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POLITIK/1985: Die Medizin wird digitaler (Securvital)


Securvital 4/2019 - Oktober-Dezember
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen

Neue Gesetze zur Gesundheitsversorgung
Die Medizin wird digitaler

von Norbert Schnorbach


Der Nachholbedarf für technologische Neuerungen im Gesundheitsbereich ist groß. Jetzt verordnet der Gesetzgeber eine Digitalisierungswelle. Neue digitale Angebote und vermehrte Online-Kommunikation werden ab nächstem Jahr kommen, zusammen mit weiteren gesetzlichen Neuregelungen.

Elektronische Patientenakte, Apps auf Kassenkosten, Videosprechstunden beim Arzt und weniger Papierkram in der Praxis: bald sollen neue digitale Anwendungen auf breiter Front die Gesundheitsversorgung modernisieren. Die Bundesregierung will eine umfassende Digitalisierung als milliardenschweres Großprojekt durchsetzen. Auf Patienten, Ärzte und Apotheker werden in schneller Folge zahlreiche Veränderungen zukommen. Die Digitalisierung soll die Kommunikation erleichtern und neue medizinische Angebote verfügbar machen.

Trotz datenschutzrechtlicher Bedenken hat Gesundheitsminister Jens Spahn entsprechende Gesetzänderungen auf den Weg gebracht. Seit seinem Amtsantritt vor eineinhalb Jahren hat er mächtig Druck für die Digitalisierung gemacht. Erklärtes Ziel: Ärzte, Krankenhäuser, Apotheken und Krankenkassen sollen effizienter arbeiten und Patienten mehr digitale Angebote im Alltag nutzen können. »Der Patient von morgen wird immer noch einen Arzt brauchen«, lautet das Credo des Gesundheitsministers, aber er werde keine Ärzte mehr wollen, die noch altmodisch »mit Karteikarten« arbeiten.

App auf Rezept

Mit Beginn des neuen Jahres soll die Digitalisierung in Schwung kommen, wenn die Mehrheit im Bundestag dem »Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation« zustimmt. Als erste Welle der digitalen Neuerungen sind neue Gesundheits-Apps fürs Mobiltelefon zu erwarten. Bestimmte Apps mit medizinischem Nutzwert können die Patienten dann von der Kasse bezahlt bekommen, wenn ein Arzt sie verschreibt. Das gilt zum Beispiel für Apps, die beim regelmäßigen Einnehmen von Medikamenten helfen, unterstützende Apps bei Migräne und Schwangerschaften und digitale Tagebücher für Diabetiker.

»Der Service im Gesundheitswesen kann durch digitale Angebote schnell und wirksam verbessert werden.«
Dr. Bernhard Rohleder, Branchenverband Bitkom

Gegenwärtig ist das Angebot für Gesundheits-Apps unübersichtlich. 100.000 Apps sind nach Schätzung von Branchenexperten auf dem Markt. Darunter sind bereits medizinische Apps, die etwa über Wechselwirkungen von Medikamenten informieren oder regelmäßig die Blutdruckwerte dokumentieren. Darüber hinaus gibt es unzählige Apps zu Fitness- und Ernährungs-Themen, die zu mehr Bewegung und gesünderem Essen motivieren. Die Qualität dieser Angebote ist höchst unterschiedlich, zu den Anbietern gehören zum Beispiel auch Pharmafirmen und Krankenkassen. »Man sollte bei der Auswahl sehr vorsichtig sein«, meint Daniela Hubloher von der Verbraucherzentrale Hessen. Für die Nutzer müsse klar ersichtlich sein, wer die App finanziert, welche Interessen dahinter stecken und ob die erfassten persönlichen Daten gegebenenfalls für einen wissenschaftlichen oder kommerziellen Zweck verwendet werden.

Qualitätsprüfung

Unverzichtbar für die neuen Apps auf Kassenkosten ist ihre Prüfung auf Qualität, Sicherheit und Datenschutz sowie eine förmliche Zulassung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Mit raschen Genehmigungen für die ersten Anwendungen ist zu rechnen. Allerdings bereiten die geplanten Abrechnungsmethoden den Krankenkassen Sorgen: Die Preise für die neuen Apps können die Anbieter selbst festsetzen, aber die Krankenkassen müssen die Kosten tragen. Kritiker warnen vor einer Goldgrube für IT-Firmen. Erst nach einem Jahr, wenn die App-Anbieter den Nachweis einer besseren Versorgung liefern können, werden die Preise neu verhandelt und ins Verhältnis zum tatsächlichen Nutzen gesetzt.

