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ARTIKEL/1437: Landtag entdeckt die Gesundheitspolitik (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2016

Bürgerversicherung
Landtag entdeckt die Gesundheitspolitik

von Dirk Schnack


Im November beschäftigt sich das Kieler Parlament mit der paritätischen Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Regierungskoalisation will sich für Bürgerversicherung einsetzen.


Gesundheitspolitik ist selten Thema im schleswig-holsteinischen Landtag. Im November war es soweit: Auf Antrag der Regierungsparteien SPD, Grüne und SSW beschäftigte sich das Parlament mit der Parität in der gesetzlichen Krankenversicherung. In der Debatte machte SPD-Chef Ralf Stegner dann deutlich, dass es ihm um mehr geht - er weitete das Thema auf das komplette Finanzierungssystem im Gesundheitswesen aus, forderte die Bürgerversicherung und verknüpfte damit sogar eine Koalitionsaussage im Bund.

"Ohne Bürgerversicherung sollte die SPD sich an keiner Koalition im Bund mehr beteiligen", sagte der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende. Zunächst jedoch will sich die schleswig-holsteinische Landesregierung für die Abschaffung des Zusatzbeitrags in der gesetzlichen Krankenversicherung einsetzen. Denn diesen hält Stegner für "verteilungspolitisch ungerecht und ordnungspolitisch falsch", er sprach von einem "Beitrag zur zunehmenden Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung".

Worum geht es? Der Arbeitgeberbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung ist bundesgesetzlich bei 7,3 Prozent eingefroren. Zusammen mit dem Arbeitnehmerbeitrag macht dies 14,6 Prozent; mit diesem Beitragssatz können die gesetzlichen Krankenkassen ihre derzeitigen Ausgaben nicht decken. Nötig ist ein Beitrag, der von den versicherten Arbeitnehmern allein getragen wird. Je nach Höhe des Einkommens können dies derzeit bis zu 560 Euro im Jahr sein. "Das belastet nicht nur die Versicherten und entlastet die Arbeitgeber von der Finanzierung des medizinischen Fortschritts und den Kosten einer solidarischen Gesundheitsversorgung. Außerdem zwingen Zusatzbeiträge Krankenkassen in einen Kostenwettbewerb um wettbewerbsförderliche Beiträge", argumentieren die Regierungsfraktionen in ihrem Landtagsantrag zum Thema. Sie sehen darin einen ordnungspolitischen Fehlanreiz, weil nach dieser Systematik wettbewerbliche Beitragssätze wichtiger werden als Versorgungsqualität und Versichertennähe.

Stegner erwartet aber nicht nur "vollständige Parität", sondern auch die Bürgerversicherung. Er begründet den Vorstoß aus Schleswig-Holstein mit einer aus seiner Sicht notwendigen breiteren Finanzierungsbasis für das Gesundheitswesen. Neben der Einbeziehung sämtlicher Bürger will er bei der Beitragsbemessung außer dem Erwerbseinkommen auch Kapital berücksichtigt wissen und die Beitragsbemessungsgrenze "im Idealfall gänzlich abschaffen".

Unterstützung erhielt Stegner in der Landtagsdebatte aus den Reihen der Kieler Koalitionspartner SSW und Grüne sowie von den Piraten. Die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, die Ärztin Dr. Marret Bohn, glaubt nicht, dass das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung weiterhin dauerhaft funktionieren wird. "Fragen Sie mal ältere Privatpatienten, wie hoch ihre Beiträge sind", sagte Bohn. Nach ihrer Ansicht bringt der Zusatzbeitrag das Gleichgewicht in der Finanzierung der Krankenversicherung "aus dem Ruder". Auch ihr SSW-Kollege Flemming Meyer sieht im Wettbewerb der Krankenkassen eine negative Entwicklung: "Für Versicherungen tritt das Ziel, möglichst junge und gesunde Kunden zu binden, in den Vordergrund", sagte Meyer. Er sieht Handlungsbedarf, weil manche Experten für die kommenden Jahre einen deutlichen Anstieg der Beiträge erwarten. Für Meyer steht fest: "Diese Entwicklung ist schlicht und einfach ungerecht und darf sich nicht auch noch fortsetzen."

Der frühere Landesgesundheitsminister Heiner Garg (FDP) nahm die Landtagsdebatte als "zielsicher am zentralen landespolitischen Problem vorbei" wahr. Er sprach von "purer gesundheitspolitischer Heuchelei", weil dieses Thema im Land nicht entschieden wird. Garg empfahl der Küstenkoalition, sich stattdessen um die Gesundheitsversorgung zu kümmern: "Keine einzige Idee und kein einziges Konzept hierzu in viereinhalb Jahren", bilanzierte Garg. Statt "gesundheitspolitischer Placebos in Richtung Bund" setze seine Partei auf die Abschaffung des Gesundheitsfonds und die komplette Rückübertragung der vollständigen Beitragsautonomie auf die gesetzlichen Krankenkassen.

