzehnten Jahrhundert hat und die von Material sprach, als sie Menschen für den medizinischen Erkenntnisfortschritt experimentell benutzte. Aber ich möchte betonen: Der Menschenversuch ist grundsätzlich von dem Ziel der Erkenntnisgewinnung zur Heilung von Menschen geleitet und nicht von der Absicht, Patient_innen zu verletzen oder gar zu töten. Die Bemächtigung des Körpers und des Lebens von Patient_innen ist eine Methode der Erkenntnisgewinnung und nicht das Ziel an sich. Sie steht jedoch unter dem Motto: Der Zweck heiligt die Mittel. Wichtig dabei ist: Auch wenn ein Experiment misslingt und im schlimmsten Fall tödlich endet, ist dies ein unverzichtbarer Bestandteil des Erkenntnisprozesses.

Der Aufschwung der modernen Medizin vollzieht sich im neunzehnten Jahrhundert und ist ohne Menschenexperimente im großen Stil undenkbar. Um nur ein Beispiel zu nennen: Robert Koch wäre niemals als Koryphäe der Bakteriologie in die Medizingeschichte eingegangen, wären ihm nicht Menschen in größerer Zahl zur Verfügung gestanden, um an ihnen Impfexperimente durchführen zu können, die teilweise tödlich ausgingen. So benutzte auch Koch das Lager als Ort wissenschaftlicher Erkenntnis in sogenannten concentration camps der Kolonialgebiete in Afrika. In Berlin forschte er an Patient_innen aus der Armutsbevölkerung und sprach in seinen Publikationen über seine Versuchspersonen von Material. Die Verdinglichung und die entmenschlichende Perspektive auf das sogenannte Forschungsmaterial sind zwingende Voraussetzungen, die solche lebensgefährlichen Forschungen überhaupt erst möglich machen.


Robert Koch führte an Menschen
Impfexperimente durch.


Eben diese Perspektive muss auch die Transplantationsmedizin einnehmen, will sie sich als erfolgreiche Therapieform profilieren. Allein der Begriff human vegetable, der den entmenschlichten Status von hirnsterbenden Menschen ausdrückt und der nicht zufällig aus dem eugenischen Diskurs stammt, verweist auf die eigene Beziehung der Transplantationsmedizin zu Patient_innen, die sie als Material für ihre Therapieform benötigt. Ich möchte aber betonen: Diese utilitaristische Perspektive gibt es nicht nur auf Organspender_innen, sondern auch auf die Empfänger_innen. Wenn wir die Geschichte der Transplantationsmedizin Revue passieren lassen, so sind auch Organempfänger_innen reihenweise an Transplantationsversuchen gestorben. Um Erfahrungen sammeln zu können - ob es sich auch heute um die Verbesserung der Organkonservierung, um Lösungsversuche der Abstoßungsproblematik, die Entwicklung neuer Generationen von Immunsuppressiva oder um die Erprobung von operativen Techniken handelt - es müssen jeweils gefährliche und durch nichts rückgängig zu machende Transplantationen riskiert werden. Das heißt, da die Transplantationsmedizin heutzutage, wie sie selbst eingesteht, viele Probleme noch gar nicht verstanden, geschweige denn gelöst hat, bleiben die Organempfänger_innen auch weiterhin Objekte des transplantationsmedizinischen Erkenntnisfortschritts.

Und um ein weiteres Problem deutlich zu machen, das die Organempfänger_innen trifft: Gerade im Zuge des immer größer werdenden Organmangels sind die Spenderkriterien aufgeweicht worden, was für die Empfänger_innen ein umso größeres Risiko birgt. So sind die beiden Gruppen der marginalen Spender_innen und ihr Pendant der marginalen Empfänger_innen aus der Taufe gehoben worden. Das heißt, Menschen, die älter oder bestimmte Erkrankungen haben und deren Lebenserwartung noch geringer ist als dies bei anderen Organempfänger_innen schon der Fall ist, bekommen marginale, das heißt beschädigte und kranke Organe eingepflanzt, deren Transplantation ursprünglich kontraindiziert war. So kommen etwa Lebern mit einer über dreißigprozentigen Verfettung, Raucherlungen oder Organe mit teilweise verdoppelten Konservierungszeiten für eine Verpflanzung in den Körper marginaler Organempfänger_innen infrage.