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Neue Gesetze auch im Pflegebereich

Angesichts der großen Personalnot in der Alten- und Krankenpflege plant der Gesetzgeber, die Pflegeberufe attraktiver zu machen. Es fehlt weiterhin an ausgebildeten Fachkräften. 40.000 Stellen sind gegenwärtig nicht besetzt, während die Zahl der Pflegebedürftigen stetig steigt. Das Pflegereformgesetz von Anfang 2019 sei noch nicht richtig in Gang gekommen, bemängeln Patientenschützer. Nun will die große Koalition in den nächsten Monaten weitere Maßnahmen auf den Weg bringen, um mehr dringend gesuchte Pflegekräfte zu gewinnen. Höhere Mindestlöhne sind geplant, neue Ausbildungsangebote und erleichterte Arbeitsbedingungen in der Kranken- und Altenpflege.
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Ab 2021 wird dann auch die elektronische Patientenakte für alle Versicherten kommen, kündigt das Bundesgesundheitsministerium an. Sie soll Diagnosen, Arztberichte, Laborwerte und Rezepte speichern, gegebenenfalls auch Impf- und Organspende-Ausweise, Mutterpässe, Zahn-Bonushefte, Röntgenaufnahmen und weitere Unterlagen. Das helfe den Medizinern, die Krankheitsgeschichte von Patienten im Blick zu haben, statt einzelne Befunde von anderen Ärzten und Krankenhäusern anfordern zu müssen. Auch Doppel- und Mehrfachuntersuchungen wären damit zu vermeiden. Bevor die E-Patientenakte Pflicht wird, muss allerdings noch gesondert per Gesetz geregelt werden, was darin gespeichert wird und wer unter Einhaltung des Datenschutzes Zugang zu diesen sensiblen Informationen bekommt. Patienten- und Verbraucherschützer fordern, dass jeder Bürger jederzeit die Hoheit über die Daten behält und selbst bestimmen kann, wer Zugriff darauf hat.

Videosprechstunden

Die Ärzte müssen sich nach dem Willen der Gesundheitspolitik für die neuen Kommunikationswege öffnen. Videosprechstunden als Alternative zum persönlichen Termin in der Arztpraxis sollen erleichtert werden. "Videosprechstunden sollen Alltag werden", fordert das Bundesgesundheitsministerium.

Laut Umfragen wollen sich immer mehr Patienten per Mail, Chat oder Videotelefonie mit dem Arzt in Verbindung setzen. "Der Service im Gesundheitswesen kann durch solche Angebote schnell und wirksam verbessert werden", meint Bernhard Rohleder vom Branchenverband Bitkom. "Gerade kranken oder körperlich beeinträchtigten Menschen sollte man den Kontakt mit dem Arzt so einfach wie möglich machen." Nach Bitkom-Umfragen befürworten viele Patienten weitere digitale Angebote. Jeder Zweite würde die Telemedizin nutzen, um Ärzte aus dem Ausland zu konsultieren, etwa um eine zusätzliche Arztmeinung einzuholen.

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Änderungen bei der Organspende

Zwei alternative Gesetzentwürfe zur Organspende stehen in den kommenden Monaten im Bundestag zur Entscheidung. Im Kern geht es um die Einführung einer Widerspruchsregelung (jeder Mensch, der nicht ausdrücklich widersprochen hat, gilt bei Hirntod als Organspender) oder um Beibehaltung des Zustimmungsprinzips (Organspende ist nur dann erlaubt, wenn die Zustimmung dazu erklärt worden ist). Beide Vorschläge haben Befürworter und Gegner unter allen Parteien im Bundestag. Eine zusätzliche Gesetzesänderung, die die medizinischen und organisatorischen Regeln für Organspenden in den Krankenhäusern festlegt, ist bereits beschlossen und in Kraft getreten.
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Mehr als die Hälfte der Befragten könnte sich vorstellen, dass während einer Operation Spezialisten aus der Ferne per Video in den OP-Saal zugeschaltet werden, um dem ausführenden Arzt Hinweise und Hilfestellungen zu geben.

Im Alltag haben viele Menschen die Digitalisierung bereits in ihr Leben integriert. Gesundheitsinfos gibt es im Internet, Online-Apotheken ebenso. Viele Nutzer haben ihren digitalen Personaltrainer in der Tasche oder am Handgelenk und wünschen sich einen einfachen Zugang zu ihren Gesundheitsdaten, die verstreut bei Hausärzten, Fachärzten oder Kliniken lagern.

