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UMWELT/642: Atomare Bedrohung bringt WHO und WHO-kritische NGOs an einen Tisch (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 6. Mai 2011

Gesundheit: Atomare Bedrohung bringt Weltgesundheitsorganisation und WHO-kritische NGOs an einen Tisch

Von Gustavo Capdevila


Genf, 6. Mai (IPS) - Unter dem Eindruck der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima hat sich die Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Margaret Chan, mit einer Gruppe WHO-kritischer Nichtregierungsorganisationen getroffen, um über Verbesserungen im Umgang mit Opfern radioaktiver Strahlen zu sprechen.

'IndependentWHO', so der Name der Nichtregierungsorganisationen (NGOs), legte Chan einen Forderungskatalog vor. Darin wurde die UN-Organisation aufgefordert, die in radioaktiv verseuchten Gebieten lebenden Menschen besser vor gefährlichen Ionisierungsstrahlen zu schützen. Auch müssten die Betroffenen angemessen medizinisch versorgt werden und die Lebensmittel erhalten, die den Abbau der Radioaktivität in ihren Körpern beschleunigen.


Unabhängige Kommission gefordert

Ebenso mahnten die NGOs die Bildung einer Kommission aus unabhängigen Experten an, die sich eingehend mit den Ionisierungsstrahlen befassen und die Langzeitfolgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl erforschen sollen. Den Aktivisten zufolge sollen die Untersuchungsergebnisse 2014 auf der Weltgesundheitsversammlung (WHA) vorgestellt werden.

Ionisierungsstrahlen verändern die Beschaffenheit von elektrisch neutralen Atomen und Molekülen, indem sie Elektronen abtrennen und positiv und negativ geladene Teilchen erzeugen. Bei der Ionisierung wird Energie freigesetzt, die zu schweren Strahlenschäden führen kann.

IndependentWHO verlangt ferner die Veröffentlichung von Dokumenten, die auf den Weltgesundheitsversammlungen 1995 in Genf und 2001 in Kiew zu den Folgen des Reaktorunfalls in Tschernobyl vom 26. April 1986 vorgestellt worden waren. Den NGOs zufolge blieben die Papiere unter Verschluss, um die Interessen der Atomlobby zu schützen.

Außerdem setzen sich die Aktivisten für eine Revision eines 1959 geschlossenen Abkommens zwischen WHO und Internationaler Atomenergiebehörde (IAEA) ein, in dem sich beide UN-Agenturen auf eine enge Zusammenarbeit in Bereichen einigten, die von gegenseitigem Interesse sind. Die IAEA ist eine UN-Organisation zur Förderung der friedlichen und sicheren Nutzung der Atomkraft. Sie ist dem UN-Sicherheitsrat unterstellt, die WHO dem weniger einflussreichen UN-Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC).

Nach Ansicht von IndependentWHO ist die Übereinkunft WHA 12-40 aus dem Jahre 1959 für Fehlinformationen über die gesundheitlichen und ökologischen Auswirkungen des Reaktorunfalls von Tschernobyl verantwortlich. Sie sieht ferner die Geheimhaltung bestimmter Informationen vor.

Gemäß dem Abkommen ist allein die IAEA für die Opfer nuklearer Katastrophen zuständig, obwohl der Organisation das dafür notwendige UN-Mandat und Know-how fehlen. Dem NGO-Bündnis zufolge hindert das Abkommen die WHO somit daran, ihre Aufgaben zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit wahrzunehmen.

WHO und IAEA hatten die Zahl der Tschernobyl-Opfer 2005 mit insgesamt 50 Toten und 4.000 Krebskranken angegeben. Doch IndependentWHO moniert, dass diese Zahlen nicht die vielen Kinder in den kontaminierten Gebieten berücksichtigten, die eine Erkrankungsrate von 80 Prozent vorweisen. Ebenso wenig werde das Schicksal der 600.000 bis 1.000.000 sogenannten Liquidatoren einbezogen, die die Rettungs- und Säuberungsaktivitäten in Tschernobyl durchführten und somit der größten Strahlenkonzentration ausgesetzt waren.

Eine russische Untersuchung ('Chernobyl: Consequences of the Catastrophe for People and the Environment'), die im Dezember 2009 von der Wissenschaftsgesellschaft 'New York Academy of Science' veröffentlicht wurde, gibt die Zahl der Tschernobyl-Strahlenopfer, die zwischen dem 26. April 1986 und 2004 ums Leben kamen, mit 985.000 an. Mehr als 80 Prozent der Kinder, die damals in der Ukraine, Weißrussland und Russland radioaktiv verseucht worden waren, hätten sich damals bei guter Gesundheit befunden, heißt es in der Studie. Heute hingegen gehe es nur noch weniger als 20 Prozent gut.

Die WHO-Chefin Chan stimmte ihren Gesprächspartnern zu, dass die mit 50 angegebene Zahl der Opfer, die direkt durch den Reaktorunfall in Tschernobyl ums Leben kamen, zu niedrig angesetzt sei. Doch Alison Katz von der internationalen Volksgesundheitsbewegung erklärte gegenüber IPS, dass die WHO die Zahl nie korrigiert habe.

Seit dem 27. April 2007 halten die Mitgliedsorganisationen von IndependentWHO vor dem WHO-Gebäude in Genf an allen Werktagen Mahnwachen ab, um eine Revision des WHO-IAEA-Abkommens zu erreichen. Die WHO müsse endlich ihrem Verfassungsauftrag nachkommen, "allen Menschen das höchste Maß an Gesundheit zu verschaffen". (Ende/IPS/kb/2011)


Links:
http://www.independentwho.info/accueil_EN.php
http://www.who.int/en/
http://www.independentwho.info/WHA_12_40_EN.php?sous_menu=onu
http://www.iaea.org/
http://www.phmovement.org/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=55403
http://ipsnews.net/news.asp?idnews=55510

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 6. Mai 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Mai 2011