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INTERNATIONAL/016: Interview mit Marleen Temmerman, Leiterin der Abteilung für reproduktive Gesundheit der WHO (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. Januar 2013

Gesundheit: 'Nichts ist schlimmer, als einer Frau beim Sterben zusehen zu müssen' - Interview mit 'Mama Daktari' Marleen Temmerman

von Sabine Clappaert


Marleen Temmerman - Bild: © WHO

Marleen Temmerman
Bild: © WHO

Brüssel, 21. Januar (IPS) - Trotz bemerkenswerter Fortschritte in der medizinischen Forschung ist noch immer vielen Frauen weltweit der Zugang zu Verhütungsmitteln und medizinischen Leistungen während ihrer Schwangerschaft und der Geburt versperrt. "Nichts ist schlimmer, als einer Frau beim Sterben zusehen zu müssen", meint die Frauenärztin Marleen Temmerman, die Frauen in Entwicklungsländern behandelt hat und kürzlich von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur neuen Leiterin der WHO-Abteilung für reproduktive Gesundheit ernannt wurde.

Etwa 134 Millionen Frauen gehen der Welt aufgrund geschlechtsselektiver Abtreibungen und der Vernachlässigung weiblicher Säuglinge verloren. Komplikationen bei der Geburt werden für den jährlichen Tod von über 350.000 Frauen - zu 99 Prozent im globalen Süden - verantwortlich gemacht.

Vor diesem Hintergrund gilt die Ernennung von 'Mama Daktari', wie Marleen Temmerman in Kenia genannt wird, im Oktober letzten Jahres zur Leiterin der Abteilung für reproduktive Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als ein Silberstreif am trüben Himmel. In einem IPS-Interview spricht die belgische Ärztin über ihre Pläne, künftig als Vertreterin der WHO gegen Frauen- und Müttersterblichkeit zu kämpfen.

IPS: Was hat Sie veranlasst, Ihre Stelle als Leiterin der Abteilung für Geburtshilfe und Frauenheilkunde und als Mitglied des Vorstands der Universitätsklinik in Gent aufzugeben und dem Ruf der WHO zu folgen?

Marleen Temmerman: Während meiner beruflichen Arbeit ging es mir darum, die reproduktive und sexuelle Gesundheit von Frauen und Mädchen weltweit zu verbessern. Ich hatte mich zwar nicht um einen neuen Job bemüht, doch schnell erkannt, dass die Gelegenheit, für die WHO tätig zu werden, ein wirksamer Hebel sein kann, um meinen Zielen näherzukommen.

IPS: Welches Budget steht Ihnen zur Verfügung und was werden Sie tun?

Temmerman: Ich verfüge über ein Budget von rund 40 Millionen US-Dollar. Der Etat ist knapper als in den vorangegangenen Jahren. Die globale Finanzkrise fordert auch in Bezug auf die sexuelle und reproduktive Gesundheit ihr Tribut. Zum Zeitpunkt meiner Ernennung hatte mir die belgische Regierung einen größeren Beitrag zugesagt. Doch leider wurde nichts daraus.

Ich habe die Befürchtung, dass das schwierige wirtschaftliche Klima dazu führen wird, dass der sexuellen und reproduktiven Gesundheit weniger Bedeutung beigemessen werden könnte. Das wäre jedoch ein Fehler. Wenn wir wollen, dass die nächsten Generationen von Frauen gesund und entscheidungsfähig sind, müssen wir ihnen den Zugang zu Einrichtungen und Programmen gewährleisten, die ihr Überleben während Schwangerschaft und Geburt sichern und ihnen Zugang zu Familienplanungsmethoden einräumen, damit sie ihre eigene Zukunft bestimmen können.

Familienplanung ist nicht nur für die Gesundheit von Frauen und Kindern entscheidend, sondern bremst jedes nicht nachhaltige Bevölkerungswachstum aus und stärkt Wirtschaft und Umwelt.

Schätzungsweise 222 Millionen Frauen haben keinen Zugang zu Familienplanung: Das sind Frauen, die zu einem späteren Zeitpunkt oder gar keine Kinder mehr haben wollen, die aber keine Verhütungsmittel benutzen. In China beispielsweise haben nur verheiratete Frauen Zugang zu Familienplanungskliniken. Wenn wir nun auch Single-Frauen den Zugang zu Familienplanungsmöglichkeiten ermöglichen könnten, wäre dies ein wirklicher Durchbruch.

In meiner neuen Rolle werde ich mich mit der Frage auseinandersetzen, warum das Problem besteht und mit welchen Mitteln wir es lösen können: indem wir uns über den Stand der Forschung und Entwicklung neuer Verhütungsmittel ein Bild machen, Forschungsergebnisse zur Eliminierung möglicher kultureller und religiöser Hindernisse umsetzen und uns nach Bildungsmaßnahmen umsehen, die uns dabei helfen könnten, Fehleinschätzungen von Einzelpersonen oder ganzen Gemeinschaften zu korrigieren.