Der gesundheitspolitische Sprecher der CDU, Karsten Jasper, erinnerte die Regierungskoalition daran, dass 2004 die rot-grüne Bundesregierung den zusätzlichen Beitrag von 0,9 Prozent beschlossen hatte. Damals sahen die beiden Parteien darin noch einen Beitrag zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung. Jasper erinnerte die SPD: "Sie profitiert noch heute von der Agenda 2010. Nur deswegen kann die jetzige Regierung so frei regieren, wie sie es derzeit tut."

Mit der jetzt entfachten Debatte, vermutet Jasper, wollen SPD, Grüne und SSW eine "wirtschaftlich notwendige Weichenstellung der vergangenen Jahre zurückdrehen und mit einheitlichen Beiträgen jeden Wettbewerb zwischen den Krankenkassen ersticken" - mit dem Ziel der Bürgerversicherung. "Wir wissen aber aus anderen Ländern, dass eine Einheitsversicherung kein besseres Gesundheitswesen schafft", warnte der CDU-Gesundheitsexperte. Er plädierte im Landtag dafür, "unser leistungsfähiges Gesundheitswesen mit seinen Wettbewerbsanreizen" zu erhalten.

Fast zeitgleich mit der Debatte zeigte eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, wie komplex die Umstellung auf eine Bürgerversicherung wäre. Das mit der Studie beauftragte IGES-Institut hatte dafür Transformationsszenarien durchgespielt, die die Konsequenzen einer Umstellung deutlich machen.

Erstes Szenario: Die PKV wird ab einem Stichtag für Neukunden geschlossen, bestehende Verträge aber weitergeführt. Die PKV würde voraussichtlich innerhalb von zwei Jahren ein Drittel ihrer Versicherten verlieren. Nach drei Jahren hätten 60 Prozent der PKV-Beschäftigten ihren Job verloren und Leistungserbringer müssten mit starken Honorarverlusten rechnen.

Zweites Szenario: Der duale Versicherungsmarkt bleibt bestehen, aber mit einem übergreifenden Risikostrukturausgleich ohne Wechseloptionen. Dies hätte schwer zu kalkulierende Ausgleichszahlungen zur Folge mit Beitragserhöhungen für PKV-Versicherte. Die Folge wären weniger Neukunden und Arbeitsplatzverluste in der PKV.

Drittes Szenario: Übergreifender Risikostrukturausgleich mit Wechseloptionen: Hier würde es zu einer höheren monatlichen Belastung für PKV-Versicherte als in Szenario zwei und zu einem Abschmelzen des Versichertenbestandes kommen. Mittelfristig würde die PKV voraussichtlich ein Drittel ihrer Mitglieder verlieren.

Viertes Szenario: Dualer Versicherungsmarkt mit erhöhten Versicherungspflichtgrenzen, also die Einkommenshöhe, ab der ein Versicherter überhaupt in die PKV wechseln darf. Wenn diese Grenze auf Niveau der Rentenversicherung angehoben wird, müssten rund eine Million derzeit PKV-versicherte Arbeitnehmer in die gesetzliche Krankenversicherung wechseln. Innerhalb von zehn Jahren hätte die PKV damit ein Viertel ihrer Mitglieder verloren.

Im Ergebnis käme es bei jedem Szenario zu Verschiebungen der Marktanteile zulasten der PKV und zu einem Arbeitsplatzabbau. Die größten Auswirkungen hätte Szenario eins.

Ob eines dieser Szenarien jemals Realität wird, entscheidet aber nicht das Kieler, sondern das Parlament in Berlin - und dort wird schon länger als ein Jahrzehnt über das Konzept der Bürgerversicherung gestritten.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2016 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2016/201612/h16124a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- SPD-Landeschef Ralf Stegner im Kieler Landag. Stegner fordert nicht nur eine Rückkehr zur Parität in der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern auch die Bürgerversicherung. Nach seiner Auffassung sollte sich seine Partei im Bund an keiner Koalition, die dieses Konzept nicht umsetzt, beteiligen.

- Karsten Jasper ist gesundheitspolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion. Er warnte im Landtag vor einer "Einheitsversicherung". Dieses Modell habe schon in anderen Ländern bewiesen, dass es zu keinem besseren Gesundheitswesen führe.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
69. Jahrgang, Dezember 2016, Seite 10 - 11
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Januar 2017

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