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AUSLAND/1499: Brasilien - Versorgung von Aids-Patienten in Gefahr (medico international)


medico international - rundschreiben 03/09

In der Pipeline: Patente
Brasilien: Versorgung von Aids-Patienten in Gefahr

Von Renata Reis und den Kollegen vom ABIA-Team


Die brasilianische HIV/Aids-Politik verzeichnete besonders Ende der neunziger Jahre große Erfolge bei der Reduktion der Neuinfektionen, der Verbesserung der Lebensqualität von mit HIV/Aids lebenden Menschen und der Verringerung der Sterberate unter Infizierten. Aufgrund dieser Erfolge galt Brasilien lange Zeit als das erfolgreichste Entwicklungsland im Kampf gegen HIV/Aids. Nicht zuletzt sind diese Erfolge auf das Engagement einer starken Zivilgesellschaft zurückzuführen. Brasilien gehörte zu den lateinamerikanischen Ländern mit den stärksten Gesundheitsbewegungen. Nach dem Ende der Militärdiktatur 1988 setzte sie ein verfassungsmäßig garantiertes Recht auf Gesundheit durch. Gesundheitsbewegung war und ist in Brasilien immer mit der Forderung nach gleichem Zugang verbunden.

Dieses Recht auf Gesundheit manifestierte sich konkret in der Gründung des staatlichen und kostenlos zugänglichen Gesundheitssystems SUS. Zu diesem Selbstverständnis gehörte auch die kostengünstige lokale Produktion von HIV/Aids-Medikamenten. Die kostenlose Versorgung von HIV/Aids-Patienten mit Medikamenten der ersten Generation war so möglich.

In den letzten Jahren wurde die Situation komplizierter. Die lokale Produktion von Generika (Nachahmerprodukten) und auch der kostengünstige Erwerb von Originalprodukten der zweiten Generation wurden durch internationale Patentregelungen erheblich erschwert.

Was ist der Hintergrund für diese Situation? Im Rahmen des TRIPS-Abkommens (Abkommen zu geistigen Eigentumsrechten) verabschiedete die brasilianische Regierung 1996 ein Gesetz, das die nationale Patentregelung an das neu verabschiedete internationale Patentrecht anpassen sollte. Das war Brasiliens Eintrittskarte für den Weltmarkt. Demzufolge mussten Patente auf bisher nicht patentierte technologische Verfahren beantragt werden. Dieses Gesetz begründete ähnlich wie in Indien den PIPELINE-Mechanismus, der es ausländischen Unternehmen ermöglichte, zwischen Mai 1996 und Mai 1997 Patentanträge für Produkte zu stellen, welche in ihrem Herkunftsland bereits Patentregelungen unterlagen. Dabei werden Patentanträge lediglich aufgrund der Tatsache bewilligt, dass sie bereits in anderen Ländern genehmigt sind.


Die Auswirkungen der "PIPELINE-Patente" auf den Zugang zu Medikamenten

Während der erwähnten Einjahresperiode wurden durch diesen Mechanismus 1182 Patente angemeldet - von denen viele als "essentielle Medikamente" für Krankheiten, wie unter anderen HIV/Aids, Krebs, Schizophrenie, eingestuft sind. Die meisten Anträge kamen aus den USA (ca. 45%) und führten zur Patentierung von insgesamt 340 Medikamenten. Da PIPELINE-Patente in Brasilien aber lediglich Patentanträge von bereits patentierten Produkten darstellen, erfüllen sie nicht das gesetzlich festgelegte Kriterium der "Neuartigkeit", das das brasilianische Gesetz als wesentlich vorsieht, um Produkte patentieren zu können. Die PIPELINE-Regelung widerspricht also dem Kern des brasilianischen Patentrechts. Dieses sieht vor, dass Patentschutz nur dann gewährleistet werden kann, wenn über die Patentierung des Produkts ein Beitrag zur Förderung von wirtschaftlicher und technischer Entwicklung im Land geleistet werden kann.

Da Brasilien eines der wenigen Länder ist, das universellen Zugang zu antiretroviraler Therapie ermöglicht, entwickeln sich PIPELINE-Patente zu einem großen Hindernis für die weitere Gewährleistung der HIV/Aids-Behandlung. Es gibt lediglich einen alleinigen Anbieter, der den Marktpreis für das Medikament festlegt. Hohe finanzielle Aufwendungen müssen bereitgestellt werden, die große Summen des Gesundheitsbudgets beanspruchen. Die Produktion von Generika wird verhindert.


Das Engagement zivilgesellschaftlicher Organisationen

Seit Jahren setzen sich brasilianische Nichtregierungsorganisationen, darunter auch der medico-Partner ABIA, gegen die PIPELINE-Patente ein. 2007 reichten sie Beschwerde beim Generalbundesanwalt gegen den Mechanismus ein. 2009 beschloss dieser, die Beschwerde zu verfolgen. Es wird also zu einem ordentlichen Gerichtsverfahren kommen. Wenn das Gericht der Beschwerde stattgibt und die Patentierungen als verfassungswidrig einstuft, wäre das ein fundamentaler Schritt in Richtung Zugangssicherung zu lebenswichtigen Medikamenten, nicht nur im Bereich HIV/Aids. In den globalen Auseinandersetzungen um die Patentierung und damit einhergehende Zugangsbeschränkung von Medikamenten ist diese Auseinandersetzung exemplarisch.


Projektstichwort

Die brasilianische medico-Partnerorganisation ABIA wurde 1986 mit dem Ziel gegründet, ein solidarisches zivilgesellschaftliches Netz aufzubauen, um die Regierung zu zwingen, sich mit der Aids-Problematik zu befassen. ABIA ist inzwischen die einflussreichste brasilianische NGO im Aids-Bereich, die sich für Aufklärung, Zugang zu Medikamenten und Schutz der Menschenrechte einsetzt. Spenden für diese Arbeit bitte unter: Brasilien.


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Quelle:
medico international - rundschreiben 03/09, Seite 36-37
Herausgeber: medico international, Burgstraße 106
60389 Frankfurt am Main
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2009