Gerade vor dem Hintergrund, dass Abtreibungen und Geburtskomplikationen die Haupttodesursachen der Altergruppe der 15- bis 19-jährigen Frauen sind, ist sexuelle und reproduktive Gesundheit für Heranwachsende enorm wichtig.

IPS: 1994 haben Sie das 'International Centre for Reproductive Health' (ICRH) gegründet, das inzwischen in vielen Ländern der Welt wie in Kenia, Mosambik, China und Guatemala tätig ist. Welche Erfahrungen werden Ihnen bei der Ausübung Ihres neuen Amts von Nutzen sein?

Temmerman: Eine wichtige Erkenntnis ist, dass Zusammenarbeit der Schlüssel zum Erfolg von Projekten im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit ist. Derzeit arbeiten wir an einem Hilfsprojekt für kenianische Opfer sexueller Gewalt. Wir zeigen den medizinischen Fachkräften, wie sie die Opfer am besten untersuchen und welche Checks sie durchführen sollten. Wir stellen außerdem sicher, dass die Mädchen psychologisch und rechtlich betreut werden.

Zweitens habe ich gelernt, dass sexuelle und reproduktive Gesundheit ein äußerst sensibles Thema ist, dass es ein langer Prozess ist, bis sich Ansichten, Verhaltensweisen, politische Visionen und Maßnahmen verändern. Wir müssen uns der Bedeutung sexueller und reproduktiver Rechte stets bewusst sein. Eine meiner größten Sorgen ist, dass die Budgets für sexuelle und reproduktive Gesundheit in einem allgemeinen Gesundheitsbudget aufgehen. Sollte dies geschehen, wären damit der Fokus und die Aufmerksamkeit verschwunden, die dieser Bereich so sehr braucht, damit ein wirklicher Wandel erfolgen kann.

Es muss auch noch immer viel unternommen werden, um die weibliche Genitalverstümmelung zu beenden, die Sterblichkeitsraten bei den Geburten zu verringern und allen Frauen und Mädchen den Zugang zu sexuellen und reproduktiven Gesundheitszentren zu ermöglichen. Es gibt das Sprichwort 'Wenn du schnell gehen willst, geh allein; wenn du weit kommen willst, geh mit anderen.' Ich denke, wir müssen schnell gehen und weit vorankommen. Und das schaffen wir nur gemeinsam.

IPS: Was für eine Rolle kommt den Industriestaaten bei der Sicherstellung von reproduktiver Gesundheit und Gerechtigkeit im globalen Süden zu?

Temmerman: Ich denke, dass den Industriestaaten eine grundlegende Verantwortung gegenüber den Entwicklungsländern zukommt. Die traditionelle Nord-Süd-Sichtweise ist überholt, gleichzeitig jedoch sind Frauenrechte und Gleichberechtigung in den Industriestaaten viel weiter vorangeschritten als in den Entwicklungsländern. Es gehört zu unseren Verantwortlichkeiten, dafür zu sorgen, dass Programme der sexuellen und reproduktiven Gesundheit nicht einfach in globalen Gesundheitsinitiativen 'verschwinden' und dass wir die ausreichenden Ressourcen bereitstellen, die Frauen den Zugang zu Einrichtungen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit erleichtern.

IPS: Was war die härteste Lektion, die sie in Afrika gelernt haben?

Temmerman: Dass junge Frauen und Neugeborene nur deshalb in meinen Armen gestorben sind, weil sie Teil einer Welt waren, in der ich keinen Zugang zu den medizinischen Technologien hatte, die in Europa und anderen Teilen der entwickelten Welt erhältlich sind. Es gibt nichts Schlimmeres als das Gefühl der Ohnmacht, wenn eine junge Frau in deinen Armen stirbt und du denkst: Wäre sie aus einem anderen Teil der Welt gewesen, hätte sie überlebt.

Ich bin immer schockiert über die Leichtigkeit, mit der unsere Gesellschaften über Fragen wie sexuelle Gewalt hinweggehen, als sei sie Normalität. Sehr oft wird mir gesagt: "Das ist Teil unserer Kultur." Das muss anders werden. Die Art und Weise, wie wir Jungen und Mädchen erziehen und das Frauenbild, das wir unseren Kindern vermitteln, muss sich ändern. (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.who.int/reproductivehealth/about_us/en/
http://www.icrh.org/
http://www.ipsnews.net/2013/01/qa-there-is-nothing-worse-than-holding-a-dying-woman-in-your-arms/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 21. Januar 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Januar 2013