Die Verwendung marginaler Organe lässt sich dann aber durch den medizinischen Anspruch, andere Patient_innen zu heilen, gar nicht mehr rechtfertigen, oder?

Nein, denn das Ziel ist es, die Wartelisten zu verkürzen und mehr Transplantationen durchzuführen. Interessanterweise hat sich in den letzten Jahren die Mortalität auf der Warteliste von potentiellen Leberempfänger_innen verringert, während sich gleichzeitig die Sterberate nach der Transplantation erhöht hat.

Ein Transplantationsmediziner hat die momentane Situation als Goldgräberzeit-Szenario gekennzeichnet - es gibt ein weites Forschungsfeld, das die Transplantationsmedizin zu bearbeiten hat und eine Menge Probleme, die noch nicht verstanden und gelöst sind. Erfahrungen kann man zum Beispiel im Rahmen des von Eurotransplant gegründeten Old-for-Old-Programms sammeln. Dieses Programm ist für Organempfänger_innen und Spender_innen ab 65 Jahre eingeführt worden. Und Sie kennen ja sicherlich die Werbung um hochbetagte Senioren, in der betont wird, dass dem Alter von altruistischen Organspendern keine Grenzen gesetzt sind.


Wie gestaltet sich das Leben der Organempfänger_innen?

Zunächst ist es wichtig festzuhalten, dass hier immer eine ganze Familie betroffen ist und eine Transplantation mittragen muss, da die schwere Erkrankung nicht grundsätzlich geheilt, sondern umgewandelt wird. Dann dürfen wir eines nicht vergessen: Organempfänger_innen sind, was ihre Erkrankung betrifft, eine sehr heterogene Gruppe, denn es geht in der Verpflanzungstherapie ja nicht um das Verstehen und die Heilung einer ganz bestimmten Krankheit. Vielmehr gibt es nur eine einzige Gemeinsamkeit: Es handelt sich um sterbenskranke Patient_innen, eben mit einer tödlichen und unheilbaren Erkrankung wie etwa Mukoviszidose, Herzerkrankungen im Endstadium, Leberzirrhose oder Leberkrebs, deren Sterben verhindert werden soll.

Vor dem Hintergrund des bedrohlichen Krankheitsverlaufes ist bereits die Zeit auf der Warteliste schwierig, weil über den Betroffenen das Damoklesschwert Leben oder Tod schwebt. Die in Aussicht gestellte Transplantation verändert ganz grundsätzlich die Beziehung zum Sterben im Vergleich zu Menschen und Familien, die sich auf das Sterben einlassen müssen, dafür aber das Leben bis zum Tod entsprechend gestalten können. Bei den potenziellen Organempfänger_innen stehen hingegen der Zwang zur Verdrängung des Sterbens und die Hoffnung auf ein neues Leben im Zentrum.


Menschen mit geringer Lebenserwartung
bekommen beschädigte und kranke Organe.


Eine Schwierigkeit der Wartelistenzeit ist, dass diese Patient_innen eigentlich auf den Tod eines anderen Menschen warten. Es kommt verständlicherweise häufig vor, dass Todeswünsche formuliert werden und die Frage gestellt wird: "Wann stirbt denn endlich jemand für mich?" Je länger die Wartezeit dauert - ob man das will oder nicht und es mit dem eigenen Selbstverständnis vereinbaren kann - es entsteht bei vielen dieser Todeswunsch. In diesem Zusammenhang ist sogar der Begriff Spenderwetter aufgekommen - der Wetterbericht wird in der Hoffnung verfolgt, dass Nebel oder Glatteis zu einer größeren Zahl tödlicher Unfälle führen könnte, um an das begehrte Spenderorgan zu kommen.