Vernetzung

Deutschland ist in diesem Bereich rückständig. In Österreich gibt es bereits eine funktionierende elektronische Gesundheitskarte, während hierzulande viele Milliarden Euro mit mäßigem Erfolg für die elektronische Gesundheitskarte ausgegeben wurden. In Dänemark ist es schon längst üblich, Termine mit Hausärzten und Kliniken online zu vereinbaren, die eigenen Gesundheitsinfos zu speichern, Rezepte und Präventionsprogramme elektronisch zu organisieren.

Laut Umfragen ist in Deutschland jeder zweite Erwachsene nicht zufrieden mit dem bisherigen Angebot digitaler Gesundheitslösungen. Die Fortschritte bei der elektronischen Gesundheitskarte, bei den individuellen Patientenakten und beim Datenaustausch mit Ärzten und Krankenhäusern werden von vielen als unzureichend bewertet.

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März 2020: Einführung der Impfpflicht

Ab nächstem Frühjahr wird es nach dem Willen der Bundesregierung eine allgemeine Impfpflicht gegen Masern geben. Wer die Impfung verweigert, dem drohen Sanktionen. Ungeimpfte Kinder dürfen nicht in Kitas, Eltern droht ein Bußgeld von 2.500 Euro, Schüler müssen Impfnachweise vorlegen. Die Impfpflicht gilt auch für Lehrer und Tagesmütter, für Ärzte und alle Angestellten in Arztpraxen sowie für Mitarbeiter in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Viele Experten allerdings halten einen rigorosen Impfzwang für fragwürdig und rechtlich problematisch. Sie plädieren für eine vorurteilsfreie Aufklärung über Sinn und Risiken von Impfungen. Auch der Deutsche Ethikrat lehnt den Impfzwang ab.
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Die Mehrheit wünsche sich Verbesserungen und sehe einen deutlichen Mehrwert in den digitalen Angeboten, ergab eine im August veröffentlichte Umfrage des Beratungsunternehmens Sopria Steria Consulting: "Drei von vier Befragten gehen davon aus, dass digitale Lösungen die Diagnose, Behandlung und die Prävention von Krankheiten signifikant verbessern werden." Auch in den Büros der Ärzte soll sich einiges ändern. Die Büroorganisation in den Arztpraxen wird sich an die neue Zeit und die neue Telematik-Infrastruktur anpassen.

Datenschutz

Der Gesetzgeber übt finanziellen Druck aus, um die Digitalisierung in den Arztpraxen voranzutreiben. Bisher rechnen Ärzte für die immer noch beliebte Faxübermittlung eines Arztbriefs mehr ab als für das Versenden des Dokuments per Mail. Das soll sich ändern. Künftig soll es Rezepte für Medikamente, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und Verordnungen von Heil- und Hilfsmitteln häufiger in elektronischer Form geben.

Alle Ärzte und Zahnärzte, die den Anschluss an die elektronische Vernetzung ablehnen, müssen mit Honorarkürzungen rechnen. Neben den Arztpraxen sollen auch die Apotheken und Krankenhäuser stärker als bisher elektronisch vernetzt werden, damit die Übermittlung, Registrierung und Abrechnung von Arzneimittelrezepten und Klinikdienstleistungen effizienter werden.

Die Digitalisierungswelle wird nicht von allen Seiten vorbehaltlos begrüßt. Ärzteorganisationen warnen nachdrücklich vor den Risiken für die Sicherheit der persönlichen Daten und verlangen ausreichend Schutz vor Hackerangriffen. Das entspricht auch einer Besorgnis in der Bevölkerung, stellte das Umfrageinstitut Forsa fest. Mehr als jeder zweite befragte Bürger sorgt sich davor, dass die besonders sensiblen Gesundheitsdaten in die Hände Dritter gelangen und missbräuchlich verwendet werden könnten.

Der Deutsche Ärztetag spricht sich prinzipiell für eine weitere Digitalisierung aus, fordert aber zugleich, dass die Nutzung digitaler Anwendungen durch die Patienten immer auf Freiwilligkeit beruhen müsse. Ähnlich sieht es Prof. Wilhelm Bauer vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation: "Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern muss den Bedürfnissen der Menschen entsprechen.

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Quelle:
Securvital 4/2019 - Oktober-Dezember, Seite 6 - 10
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
Herausgeber: SECURVITA GmbH - Gesellschaft zur Entwicklung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. November 2019

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