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ARTIKEL/1216: Elektronische Patientenkarte - die Konzerne sind entzückt (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 40 vom 7. Oktober 2011
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Elektronische Patientenkarte - die Konzerne sind entzückt
Experten sehen eine unübersehbare Gefahr für die Selbstbestimmung der Patienten

von Hans-Peter Brenner


Von einer "kleinen Revolution im deutschen Gesundheitswesen" wird in den Medien spekuliert und berichtet. Die sogenannte "elektronische Patientenkarte (eHealth Card) darüber hatte auch unsere Zeitung in den vergangenen Monaten/Jahren mehrfach berichtet - wird nach mehrjährigen Verzögerungen nun doch ausgeliefert.

Mit fast fünfjähriger Verspätung wird ab dem 1. Oktober die elektronische Patientenkarte ausgegeben. Zunächst sollen zehn Prozent aller Versicherten in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) einen solchen mit einem Foto versehenen angeblich fälschungssicheren Patientenausweis erhalten. Rund sieben Millionen gesetzlich Versicherte sollen das von seinen Befürwortern als "technisches Zauberkärtchen" gerühmte Dokument dann bis Jahresende bekommen.

Künftig sollen Ärzte und Kliniken Arztbefunde oder Röntgenbilder einzelner Patienten mit der Karte als Schlüssel online von angeblich sicheren Servern herunterladen können. Doch wann es wirklich so weit ist, steht noch in den Sternen. Bislang werden nur die sowieso auf den Versichertenkarten enthaltenen Stammdaten auf den neuen Ausweisen gespeichert. Das vorläufig Neue wird zunächst einmal nur das Foto sein.

Die "Vision" oder auch das Schreckgespenst vom durch und durch "transparenten" Patienten, dessen gesamter Krankheitsverlauf mit allen Befunden und ärztlichen Unterlagen auf einen einfachen Klick hin abrufbar sein werden, wird aber wohl aus technischen und logistischen Gründen erst in rund fünf Jahren Wirklichkeit. Damit schraubte das Vorstandsmitglied der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. Carl-Heinz Müller, das Gerede von der "Revolution" bei der Bekanntgabe des "Rollout" um einige Dimensionen auf Normalmaß zurück.

Derselbe KBV-Funktionär, bis vor nicht allzu langer Zeit war er noch Vorstandsmitglied in der KV Rheinland-Pfalz, der der eGK kritisch gegenüber gestanden hatte, hatte noch vor wenigen Monaten ein ganz anderes und besorgteres Statement als heute von sich gegeben. Noch im Mai warnte Müller zusammen mit anderen Ärzten und Kassenfunktionären vor erheblichen Sicherheitsmängeln. Bei Routineuntersuchungen der Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte (gematik) war festgestellt worden, dass es über eHealth-BCS-Terminals für Hacker theoretisch möglich war, von außen an die PIN des Arztes zu gelangen.

Über diese Terminals, die im laufenden Basis-Rollout für die eGK derzeit ausgeliefert werden, sei es für Hacker theoretisch möglich, von außen eine PIN-Abfrage vorzutäuschen.

Mit einer Schadsoftware könnte der Angreifer einen gesicherten Modus vorgaukeln, und der Arzt oder Psychotherapeut müsste tatsächlich seinen Heilberufsausweis (HBA) benutzen und dessen PIN eingeben. Zusätzlich müsste ein Angreifer den HBA in seinen Besitz bringen. Dann, so schien es, könnte er die PIN verwenden, um im Namen des betroffenen Arztes Geschäfte zu tätigen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV), die Bundesärztekammer (BÄK) und die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) forderten deshalb von den Herstellern der Kartenterminals, diese Schwachstelle umgehend zu beheben. Den Ärzten, Zahnärzten und Psychotherapeuten dürfen dadurch keine Zusatzkosten entstehen, forderten sie außerdem.

Sollte sich abzeichnen, dass eine der beiden Bedingungen nicht erfüllt werden kann, müsse man einen Stopp des Basis-Rollouts der Terminals prüfen. Zwar kam nach einigen Tagen eine Entwarnung, aber dieser Vorfall bestätigte die von sehr vielen Experten, Ärzte- und Psychotherapeutenverbänden geäußerte Kritik, dass mit der eGK eine unübersehbare Gefahr für die informationelle Selbstbestimmung der Patienten bestünde. Der deutsche Ärztetag hatte mehrmals heftig gegen die Ersteinführung der neuen Gesundheitskarte gestimmt, weil die Vertrauensbasis zwischen Ärzten und Patienten nachhaltig gestört werde, weil eine wirkliche Datensicherheit nicht gegeben ist.