Wenn dann der Anruf von der Klinik kommt und gesagt wird "Das Organ ist da.", müssen die Empfänger_innen mit ihrer Familie sich umgehend in die Klinik begeben. Die Patient_innen haben auch sofort ein Päckchen Tabletten zu schlucken, um mit der Immunsuppression gegen eine Abstoßungsreaktion des einzupflanzenden Organs zu beginnen. Dann kommt die Operation selbst, die ja höchst invasiv und nach wie vor durch die Einpflanzung eines Körperteils, das von einem fremden Menschen stammt, auch unheimlich ist. Sie ist mit Extremerfahrungen psychischer und körperlicher Natur verbunden. Eine Physiotherapeutin, die Organempfänger_innen behandelt, hat in einem Interview deren Zustand mit dem Begriff der Traumatisierung meines Erachtens auf den Punkt gebracht.

Wenn die Operation glückt, treten in der Zeit danach die häufigsten Komplikationen auf, denn die natürliche Abstoßung des Fremdkörpers wird mit sehr hohen Dosen von Medikamenten bekämpft, sodass die Immunabwehr lahmgelegt wird und die daraus folgende Gefahr von nur schwer behandelbaren Infektionen besteht. Außerdem zählt zu den häufigeren Nebenwirkungen der Immunsuppression in der Zeit nach der Transplantation auch Niereninsuffizienz, sodass dann eine Behandlung an der Dialyse notwendig wird.

Nach der Entlassung aus der Klinik beginnt wiederum ein schwieriger Prozess, weil die immununterdrückenden Medikamente lebenslang genommen werden müssen und zu Hause erst einmal Sauberkeits- und Hygienemaßnahmen zu organisieren sind, die bestimmend für das Leben von Organempfänger_innen werden. Auch bleibt die engmaschige Überwachung durch Kontrolluntersuchungen in der Klinik weiterhin notwendig. Wenn die Patient_innen nach Hause kommen, müssen sie einen Mundschutz tragen, es dürfen keine Haustiere gehalten werden, die ganze Familie hat damit zu tun, die für die Organempfänger_innen lebensbedrohlichen Infektionsgefahren abzuwehren. Auch prägt ein Hin und Her zwischen Klinik und zu Hause das Leben dieser Patient_innen.

Das erste Jahr ist die schwierigste Phase, in der viele Komplikationen auftreten und mit denen alle Organempfänger_innen zu rechnen haben. Außerdem gibt es dann auch mehr tödliche Verläufe. Während der ersten Phase bekommen Organempfänger_innen außerdem noch eine hohe Dosis von Cortison verabreicht, sodass sie sich auch körperlich verändern. Beispielsweise Bartwuchs bei Frauen und das sogenannte Vollmondgesicht sind typische äußerliche Begleiterscheinungen, die vor allem von pubertierenden Jugendlichen nicht leicht ertragen werden, weil sie sich in einer sensiblen Körper- und Identitätsauseinandersetzung befinden.

Das mechanistische Menschenbild, das der Transplantationschirurgie zugrunde liegt, widerlegt sich selbst, wenn die vielen und lebensgefährlichen Nebenwirkungen in Betracht gezogen werden. So gibt es nicht nur die naive Vorstellung von einer Transplantation in der Bevölkerung, die von der Reklame für Organspende verbreitet wird, sondern auch Empfänger_innen vor ihrer Transplantation gehen davon aus: "Ich bekomme eine neue Leber und alles ist okay." - doch die Kollision des eingepflanzten Fremdkörpers mit unserer angeborenen Immunabwehr und die notwendige Lahmlegung des Immunsystems lehren etwas anderes. Denn Organempfänger_innen bleiben bis zu ihrem Lebensende Patient_innen und müssen mit schwerwiegenden Nebenwirkungen rechnen.


Durch die Immunsuppression treten erschreckend hohe Krebsraten und eine hohe Zahl von Infektionskrankheiten auf. Erinnert das nicht an das Krankheitsbild von AIDS?

Ja, dieses Phänomen wurde auch schon von medizinischer Seite so beschrieben, dass die Immunsuppression im Grunde ein Krankheitsbild erzeugt, das mit einer HIV-Infektion vergleichbar ist. Durch die Immunsuppression ist das Krebsrisiko zunächst fünfundsechzigfach erhöht und die Gefahr an einem bösartigen Tumor zu erkranken steigt, je länger jemand mit dem fremden Organ und der Immunsuppression lebt, sodass letztendlich über kurz oder lang jede_r Organempfänger_in mit einer Krebserkrankung rechnen muss. Diese Folgewirkungen der Organverpflanzung machen wiederum eine Behandlung und auch Forschungen notwendig, welche die Kombination von Immunsuppression und Chemotherapie auszubalancieren versucht. So führt eine bekannte Pharmafirma auf der Seite Transplantation ihrer Homepage auch gleichzeitig das Stichwort Onkologie auf.


