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FINANZEN/496: Interview - Kann man die Kosten des Gesundheitswesens optimieren? (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 6 vom 30. März 2010

Kann man die Kosten des Gesundheitswesens optimieren?

Von Mathias Bäumel


TU-Experten befragt: Wo entstehen die wachsenden Kosten im Gesundheitswesen und wie kann man sie für den Einzelnen in Grenzen halten?
UJ fragte Prof. Alexander Karmann, den Geschäftsführenden Direktor des Gesundheitsökonomischen Zentrums der TU Dresden


UJ: Salopp sagt man: Gesundheit kostet. Schaut man etwas genauer hin, wird erkennbar, dass Kosten entstehen für die Heilung von Menschen bei Krankheit oder Unfall, für die Vorbeugung gegen das Krankwerden und für medizinische und Pharmaforschung. Wie sieht das quantitativ aus?

PROFESSOR KARMANN: Insgesamt gab Deutschland im Jahr 2007 10,4 Prozent des Bruttoinlandproduktes für Gesundheit aus und rangierte damit hinter den USA, der Schweiz und Frankreich auf Platz 4 der OECD-Statistik. Pro Kopf ergaben sich für die gesetzliche Krankenversicherung im Durchschnitt 3032 Euro im Jahr. Der größte Ausgabenblock ist der stationäre Sektor (33 Prozent der Gesamtausgaben). Auf dem zweiten Platz folgen die Ausgaben für Arzneimittel (18 Prozent) und auf dem dritten Platz die ambulanten Kosten (15 Prozent). Im Vergleich dazu entfallen auf Vorsorgeund Rehabilitationsmaßnahmen, soziale Dienste, Krankheitsverhütungen und Früherkennungsmaßnahmen lediglich 3,7 Prozent der Gesamtausgaben.

UJ: Wie sieht das Verhältnis von Vorbeuge- und Heilungskosten aus? In welchem Ausmaß senkt die Erhöhung der Vorbeugekosten das Maß der Heilungskosten?

PROFESSOR KARMANN: Der Anteil der in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommenen Vorbeugekosten ist relativ gering. Verglichen mit dem Jahr 2000 sind 3,7 Prozent immerhin ein deutlicher Anstieg von rund 30 Prozent. Es zeigt sich damit die wachsende Bedeutung von Prävention und Vorsorge. Obwohl viele gute Gründe dafür sprechen, dass vorbeugende Maßnahmen die später anfallenden Heilungskosten senken, gibt es gegenwärtig nur unzureichende Evidenz der Wirkung von direkten Präventionsmaßnahmen. Hingegen wird von vielen Gesundheitsökonomen die Bedeutung der Bildung und Aufklärung bei Gesundheit und deren Erhaltung betont.

UJ: Wie ist unser Gesundheitswesen strukturiert - wo fallen welche Kosten an? Wieviel der einkommenden Krankenversicherungs-Beiträge bleibt bei der Krankenkasse hängen, wie viel bleibt für den eigentlichen Zweck?

PROFESSOR KARMANN: Die meisten Menschen sind in einer gesetzlichen Krankenversicherung versichert. Etwa 10 Prozent sind privat versichert und ungefähr 1 Prozent besitzt keinen Versicherungsschutz. In der gesetzlichen Krankenversicherung werden 5,3 Prozent der Gesamtausgaben für die Verwaltung ausgegeben, was pro Versichertem im Durchschnitt 161 Euro pro Jahr entspricht. Demgegenüber scheinen die Privaten effizienter wirtschaften zu können, da sie nur 2,6 Prozent der Einnahmen für reine Verwaltungstätigkeiten ausgeben (zwischen 80 und 100 Euro pro versicherte Person).

UJ: Was heißt hier "effizienter wirtschaften zu können"? Liegt das nicht vor allem daran, dass bei den Privaten der Anteil Jüngerer und damit gesünderer Menschen größer ist als bei den Gesetzlichen? Oder sind in den Privaten tatsächlich die besseren Manager tätig?

PROFESSOR KARMANN: Das lässt sich so pauschal nicht sagen. Einerseits sind auch bei den Privaten viele ältere Menschen versichert, andererseits wechseln in der Tat vor allem Jüngere mit einem guten Einkommen in die private Krankenversicherung. Allerdings ist auch für diese ein gewisser Verwaltungsaufwand notwendig - Stichwort: Altersrückstellungen. Hinzu kommt, dass die Privaten typischerweise weniger Regionalvertretungen unterhalten und wohl auch weniger historisch gewachsenen Restriktionen unterliegen als gesetzliche Kassen.

