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ARTIKEL/1483: Eppendorfer Dialog - Unterschiedliche Meinungen zur Cannabis-Therapie (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 5/2018

Cannabis
Ohne Evidenz, aber unverzichtbar?

von Dirk Schnack


22. Eppendorfer Dialog: Die Unterschiedlichen Meinungen zur Cannabis-Therapie prallen aufeinander. Insbesondere die Krankenkassen sind unzufrieden mit dem Gesetz.


Das im März 2017 in Kraft getretene Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften - besser bekannt unter dem Begriff "Cannabis-Gesetz" - sorgt im Gesundheitswesen nach wie vor für Diskussionsstoff. Dass dieses Thema polarisiert und nicht nur Fachleute anzieht, zeigte die jüngste Veranstaltung des Eppendorfer Dialogs zur Gesundheitspolitik in Hamburg: Die Veranstalter konnten zur 22. Auflage einen Rekordbesuch mit mehr als 150 Teilnehmern im Völkerkundemuseum verzeichnen, darunter auch zahlreiche Besucher aus Schleswig-Holstein. Die Vorträge und Diskussionen zeigten die ganze Bandbreite an Erwartungen und Kritik zu diesem Thema, aber auch Respekt für den von der Politik beschrittenen Weg.

"Ich bin dankbar, dass die Politik die gesetzliche Möglichkeit geschaffen hat, schwerkranken Menschen zu helfen", stellte etwa Prof. Winfried Hardinghaus an den Beginn seiner Ausführungen. Für den Palliativmediziner, Chefarzt und Bundesverdienstkreuzträger aus der Berliner Charité steht der therapeutische Nutzen der Cannabis-Medikation - und damit die Hilfe für Patienten - eindeutig im Vordergrund: "Ich möchte auf meiner Station nicht auf Cannabis verzichten müssen." Eine der für ihn noch zu lösenden Schwächen ist die Weiterverordnung nach Entlassung von Patienten in den ambulanten Bereich. Nach seiner Beobachtung gibt es unter verordnenden niedergelassenen Kollegen noch Unsicherheiten. Er riet dazu, die angebotenen Verordnungshilfen für Ärzte anzuwenden.

Die Unsicherheit der Verordner führt Arzt Dr. Detlev Parow, bei der DAK Leiter der Abteilung Arznei-, Hilfsmittel und sonstige Leistungen, auf zu unkonkrete Formulierungen des Gesetzgebers zurück. "Das Gesetz ist unzureichend, es hätte präziser und klarer sein müssen", sagte Parow. Dies ist nach seiner Darstellung auch ein Grund für viele Antragsablehnungen durch Krankenkassen. Parow kritisierte auch, dass die Auswirkungen bei Verabschiedung des Gesetzes unvorhersehbar gewesen seien. Bis heute seien kaum belastbare Zahlen zu den Folgen verfügbar. Nach seiner Hochrechnung werden mindestens 20.000 Anträge auf Kostenerstattung pro Jahr an die gesetzlichen Krankenkassen gestellt, wobei nach seiner Beobachtung häufig Patienten "Treiber" der Verordnung sind. Zum Vergleich: Zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens hatten nur 647 Patienten eine Ausnahmegenehmigung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Die durchschnittlichen Jahrestherapiekosten bezifferte Parow auf rund 30.000 Euro, was von Apothekern im Publikum allerdings angezweifelt wurde. Fakt ist: Die Krankenkassen sind mit dem Gesetz unglücklich, auch weil die Therapieevidenz fehlt. Parow: "Die Evidenzlage ist unverändert schwach. Eine Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) würde Unsicherheiten in der Verordnung und Genehmigung beseitigen. Die Notwendigkeit der Verordnung sollte einer regelmäßigen Prüfung unterliegen."