Durch die Lahmlegung der Immunabwehr ist
das Krebsrisiko fünfundsechzigfach erhöht.


Wie hoch ist letztlich die Krebsrate bei Organtransplantierten?

In den einschlägigen Publikationen sowie in der Aufklärung der potenziellen Organempfänger_innen werden Tumorerkrankungen grundsätzlich als eine der typischen Nebenwirkungen einer Transplantation genannt. Weitere häufige Komplikationen sind Nierenversagen, Leberschädigungen, lebensgefährliche Infektionen durch Bakterien, Viren und Pilze und dann gibt es noch viele andere Folgeerkrankungen, die je nach Präparat der Immunsuppression variieren. In Interviews wurden mir diese in der Literatur genannten Nebenwirkungen auch geschildert. Interessant ist außerdem, dass die DSO Zahlen vom Tod auf der Warteliste mit einem konstruierten und falschen Schuldzusammenhang von Wartezeit, Sterberaten und mangelnder Organspendebereitschaft regelmäßig veröffentlicht, aber noch keine einzige Überlebens- oder Morbiditätsstatistik der Organempfänger_innen publiziert hat. Auch die Krankenkassen in Deutschland, die zur Organspendewerbung ihrer Kund_innen gesetzlich verpflichtet sind, beschweigen dieses Thema.


Worauf würden Sie das zurückführen?

Dass damit keine Werbung zu machen ist. Wenn man die Kompliziertheit, die Überlebensraten der Organempfänger_innen sowie die Nebenwirkungen und Konsequenzen einer Transplantation der Bevölkerung erklären würde, bräche die naive Vorstellung von der simplen Lebensrettung durch eine Organspende zusammen. In Publikationen der Transplantationsmedizin wird ja auch zugegeben, dass zwar bessere Ergebnisse des Kurzzeitüberlebens nach einer Transplantation erzielt worden sind, aber die Resultate hinsichtlich des langfristigen Überlebens der Organempfänger_innen sehr zu wünschen übrig lassen.

Die Überlebensraten sind dabei von Organ zu Organ sehr verschieden. Bei Nierenempfänger_innen gibt es die besten Langzeitergebnisse. Außerdem können diese Patient_innen bei einer Abstoßung durch eine Dialyse weiter behandelt werden, was bei anderen Organverpflanzungen so nicht möglich ist. Laut statistischen Angaben einer bekannten Pharmafirma liegt die sogenannte Funktionsrate der Niere bei jedem zweiten Patienten über dreizehn Jahren. Bei einer Lungentransplantation hingegen sterben allein im ersten Jahr 28 Prozent, nach fünf Jahren der Transplantation sind 57 Prozent der Lungenempfänger_innen verstorben und nach einer Transplantation bei einem akuten Leberversagen sind es 35 Prozent, die das erste Jahr nicht überleben. Nach einer Retransplantation sind die Überlebenschancen jeweils sehr viel geringer.


Würden Sie sagen, dass Organspende falsch ist?