UJ: Ein kurzer Blick in die Geschichte des deutschen Gesundheitswesens: Wie fing alles an und was waren die wesentlichen Etappen bis zum heutigen Stand?

PROFESSOR KARMANN: Die GKV geht im Wesentlichen auf Bismarck zurück. Zwar existierten schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Betriebs- und Innungskrankenkassen sowie knappschaftliche Versicherungen im Bergbau. Auf Gemeindeebene sorgten Hilfs- und Unterstützungskassen dafür, dass ihre Mitglieder im Krankheitsfall Hilfe erhielten. Aus ihnen gingen später die Ersatzkassen hervor. Allerdings erreichten diese Versicherungen immer nur einen begrenzten Kreis an Nutznießern. Jedenfalls: Unter Bismarck wurde die erste Krankenversicherung für Arbeiter eingeführt. Diese deckte übrigens am Anfang ausschließlich Kosten ab, die mit dem Arbeitsausfall verbunden waren. Arzt- oder Medikamentenkosten mussten die Versicherten selber zahlen. Später wurden dann Schritt für Schritt Arzt-, Krankenhaus- und Medikamentenkosten einbezogen. Die Beteiligung der Arbeitgeber war von Anfang an wesentlicher Bestandteil des deutschen Modells, anfangs 1/3, ab 1949 dann 50 Prozent. Eine wesentliche Wende gab es Anfang der 90er Jahre, als Wahlfreiheit in die GKV einzog. Seit dieser Zeit können die Versicherten in der GKV frei wählen, bei welcher Krankenkasse sie versichert sein wollen. Vor der Freigabe mussten die Krankenkassen jedoch vergleichbar gemacht werden. Denn bis zu dieser Zeit hatten die einzelnen Kassen sehr unterschiedliche Risiken versichert. Arbeiter (also hohe Krankheitsrisiken) waren bei der AOK versichert. Ein Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen sollte dies leisten. Heute haben wir einen stark erweiterten Risikostrukturausgleich.

UJ: Was war der Grund, dass die Kosten für Behandlungen und Vorsorge über ein System von Versicherungen aufgebracht wurden, anstatt über ein staatliches System? Immerhin: Das auf dem Versicherungsprinzip beruhende deutsche Gesundheitssystem steht im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Systemen in Deutschland wie Bildung und öffentlicher Verkehr als etwas Besonderes da. Man schließt ja nicht eine Mobilitätsversicherung ab, deren Leistung man dann in Anspruch nimmt, wenn man mal verreisen muss. Oder eine Bildungsversicherung, die zunächst die Vorsorge - Schule, Hochschule - bezahlt und dann akut genutzt wird, wenn man Nachhilfe braucht ...

PROFESSOR KARMANN: Ihr Bild ist weit verbreitet, aber falsch, und zeigt, dass offenbar ein ungenügendes Grundverständnis von Versicherung im Allgemeinen und Krankenversicherung im Besonderen besteht. Eine Versicherung ist dafür da, Ereignisse mit einem hohen Schadenswert und einer geringen Eintrittswahrscheinlichkeit abzusichern. Es lässt sich zeigen, dass sich Personen nur in diesem Fall mit Versicherung besserstellen als ohne Versicherung. Im Fall der Bildung ist es so, dass sie von jedem Menschen bis zu einem bestimmten Alter in gleichem Maße nachgefragt wird. Hier ist keine Versicherung notwendig, da die Versicherungslösung die Versicherung eines sicheren Ereignisses bedeutete und damit teuerer wäre als alternative Finanzierungsmethoden. Damit das Ziel gleicher Bildungschancen für alle erreicht werden kann, hat man sich gesellschaftlich in den meisten Ländern für eine Steuerfinanzierung entschieden. Bei der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen sieht es jedoch ganz anders aus. Schwere Erkrankungen können sehr hohe Kosten verursachen, die den einzelnen Menschen überfordern würden. Eine rational handelnde Person würde sich für eine Versicherung entscheiden, die dann diese Kosten abdecken würde. Aus diesem Grund treten viele Gesundheitsökonomen auch dafür ein, die Selbstbeteiligung als Mittel der Eigensteuerung erheblich zu erhöhen. Die in manchen Ländern praktizierte Steuerfinanzierung des Gesundheitswesens hat mit dem oben Gesagten nichts zu tun, sondern hängt mit den besonderen Bedingungen des sozialen Ausgleichs in diesen Ländern zusammen.