Der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Oliver Tolmein fragte in Zusammenhang mit der Evidenzlage nach der Verantwortung. Als Cannabis nicht verordnungsfähig war, hätte es längst Anstrengungen in diese Richtung geben müssen, so Tolmein. Der jetzige Zustand mit Verordnungsfähigkeit ist aus seiner Sicht zwar ein großer, aber nur ein erster Schritt nach vorn. Nach seiner Beobachtung gibt es eine Überregulierung und Versorgungsengpässe. Für ihn hat sich mit dem Gesetz zwar einiges, aber "auch wiederum nicht so viel" geändert: "Auch heute haben viele Patienten, denen ihre behandelnden Ärzte Cannabis verschreiben, Probleme, ihre Medizin tatsächlich zu erhalten. Und gar nicht wenige haben auch Schwierigkeiten, überhaupt Mediziner zu finden, die ihnen Cannabis verschreiben. Das hat mit rationalen und irrationalen Vorbehalten zu tun, aber auch damit, dass der Wissensfundus fehlt", so Tolmein. Viele Patienten, die Cannabis nicht verordnet bekommen, gehen mit juristischen Schritten dagegen vor. Tolmein berichtete von täglichen Anfragen in seiner Kanzlei.

Die von ihm angemahnte Nachjustierung wird es von der Politik aber nicht sofort geben. Das stellte die CDU-Gesundheitspolitikerin Karin Maag klar. "Wir vertrauen den Ärzten und der Selbstverwaltung", sagte Maag mit Blick auf strittige Fragen. Die gesundheitspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion skizzierte in Hamburg das Zustandekommen des Gesetzes und verwies noch einmal auf die Ausgangslage. Dabei standen zwei Themen im Vordergrund. Auf der einen Seite: Cannabiskonsum ist keineswegs unbedenklich. "Die Gesundheitsgefahren des regelmäßigen und länger andauernden Cannabismissbrauchs gerade bei Jugendlichen und Heranwachsenden sind medizinisch erwiesen. Cannabis ist nach wie vor eine der Einstiegsdrogen und steht am Anfang vieler Drogenkarrieren, mit denen Menschen sich ihr Leben ruinieren", warnte Maag.

Auf der anderen Seite: Hilfe für schwer kranke Menschen etwa mit MS, Epilepsie oder chronischen Schmerzen. Bei der Frage von Cannabis als Medizin gehe es eben nicht, so Maag, um Drogenmissbrauch und "Kiffen auf Rezept", sondern um eine Frage der Gesundheitsversorgung. "Der Leidensdruck bei diesen Menschen ist hoch. Deshalb haben wir Verantwortung für einen Weg übernommen, der neu ist", sagte Maag. Damit spielte sie auf die auch nach ihrer Wahrnehmung "dünne Datenlage" an. Zugleich sah sich die Politik durch neue Rechtslagen und die kritische Frage des Eigenanbaus unter Druck, wie Maag einräumte. Unter dem Strich hält sie das Gesetz und den damit erreichten Zustand für eine "vertretbare Lösung". Im Publikum gingen die Meinungen darüber auseinander - und das quer durch die Professionen. Auch Ärzte waren unterschiedlicher Meinung. Eine Schmerzmedizinerin vermutet, dass die Politik sich erst durch die zahlreichen Medienberichte über das Thema zu dem Gesetz hat drängen lassen. Ein anderer Arzt dagegen verurteilte die Ablehnungen durch den MDK, dem er "hanebüchene Begründungen" attestierte.

Die Diskussion lässt vermuten, dass die Entwicklung bei diesem Thema noch längst nicht abgeschlossen ist - "ein Gesetz in Nachbesserungsnöten", hieß es vonseiten des Veranstalters. Tolmein erwartet, dass diese Entwicklung den Juristen noch viel Phantasie und vielen Beteiligten Geduld abfordern wird. Für ihn steht fest: "Der Gesetzgeber wird sich in Zukunft mit der Materie noch eingehend befassen müssen."


647 Patienten hatten zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens eine Ausnahmegenehmigung des BfArM. Inzwischen sind rund 20.000 Verordnungen für eine Cannabis-Therapie ausgestellt worden.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 5/2018 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2018/201805/h18054a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, Mai 2018, Seite 26 - 27
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juni 2018

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