Ich bin der Meinung, dass die Transplantationsmedizin an sich ein falscher Ansatz für das Heilen ist. Abgesehen davon beinhaltet sie einen unerträglichen Umgang mit sterbenden Menschen. Neben der ethischen Problematik hinsichtlich der Körper- und Todesabhängigkeit ihrer eigenen Patient_innen beruht ja auch die Transplantationsmedizin auf dem Versuch, ein Naturgesetz unserer leiblichen Realität überwindbar machen zu wollen. Denn die angeborene und lebenswichtige Immunabwehr muss chemisch außer Kraft gesetzt werden, um die ansonsten tödliche Abstoßung des Fremdkörpers zu verhindern. Um aus diesem transplantationsmedizinischen Teufelskreis herauszukommen, gibt es ja eine Verknüpfung der Verpflanzungsmedizin mit der Gentechnologie. Mit Hilfe gentechnologischer Manipulationen erhofft sich die Transplantationsmedizin einen Durchbruch in der Lösung der Organabstoßung. Man erzeugt momentan transgene Schweine mit menschlichem Genmaterial und erzeugt ein sogenanntes knockout - ein Begriff aus dem Kampfsport - eines bestimmten Gens, das für die Abstoßung zuständig ist. Dieses Forschungskonzept macht noch einmal deutlich, dass die Transplantationsmedizin eine Flucht aus unserer biologischen Wirklichkeit antritt. Und nicht zu vergessen ist, dass die genannten Punkte zusammen genommen die Transplantationschirurgie zu einer höchst gewalttätigen Therapieform machen.

Deswegen plädiere ich für eine Forschung, die von der Ganzheit unserer leiblichen Verfasstheit ausgeht, diese zum Ausgangspunkt nimmt und eben nicht mit allen Mitteln der Macht auf die Körper sterbender Patient_innen zurückgreifen muss und auf deren Zergliederung angewiesen ist, um eine Therapieform durchzusetzen.


Die Transplantationsmedizin
ist ein falscher Ansatz für das Heilen.


Man sieht momentan wieder eine große Plakatwerbekampagne für Organspendeausweise. Wie bewerten Sie diese öffentliche Kampagne?

Der Bundestag hat ja im letzten Jahr ein neues Gesetz verabschiedet, mit dem die Organspendebereitschaft in der Bevölkerung erhöht werden soll. Die DSO betreibt in Kooperation mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine Werbung, die mit Aufklärung nichts zu tun hat, sondern eher den Charakter einer Desinformationspolitik trägt. Die auf den Spenderausweisen benutzte Formulierung "Für den Fall, dass nach meinem Tod..." vermittelt die traditionelle Vorstellung von hirntoten Patient_innen als Leichen. Diese Formulierung entspricht meines Erachtens einer vorsätzlichen Täuschung. Wie erwähnt, werden Hirntote weiterhin medizinisch betreut und verfügen eben nicht über die üblichen Todeszeichen. Außerdem können sie bei der Eröffnung ihres Körpers mit Schwitzen, Bewegungen, Blutdruck und Pulsanstieg reagieren - nicht zuletzt deswegen wird ja auch teilweise eine Narkose verabreicht. Da all diese Fakten beschwiegen werden, halte ich solche Kampagnen für verwerflich. Sie führen die Bevölkerung aufs Glatteis, um auf Gedeih und Verderb an mehr Organe zu kommen.


Prof. Dr. Anna Bergmann studierte Politikwissenschaften an der FU Berlin und promovierte über die Geschichte der Rassenhygiene im Deutschen Kaiserreich. Sie habilitierte über die Kulturgeschichte der modernen Medizin und des Menschenversuchs. 2008 wurde sie zur außerplanmäßigen Professorin an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) ernannt und lehrt außerdem an den Universitäten Innsbruck, Wien und Graz.

Ausgewählte Publikationen zum Thema:
1999: Herzloser Tod. Das Dilemma der Organspende. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag (mit Ulrike Baureithel).
2004: Der entseelte Patient. Die moderne Medizin und der Tod. Berlin: Aufbau-Verlag.
2014: Lebensverlängerung um jeden Preis? Das Dilemma der Organspende (in Vorbereitung).

Eine gekürzte Version dieses Interviews wurde im Journal 360° 2/2013: Glauben // Wissen abgedruckt.

URL des Artikels:
http://www.journal360.de/wp-content/uploads/2013/12/Interview_GlaubenWissen-131124.pdf

Die aktuelle Ausgabe des Journals 360° zum Thema Glauben // Wissen kann bestellt werden unter:
http://www.journal360.de/erwerben

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Quelle:
Journal 360° - Das studentische Journal für Politik und Gesellschaft
Ausgabe 2/2013: Glauben // Wissen, S. 54-64
Der Schattenblick veröffentlicht die ungekürzte Version des Interviews.
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Vorstand: Lena Habermann | René Rosin | Mirka Brüggemann
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2013