UJ: Ist die weit verbreitete Auffassung wirklich so falsch? Heutzutage kann ja von einer "geringen Eintrittswahrscheinlichkeit" des "Ereignisses Arztbesuch" keine Rede mehr sein. Durch die gestiegene Lebenserwartung, durch die in der Öffentlichkeit entstandene Vorstellung, Gesundheit sei das allerhöchste Gut und die damit gekoppelte Selbstverständlichkeit, jede auch noch so kleinste Unsicherheit durch einen Arzt abklären zu lassen, ist es doch längst Alltag geworden, dass die Menschen regelmäßig oder gar häufig Ärzte konsultieren. Die Leistungen des Gesundheitssektors werden also ständig - und nicht nur mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit - nachgefragt ...

PROFESSOR KARMANN: Um es klar zu sagen: Wir müssen trennen zwischen Fällen mit kostenintensiveren Krankheitsverläufen - hier greift der Pflichtversicherungsgedanke - und Behandlungsfällen, die weit weniger Kosten verursachen und letztlich auch vom Einzelnen getragen werden könnten, zumindest bis zu einer gewissen Eigenbeteiligungshöhe. In der Schweiz etwa sind Zahnbehandlungen grundsätzlich aus dem Pflichtversicherungsschutz herausgenommen und der Versicherungsschutz wird typischerweise nur mit einem individuell vereinbarbaren Selbstbehalt angeboten. Und was die von Ihnen genannten hohen - und im internationalen Vergleich zudem auffällig hohen - Arztbesuche in Deutschland anlangt, ergibt sich genau hier Gesprächsbedarf zum Thema selbstverantwortlichen Umgangs in unserer Gesellschaft mit der Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen.

UJ: Ist es sinnvoll, wenn in allen derzeit knapp 200 Krankenkassen insgesamt viele Tausende Mitarbeiter nur die Aufgabe haben, den jeweils anderen Kassen Kunden zugunsten der eigenen abzujagen? Macht das die Bevölkerung gesünder und senkt dies die durchschnittlichen Behandlungskosten?

PROFESSOR KARMANN: Wenn - wie in Deutschland - gesellschaftlich die Versicherungslösung gewählt worden ist, dann sollte es auch Wettbewerb zwischen den Kassen geben. Dazu bedarf es geeigneter Informationspolitik der Kassen und nicht fiktiver Kunden-Jäger-Bataillone in der von Ihnen benannten Höhe. Ein kundenorientierter Kassenwettbewerb gewährleistet, dass sich für die Versicherten letztendlich die entsprechend besten Angebote durchsetzen. Wie viele Krankenkassen am Ende übrig bleiben, ist eine Frage des Wettbewerbs.

UJ: Also: Senkt dies die durchschnittlichen Behandlungskosten?

PROFESSOR KARMANN: Gehen wir davon aus, dass der Wettbewerb auch hier funktioniert. Dann wird er dafür sorgen, dass die durchschnittlichen Behandlungskosten durch Abbau ineffizienter Verläufe verringert werden.

UJ: Die meisten Menschen verstehen, dass die Kosten des Gesundheitssystems mit dem größer werdenden Anteil älterer, gebrechlicher Menschen an der Gesamtbevölkerung steigen. Aber sie würden eine Selbstbedienungsmentalität nicht verstehen - nach dem Motto "am Gesundheitssystem können sich dessen Manager gesundstoßen". Welche Berufsgruppen verdienen innerhalb des deutschen Gesundheitssystems am meisten?

PROFESSOR KARMANN: Zunächst ist der von Ihnen angesprochene Zusammenhang von Demografie und Gesundheitskosten doch komplexer, als häufig vermutet. Denn "gesunde Alte" - und deren Anteil in unserer Gesellschaft nimmt ja erfreulicherweise zu - verursachen nur wenig Kosten, die Kosten steigen jedoch ganz erheblich bei denjenigen Personen, die multimorbid sind und/oder am Ende ihrer Lebenszeit stehen. Inwieweit die Alterung in der Gesellschaft die Gesundheitsausgaben tatsächlich treibt, wird häufig überschätzt. Eine Gesellschaft, deren Mitglieder länger leben, ist zudem nicht von vornherein wehrloser gegenüber einem ungerechtfertigten Finanzgebaren, dies gilt auch für den Gesundheitssektor. Dass dem so ist, dass also die gesellschaftliche Balance zwischen Versicherten und anderen Akteuren im Gesundheitswesen hält, dafür sorgt - neben wachsender Souveränität von Versicherten und neben staatlicher Regulierung - vor allem und gerade der Wettbewerb im Gesundheitsmarkt. Anders gesagt: Gerade den Wettbewerb gilt es im Gesundheitssystem zu stärken, damit die Finanzierung im Gesundheitswesen leistungsgerecht bleibt.

