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AUSLAND/1430: Einsatz als Rettungssanitäter in Gaza - Noch da... 7., 8., 9. Januar (Sharon, ISM)


Von Sharon aus Gaza - 9. Januar 2009

Noch da...

7., 8., 9. Januar


9. Januar 2009 um 11:11 Uhr

Ich habe eine weitere Schicht der Rettungswagen begleitet und mit zwei Männern zusammengearbeitet, die mir die liebsten werden könnten. S ist ein liebenswerter Sanitätsfahrer, der gut englisch spricht - für mich sehr hilfreich - mit dem Ehrgeiz, in seinem Ambulanzwagen eine Geburt mitzuerleben, weil er den Vorgang bis jetzt nur aus der Theorie kennt. EB hat drei Kinder und eine Frau, von der er nachdrücklich behauptet, daß sie der Gedanke, daß er einmal eine zweite Frau nehmen könnte, nicht störe. S' Urteil über das Konzept der Mehrfachehe ist vernichtend.

EB freut sich darüber, daß ich als seine Assistentin arbeite, für mich ist das toll. Ich kann also wirklich von Nutzen sein, besonders dann, wenn medizinisches Personal fehlt; in der letzten Nacht haben wir bei einem der Transporte vier Verletzte nach einem Raketeneinschlag in der Nähe des Palästina-Platzes aufgenommen, alle aus dem gleichen Haus einer einzigen Familie. Einen kleinen Jungen mit einer Kopfwunde, zwei erwachsene Männer, einen mit einer Kopfwunde und einen weiteren mit einer Beinverletzung. Eine junge Frau, die nirgends sichtbar blutete, wartete klaglos bis sie als letzte an der Reihe war, und dann entdeckten wir unter ihrem Hemd, daß Glas- oder Schrapnellsplitter tief neben ihrer Wirbelsäule in den Körper eingedrungen waren, so wurde sie bei ihrer Ankunft im Al Shifa sofort zum Röntgen geschickt.

Ich habe gehört, daß Hassan hier im Al Quds lag, aber bis ich hier angekommen war, hatte man ihn bereits nach Hause geschickt, was bezüglich seiner Wunde ermutigend war und sicherlich auch gut für seine Familie, die ihn, wie ich meine, seit Beginn der Angriffe nicht mehr gesehen hat. Ich habe in der Zwischenzeit einen Blick auf das Filmmaterial werfen können, das A gedreht hat, als man auf Hassan schoß; es wurde von Al Jazeerah ausgestrahlt, also ist es wenigstens bis dahin gelangt, und ich habe erfahren, daß es auf New York TV zu sehen war.

Dr. Halids Haus in Khan Younis wurde gestern zerstört. EBs ebenfalls. Und auch das von Dr. Basher und seinen unmittelbaren Nachbarn. Er zeigte mir die üblichen Fotos mit Gebäudeschutt, sein persönlicher Schutt. Drei weitere obdachlos gewordene Familien, die aufgenommen werden von Verwandten, deren Häuser auch in Gefahr sein könnten. Wird irgendjemandes Haus stehenbleiben?

Mittwoch war der erste Tag mit einer Feuerpause von 13 bis 16 Uhr. Für diese Zeit war es dem Roten Kreuz gelungen, für sich und die Sanitätskräfte des Roten Halbmonds eine Vereinbarung zu treffen, nach Zaytoun vorzudringen, einem der Orte, dessen Hilferufe nicht hatten beantwortet werden dürfen. Meine Freunde, die ärztlichen Retter, beschrieben, wie sie etwa vier Kilometer zu Fuß mit Eselskarren unterwegs waren, um die wenigen Toten und Verwundeten herauszubringen, die sie konnten; sie hatten nur Zeit genug, um vier Häuser zu erreichen. Hin und wieder wurden sie trotz der zuvor getroffenen Übereinkunft von der Armee unter Beschuß genommen.

Das Haus der Familie Samoudi war eines von denen, die sie erreichten. Ein Sanitäter erzählte mir, daß beim Roten Halbmond ein Anruf von diesem Haus aus eingegangen war, bei dem man angegeben hatte, daß 25 Frauen und Kinder sich dort aufhielten, mit etwa fünf Shadeed(1) nach Artilleriebeschuß. Aber am Mittwoch, als man das Haus endlich erreichte, waren fast alle tot; unter den Überlebenden befand sich ein 11jähriger Junge mit einer Beinverletzung. Was den Retter zutiefst erschütterte, war, daß die meisten anscheinend durch Schüsse aus nächster Nähe getötet schienen - es wirkte ganz so, als habe eine Exekution stattgefunden. Es ist mir nicht gelungen, weitere, eindeutigere Einzelheiten darüber zu erfahren, und es gibt in der Tat unterschiedliche, verwirrende Versionen dieser Geschichte, die von sieben Familien erzählen und tatsächlichen 100 Menschen, die in mehreren Häusern versammelt waren, die unter Beschuß genommen wurden. Journalisten von Ramattan(2) beabsichtigen, heute nachmittag einen Überlebenden im Krankenhaus zu befragen, es wird also möglicherweise etwas klarer werden.

