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ARTIKEL/1435: Das erste deutsche Praxisnetz wurde vor 20 Jahren gegründet (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 11/2016

PRAXISNETZE
Blauäugig zum Start, erfahren in die Zukunft

Von Dirk Schnack


20 Jahre Medizinische Qualitätsgemeinschaft Rendsburg (MQR): Das erste deutsche Praxisnetz blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück und stellt sich professionell für die Zukunft auf.


Das erste deutsche Praxisnetz wurde vor 20 Jahren in Rendsburg gegründet. Zum Jubiläum zeigte die Medizinische Qualitätsgemeinschaft Rendsburg (MQR), wie sie sich die Kooperation der Haus- und Fachärzte künftig vorstellt und bekam zugleich Anschauungsunterricht aus Bayern. Von dort hatte man sich den Gastredner eingeladen: Dr. Andreas Pötzl aus dem Praxisnetz Unternehmung Gesundheit Hochfranken (UGHO) stellte den Kollegen im Norden vor, wie sich das Netz in Hof und Umgebung aufgestellt hat. Die erst 2010 gegründete Organisation ist inzwischen deutlich weiter als der einstige Pionier im Norden. Vieles von dem, was in Hof schon erreicht wurde, schwebt auch den MQR-Verantwortlichen vor.

Das Rendsburger Netz ist inzwischen einer der zehn von der Kassenärztlichen Vereinigung (KVSH) geförderten ärztlichen Zusammenschlüsse in Schleswig-Holstein. In Rendsburg wird der Schwerpunkt der Netzarbeit derzeit auf drei Bereiche gelegt: Die elektronische Verknüpfung über eine einheitliche Softwarebasis, Bemühungen um regionale Versorgungsverträge mit Krankenkassen als Ergänzung zur Grundversorgung und Aufbau eines webbasierten Informationssystems auf der Homepage für die beteiligten Arztpraxen.

Der hausärztliche MQR-Vorstand Dr. Hendrik Schönbohm aus Alt Duvenstedt erklärte die künftige Ausrichtung an drei zentralen Problemen, die er für das ambulante Gesundheitswesen sieht:

• Das Gesundheitswesen ist komplex und intransparent, laiengesteuert und bürokratisch: Hier bietet eine IT-Vernetzung mit direktem Datenaustausch die Lösung. Im Praxisnetz wird mit einer Software gearbeitet, die den beteiligten Praxen eine Übertragung der Patientendaten direkt in die Patientenakte ermöglicht. Damit werden die über einen Patienten vorliegenden Informationen für jeden Behandler zugänglich gemacht, wenn der Patient dies wünscht. Fehlsteuerungen und Mehrfachuntersuchungen lassen sich damit reduzieren, der Austausch von Informationen wird erleichtert. Das Modell ist von Datenschützern zugelassen und verzichtet auf eine zentrale Datenhaltung.

• Die Notwendigkeit zur Kooperation trifft auf ärztliche Gleichgültigkeit: Ehrenamtliches Engagement ist auch in den Zusammenschlüssen vor Ort auf zu wenige Schultern verteilt. Die Gründe sind zahlreich: Zeitmangel, schlechte Organisation der eigenen Praxis, die Mitglieder erkennen keine eigenen Vorteile in einem Engagement oder überschätzen schlicht die eigene Position im Gesundheitswesen und glauben, auf Kooperation verzichten zu können. Die MQR bezahlt deshalb inzwischen das Engagement im Netz, stellt die Vorteile einer Mitgliedschaft immer wieder heraus und setzt etwa auf die Entwicklung regionaler Versorgungsverträge mit den Krankenkassen.

• Die Wissens- und Anforderungsexplosion in der Medizin: "In den nächsten zehn Jahren wird mehr gedruckt als in den Jahren von 1440 bis heute", verdeutlichte Schönbohm. Die Lösung in Rendsburg ist ein webbasiertes arztspezifisches Informationssystem, in dem jedes Mitglied für einen kleinen Teilbereich zuständig ist und diesen aktualisiert. Die dort bearbeiteten Themen sind für jeden im Netz zugänglich.

Von solchen Lösungsansätzen war man bei der Netzgründung im Jahr 1996 weit entfernt. Der langjährige hausärztliche Vorstand Dr. Helmut Scholz sprach bei der Jubiläumsveranstaltung im Rendsburger Conventgarten vom "Urknall der Netzbewegung in Deutschland", als die Rendsburger Ärzte den Zusammenschluss wagten. In der Folgezeit entstanden dann in ganz Deutschland solche Netze, zeitweise gab es drei Dachverbände für die Zusammenschlüsse. "Wir sind blauäugig gestartet und hatten oft auch Grundberührung", sagte Scholz, der jahrzehntelang die Hausärzte im Netz vertreten hat und noch heute deren stellvertretender Vorsitzender ist, rückblickend. Doch dem Netz sei es immer wieder gelungen, trotz zahlreicher Probleme weiterzuarbeiten. Spätestens mit dem Förderbescheid kann man in Rendsburg wieder optimistisch in die Zukunft blicken: "Heute haben wir wieder etliche Möglichkeiten", so Scholz.