UJ: Wie schätzen Sie hier die sogenannte Kopfpauschale ein? Immerhin erwarten Fachleute, dass im Falle der Einführung einer solchen Pauschale der steuerfinanzierte Anteil der Kosten des Gesundheitssystems deutlich steigen und damit der Wettbewerb spürbar geschwächt werden würde, übrigens bei Verschärfung sozialer Ungerechtigkeiten ...

PROFESSOR KARMANN: Das sehen Gesundheitsökonomen doch differenzierter, wobei einige am Ende die Beitragssatzlösung bevorzugen und andere die Kopfpauschallösung. Ich denke, dass die Kopfpauschale die sachadäquatere Finanzierungsvariante darstellt, da sie die Arbeitskosten entlastet und die Umverteilung aufgrund unterschiedlicher Krankheitsrisiken trennen lässt von der Umverteilung des Einkommens. Für Einkommensumverteilung ist unser Steuersystem zuständig, und das sollte prinzipiell nicht mit der Gesundheitsfinanzierung vermischt werden. Im Übrigen wird bei der Beurteilung der Zusatzbelastung durch einen neuen steuerfinanzierten Anteil der Gesundheitsausgaben häufig übersehen, dass dieser Anteil genau der Umverteilung entspricht, die heute bereits im System geschieht. Vielleicht ist ja aber auch der neue Vorschlag des Gesundheitsministers ein zunächst gangbarer Weg: einerseits einen Teil der Gesundheitsausgaben weiterhin über Beiträge zu finanzieren, andererseits einen Teil über eine Pauschale abzudecken.

UJ: Gibt es denn einen Gedankenaustausch zwischen verschiedenen Beteiligten des Gesundheitswesens und der interessierten Öffentlichkeit?

PROFESSOR KARMANN: Das Gesundheitsökonomische Zentrum (GÖZ) der TU Dresden schafft gerade für solche Diskussionen eine Plattform. Neben Workshops und Seminaren veranstaltet das Zentrum jährlich eine Veranstaltung, auf der namhafte Persönlichkeiten von Krankenkassen, Leistungserbringerseite und Wissenschaft ins Gespräch kommen. Auf der letzten Jahresveranstaltung am 8. Januar 2010 ging es zum Beispiel um Fragen der Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Rolf Steinbronn (Vorstandsvorsitzender AOK Plus und Mitglied des wiss. Beirats des GÖZ) referierte über aktuelle Fragen der Finanzierung von Gesundheitsleistungen aus Sicht einer Krankenversicherung. Prof. Dr. Michael Albrecht (Medizinischer Vorstand des Universitätsklinikums Dresden) ging in seinem Vortrag auf Möglichkeiten ein, die Kosten in der Krankenversorgung zu senken, wobei ein hoher Qualitätsstandard gewährleistet bleibt. Von gesellschaftswissenschaftlicher Seite sprachen Prof. Dr. Stefan Felder (Uni Duisburg-Essen) und Prof. Dr. Peter Zweifel (Uni Zürich und Mitglied des wiss. Beirats des GÖZ). Prof. Felder stellte Ausgestaltungsmöglichkeiten der zukünftigen GKV-Finanzierung unter Beibehaltung des Gesundheitsfonds dar. Prof. Zweifel thematisierte die Präferenzen für Krankenversicherung in Deutschland und den Niederlanden. Ein wichtiges Ergebnis der von ihm vorgestellten Studie besteht in der Beobachtung, dass in beiden Ländern unter repräsentativ Befragten erhebliche Vorstellungsunterschiede bestehen, was für sie jeweils die persönlich bevorzugte Krankenversicherungsvariante wäre. Wenn nun große Unterschiede bei individuell gewünschtem Versicherungsschutz bestehen, verbieten sich ordungspolitisch solange nationale Einheitslösungen, solange den Bürgern das Selbstbestimmungsrecht bei Risikoabsicherung, hier eben gegenüber Krankheitsrisiken, zugebilligt wird.


GÖZ der TU Dresden: http://www.tu-dresden.de/goez


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 21. Jg., Nr. 6 vom 30.03.2010, S. 5
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
Nöthnitzer Str. 43, 01187 Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. April 2010