Anderenorts fand man Kinder ohne Nahrung oder Wasser neben ihren toten Eltern. Ein paar der Verwundeten, die rausgebracht wurden, sind hier im Al Quds-Krankenhaus. Ich habe Baby Nour gesehen, die man zusammen mit Ihrer Mutter in ein Bett gesteckt hat, und mit ihnen eine weitere Frau, deren Kind getötet worden ist.

Danach erhielt ich die Erlaubnis, mit der Evakuierungsaktion des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds am Donnerstag während der Stunden der Waffenruhe noch einmal nach Zaytoun zu gehen. Ich hatte den Eindruck, daß sie froh darüber waren, eine zweite Frau und eine weitere Internationale dabei zu haben. Das Team bestand aus drei Leuten vom Roten Kreuz und etwa zehn Sanitätskräften vom Roten Halbmond. Ein ähnliches RK-Evakuierungsteam wurde an einem anderen Ort während des Waffenstillstandes beschossen und ein Rotkreuzmitarbeiter dabei verwundet. Ich gehe heute, Freitag, noch einmal mit dem Team vom Al Quds los. Ich werde versuchen, binnen kurzem einen Bericht über die Vorgänge zu schreiben.

Wir haben auch gehört, daß auf Lebensmitteltransporte der UN geschossen wurde und daß ein oder zwei UN-Mitarbeiter getötet wurden. Mein Zugang zum Netz ist so eingeschränkt, daß Sie eher als ich in der Lage sein werden, genauere Berichte über diese Art Vorkommnisse zu finden (z.B. über internationale Agenturen), wenn Sie selbst danach suchen.

Letzte Nacht bin ich zum ersten Mal mit der Absicht in meine Wohnung zurückgekehrt, eine Nacht zu schlafen, da ich seit dem Beginn des ganzen nicht mehr als zwei Stunden hintereinander von 24 gehabt habe. Ich wünschte, ich wäre es nicht! Fort zu sein von palästinensischen oder internationalen Freunden war schon hart, aber zwei Stunden lang durch die Geräusche von Schüssen vor dem Haus aus meinem langersehnten Schlaf gerissen zu werden, stürzte mich in völlige Konfusion, weil es nicht von einem Apache in der Luft herrührte.

Da ich bei der Evakuierung heute am Schluß israelische Panzer und Soldaten gesehen hatte und mir dadurch klargeworden war, wie nah ihre Linien heran sind, entschied sich mein schläfriges Bewußtsein dafür, daß sie irgendwie das Hafengebiet erreicht hatten. Die Dronen spielten auch komplett verrückt, normalerweise klingen sie einfach nur unheilvoll, aber monoton, jetzt hörten sie sich an wie ein Haufen sehr wütender Hornissen, die rasende Sturzflüge vollführen.

Ich begann darüber nachzudenken, was ich für eine Flucht zurück zu meinen Freunden zusammenpacken müßte, aber kurze Zeit später traf ich auf V, und er erklärte, daß die Dronen damit begonnen hätten zu schießen, etwas von dem zumindest wir Ausländer keine Ahnung hatten, daß sie es könnten. Raketen ja, aber schießen, nein. Letzte Nacht haben sie anscheinend zum ersten Mal damit angefangen, auf jeden auf der Straße zu schießen. Ich schob meine Fluchtpläne beiseite, aber dann begannen die Hornissen, ganz in meiner Nähe heranzustürzen, und die Raketen erschütterten das Gebäude. Also sprang ich auf, packte eine Tasche für den Fall, daß das Haus zusammenstürzen sollte, zog mich an, schob meine Matratze so weit ich konnte von Außenwänden fort und schaffte es auf rätselhafte Weise, wieder in Schlaf zu fallen.

Als ich gestern die Familie Kabariti besuchte, erzählte mir M, daß die Mädchen ihn fragen, wie sehr es wehtut, wenn man verwundet wird und was passiert, wenn sie sterben. Sie sehen so viele Bilder von Kindern wie sie selbst, die in Leichensäcke gehüllt sind. Er hat ihnen erklärt, daß Gott dich bewußtlos werden läßt, wenn du verletzt bist, so daß du die Schmerzen nicht spürst.

11 Uhr: Ich habe gerade gehört, daß die Evakuierungsaktion für heute abgesagt ist. Ich bin mir nicht im klaren darüber, ob Israel nicht kooperieren will oder ob das RK, anders als das UNWRA, heute seine Operationen gestoppt hat, nachdem sie gestern angegriffen worden sind. Das bedeutet also noch mehr Zeit des Wartens für die Menschen, die im Niemandsland in der Falle stecken.


Anmerkungen der Redaktion Schattenblick:

(1) Shaheed -> englisch shaheed - Zeuge oder Märtyrer
(2) Ramattan -> Nachrichtenagentur (Naher Osten)




Übersetzung aus dem Englischen:
Redaktion Schattenblick

Originalfassung des Berichts:
http://talestotell.wordpress.com/2009/01/09/january-789/#more-389


Sharon ist eine australische Menschenrechtsverteidigerin und Aktivistin des ISM (International Solidarity Movement), die sich zur Zeit in Gaza aufhält. In ihrem Blog dokumentiert sie laufend die israelischen Angriffe auf Gaza.
www.talestotell.wordpress.com


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Quelle:
Internet: www.talestotell.wordpress.com
     


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Januar 2009