Wie es um solche "garantiert technisch sichere" Datenverwaltung bestellt ist, macht gerade der aktuelle "facebook"-Skandal deutlich. Seine über 800 Millionen "user" werden bis in den letzten Winkel ihres Privatlebens für die Werbeindustrie durchleuchtet. Selbst gelöschte Eintragungen stehen weiterhin für solche dem simplen "user" nicht nachvollziehbaren Verwertungszwecke zur Verfügung.

Eine weitere Kritik richtet sich gegen die enormen und längst alle Dimensionen sprengenden Kosten. Die Karte soll später auch Geld sparen. bisher fielen bereits Kosten von mindestens rund 600 Millionen Euro für Karten, Lesegeräte und die von Ärzten, Kassen, Kliniken und Apothekern betriebene Gematik an. Mögliche weitere Kosten blieben bei der Präsentation des Starts auf Nachfrage unklar. Nicht nur für die Linkspartei ist das Projekt ein "Milliardengrab". So moniert ein Kommentar der "Süddeutschen Zeitung" vom 1./2. Oktober, dass man auch gegen diese Gesundheitskarte sein könne, "weil sie immense Kosten verursacht und ähnlich wie das Toll-Projekt rund um die Autobahnmaut schon vor ihrer Einführung ein Milliardengrab ist. 2004 hatte die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt bei der ersten Präsentation noch mit Kosten von 700 Millionen bis zu einer Milliarde Euro gerechnet. Inzwischen bewegen sich Schätzungen zwischen 5,4 und 14,1 Milliarden Euro. Die IT-Branche freut sich über die Konjunkturspritze." So weit, so schlecht. Übersehen wird dabei aber, dass hinter all diesen Unwägbarkeiten und potentiellem Missbrauch nicht einfach nur irgendwelche "Technikfreaks" stecken, die nicht genügend Datenmüll produzieren können.

Nein, Großkonzerne wie Bertelsmann mit seinen krakenhaften Verbindungen durch die IT- und Gesundheitsbranche bis hin zur Standardisierungsindustrie, die für die Umsetzung allgemein und gesundheitspolitischer Vorgaben aus den "think tanks von Bertelsmann sorgen, gehören zu den Profiteuren.

Die Bertelsmann Tochter "Arvato" so berichtete die "UZ" schon am 2. Mai 2008, die mit der Herstellung der eGK beauftragt ist, wird einen Löwenanteil dieser Milliarden Euro einstreichen.

Es war die Bertelsmann-Stiftung, die seit Jahren die elektronische Patientenkarte als "Weg aus der Intransparenz" zwischen den behandelnden Ärzten propagiert hatte, obwohl sich alle Ärzteverbände dagegen aussprechen, weil sie ein Eingriff in die ärztliche Schweigepflicht und die Individualität des einzelnen Bürgers ist.

Und es ist der mit Bertelsmann eng verbundene Verlag Gruner+Jahr, der - welch ein Zufall - zusammen mit dem Springerkonzern das modernste Druckzentrum Europas Prinovis hält, der die eGK druckt.

Und es ist erneut die Bertelsmann-Stiftung, die mit Vorschlägen für ein "Praxissiegel" eine Zertifizierung der Medizinischen Versorgungszentren nach eigenen Vorgaben durchgesetzt hat und dabei gleichzeitig den Einsatz der neuen Technologie bei der Datenverwaltung überprüft. Wenn man dann noch an die Verbindungen zwischen Bertelsmann und den großen privaten Krankenhausketten denkt - Konzernchefin Liz Mohn sitzt im Aufsichtsrat der Rhön Kliniken AG, dem größten privaten Klinikbetreiber in Deutschland - dann macht das Ganze seinen ganz simplen großkapitalistischen "Sinn".


Anmerkung der Schattenblick-Redaktion
Weitere aktuelle Beiträge zur "elektronischen Gesundheitskarte" sind im Schattenblick zu finden unter:

Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> REPORT
BERICHT/072: Elektronische Gesundheitskarte - Verwertungsoffensive gegen den Patienten (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0072.html

Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> KOMMENTAR
HERRSCHAFT/1624: Elektronische Gesundheitskarte - Türöffner biopolitischer Bemächtigung (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1624.html

Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> REPORT
INTERVIEW/082: Kai-Uwe Steffens, Hauptpetent für ein Verbot der Vorratsdatenspeicherung (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0082.html

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 43. Jahrgang, 40 vom 7. Oktober 2011, Seite 5
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Oktober 2011

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