Ob die Rendsburger Ärzte das Netz auch gegründet hätten, wenn sie die Schwierigkeiten und Hürden, die auf sie zukommen sollten, geahnt hätten? Fest steht, dass sie bei allen Rückschlägen neue Wege beschritten und eine Signalwirkung ausgeübt haben, wie es Gesundheitsökonom Prof. Heiner Rüschmann in einem von Scholz verlesenen Grußwort formulierte. Die wichtigsten Meilensteine nannte Aufsichtsratschef Michael Sturm in einem Rückblick: Entstanden war die Idee aus Unzufriedenheit der niedergelassenen Ärzte mit den damals herrschenden Rahmenbedingungen in der ambulanten Medizin. Auf einem Hausärztestammtisch entstand 1995 die Idee eines Zusammenschlusses, im November fand das in Rendsburger Ärztekreisen inzwischen legendäre "Kropper Wochenende" statt. Offizieller Start war fast ein Jahr später am ersten Oktober 1996, 86 Praxen mit 117 Ärzten aus Rendsburg und Umland waren damals dabei - fast alle. Auch ein Vertragspartner fand sich: Der Ersatzkassenverband schob die MQR maßgeblich mit an. Entsprechend hoch war die Motivation zum Start und die ersten Projekte wurden mit viel Engagement angegangen. Ein Patientenpass wurde entwickelt, ein "Psycho-Netz" gegründet und bundesweite Treffen mit Netzärzten der ersten Stunde aus allen Teilen Deutschlands fanden damals noch in Rendsburg und nicht in Berlin statt. Eine hochkarätig besetzte Jury verlieh dem "Projekt" MQR 1998 den Deutschen Gesundheitspreis für Innovationen im Gesundheitswesen. Im Jahr 2000 änderte das Netz seine Rechtsform von der GbR zur Genossenschaft und ließ sich fortan von der privaten Klinikkette Sana managen. Diesen Schritt bereute das Netz schnell. Zwei Jahre später war der Vertrag gekündigt. Ende 2002 konnte eine drohende Insolvenz nur knapp verhindert werden. 2005 vereinbarte das MQR mit der AOK einen Vertrag zu Einsparungen bei Medikamentenverordnungen, 2012 folgten Diskussionen über eine IT-Vernetzung. Seit 2013 fördert die MQR die Einrichtung von KV SafeNet, im gleichen Jahr wird auch berenteten und angestellten Ärzten die Mitgliedschaft ermöglicht. Überlegungen, ein netzeigenes MVZ oder eine Berufsausübungsgemeinschaft zu gründen, werden im vergangenen Jahr zu den Akten gelegt. Im gleichen Jahr wird der Förderantrag durch die KVSH genehmigt. Die Fördersumme von 100.000 Euro ermöglicht es dem Netz, sich zu professionalisieren und ein Management durch die Ärztegenossenschaft zu leisten. Schritte zur Professionalisierung sind u. a. eine vom Netz geförderte Softwareumstellung, eine eigene Webseite, eine Zertifizierung und die Erarbeitung von Qualitätsindikatoren.

"Wir sind blauäugig gestartet und hatten oft auch Grundberührung. Heute haben wir wieder etliche Möglichkeiten."

Die meisten dieser Schritte hat die UGHO schon hinter sich, wie der Bericht von Gast Dr. Andreas Pötzl zeigte. Das Praxisnetz in Hof versorgt mehr als 15.000 eingeschriebene AOK-Versicherte unabhängig von der KV über einen eigenen Vollversorgungsvertrag; es ist damit eines von sechs Netzen im Freistaat, die solche Verträge aushandeln konnten. Für die Abrechnung gibt es nur zehn hausärztliche Ziffern, das Honorarvolumen für diesen Vertrag liegt zwischen fünf und sechs Millionen Euro. Die AOK zahlt eine Summe für jeden eingeschriebenen Versicherten, die Honorarverteilung übernimmt das Netz nach klar definierten Regeln. Laut Pötzl kommen die Netzärzte damit auf Scheinwerte zwischen 70 und 100 Euro. Dafür verpflichten sich die 75 Ärzte aus 43 Praxen u. a. zu DMP, Datenaustausch und Fortbildungen.

Die Netzärzte haben außerdem eine Dringlichkeitsüberweisung eingeführt, mit der jeder eingeschriebene Versicherte innerhalb von 48 Stunden einen Facharzttermin bekommt. Sogenannte eNurses - speziell ausgebildete nicht-ärztliche Praxisassistentinnen - übernehmen im Netz Hausbesuche. Sie sind mit Notebook, telemedizinischer Messtechnik und Video ausgestattet, haben von unterwegs Zugriff auf die Praxissoftware und können ständig mit der Praxis kommunizieren. Im Ergebnis konnten mehr Leistungen delegiert und der Hausarzt entlastet werden. Für Pötzl bleibt aber die Kooperation der Kollegen der entscheidende Faktor: "Je mehr die Ärzte zusammenarbeiten, desto stärker ist die Entlastung."


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 11/2016 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2016/201611/h16114a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
69. Jahrgang, November 2016, Seite 12 - 13
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2016

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