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FINANZEN/522: Begrenzte Mittel für Gesundheit bedarfsgerecht einsetzen (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 1/2011

Finanzierung
Begrenzte Mittel für Gesundheit bedarfsgerecht einsetzen

Von Prof. Fritz Beske, Kiel


Prof. Fritz Beske zur Finanzsituation in der gesetzlichen Krankenversicherung. Politik muss die auf die Versorgung zukommenden Probleme anerkennen.


Es muss bezweifelt werden, dass die Kostendynamik in der GKV dauerhaft durch Kostendämpfungsmaßnahmen bewältigt werden kann. Beitragserhöhungen und Steuerzuschüsse werden die Dynamik mildern, nicht jedoch kompensieren. Die Folge ist eine Umstellung von einer bedarfsbestimmten auf eine einnahmeorientierte Finanzierung. Dies entspricht sinngemäß der Forderung von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsident Horst Seehofer, wonach sich in den öffentlichen Haushalten in Zukunft die Ausgaben an den Einnahmen orientieren müssen. Gleiches wird auch für Sozialsysteme und damit auch für die GKV gelten. Dort wird in Zukunft nicht mehr der Bedarf die Mittel bestimmen, die zur Bedarfsdeckung aufgebracht werden müssen, sondern Art und Umfang der Leistungen werden sich an den jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln orientieren. Wenn dies so ist, steht der Leistungskatalog zur Disposition. Es ist nicht vorstellbar, mit begrenzten Mitteln alles zu finanzieren, was im Leistungskatalog der GKV enthalten ist. Es kommt hinzu, dass dieser Leistungskatalog unverändert ohne Gegenfinanzierung ausgeweitet wird. Die Tatsache, dass Deutschland weltweit über den umfangeichsten Leistungskatalog eines Gesundheitssystems und über die wohl geringsten Zuzahlungen verfügt, wird nichts daran ändern, dass wir vor einer Phase harter Auseinandersetzungen stehen. Im Folgenden werden konkrete Vorschläge für eine Anpassung des Leistungskatalogs der GKV an begrenzte Mittel vorgelegt und Fragen zu Struktur und Inhalt der medizinischen Versorgung gestellt sowie Verfahren für eine Vorgehensweise entwickelt.

Grundlage ist eine Neubestimmung der Aufgabe der GKV in § 1 Sozialgesetzbuch V (SGB V). Es wird vorgeschlagen, diesen Paragrafen so zu fassen, dass die GKV in erster Linie die Aufgabe hat, im Krankheitsfall sicherzustellen, dass die erforderlichen medizinischen Maßnahmen durchgeführt werden können. Es kommen definierte Präventionsmaßnahmen hinzu: Schwangerenvorsorge, Leistungen zur Früherkennung von Krankheiten einschließlich Kinderuntersuchungen, aktive Schutzimpfungen und Leistungen zur Verhütung von Zahnerkrankungen.

Gefordert wird vom Versicherten und vom Patienten ein solidarisches und gesundheitsbewusstes Verhalten, das eine unnötige Inanspruchnahme von Leistungen der GKV vermeidet und dazu beiträgt, Krankheiten zu verhüten oder zu verzögern und im Krankheitsfall schneller zu gesunden. Diese Forderung ist darum berechtigt, weil nicht nur der Versicherte selbst die GKV finanziert, sondern dies auch durch Arbeitgeber und Steuerzahler erfolgt. In der GKV nehmen Besserverdienende einen Einkommensverzicht in Kauf, damit auch Geringverdiener so behandelt werden können, wie sie selbst behandelt werden. Im Mittelpunkt notwendiger Maßnahmen steht der Leistungskatalog der GKV, der keine Leistungen enthalten sollte, die nicht der neu definierten Aufgabe der GKV in § 1 SGB V entsprechen, der Versorgung im Krankheitsfall. Es dürfen keine Leistungen erbracht werden, die nicht bedarfsgerecht sind. Bei knapper werdenden Mitteln bedeutet jede nicht bedarfsgerecht erbrachte Leistung, dass der damit verbundene Aufwand an Geld und Zeit an anderer Stelle fehlen kann, und damit auch dort, wo ein größerer Bedarf besteht. Dies gilt auch für alle neu in den Leistungskatalog aufzunehmenden Leistungen. Diese Leistungen müssen in ihrer Bedarfsgerechtigkeit verglichen werden mit allen Leistungen, die im Leistungskatalog der GKV enthalten sind. Neue Leistungen müssen zusätzlich finanziert werden, es sei denn, dass Leistungen mit dem gleichen Finanzvolumen aus dem Leistungskatalog herausgenommen werden.

Unter dieser Vorgabe sind diejenigen Leistungen, die der GKV aus familien-, sozial- oder gesellschaftspolitischen Gründen übertragen worden sind, zu streichen, insgesamt ein Betrag von rund einer Milliarde Euro. Zu den versicherungsfremden Leistungen gehören medizinische Vorsorgeleistungen (Kuren, Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch und Sterilisation, außer bei medizinischer Indikation), Krankengeld bei Erkrankung des Kindes, die Förderung von Einrichtungen zur Verbraucher- und Patientenberatung, die Unterstützung der Versicherten bei Behandlungsfehlern.

Die Quersubventionierung muss ein Ende haben. Es gibt Versichertengruppen, von denen ebenfalls aus familien-, sozial- oder gesellschaftspolitischen Gründen kein oder nur ein reduzierter Beitrag erhoben wird. Hierzu gehören Beitragsfreiheit bei Krankengeld, Mutterschaftsgeld, Erziehungsgeld oder Elterngeld, ermäßigter Beitrag für Wehrdienst- und Zivildienstleistende sowie für Studenten und Praktikanten. Für die meisten dieser Versichertengruppen liegen keine Berechnungen darüber vor, inwieweit die GKV dadurch belastet wird. Beziffert werden können die Kosten für ALG-II-Empfänger. Bei kostendeckender Finanzierung würde die GKV jährlich rund vier Milliarden Euro mehr einnehmen. In dieser Größenordnung subventionieren die Beitragszahler der GKV die Bundesagentur für Arbeit beziehungsweise den Bundeshaushalt. Insgesamt ist die Finanzierung dieser Versichertengruppen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Da die Zahl der im Erwerbsleben stehenden Beitragszahler dramatisch zurückgeht und damit die solidarische Finanzierung zunehmend schwieriger wird, muss die Frage nach der beitragsfreien Mitversicherung von Kindern, Ehegatten und Lebenspartnern gestellt werden. Es wird vorgeschlagen, die beitragsfreie Mitversicherung unter dem Gesichtspunkt einer nicht mehr zeitgemäßen übermäßigen Belastung einer immer geringer werdenden Zahl von erwerbstätigen Beitragszahlern aus Steuermitteln zu finanzieren, ein Betrag von 21 bis 23 Milliarden Euro jährlich.

Ausgewählte Leistungen der GKV könnten aus dem Leistungskatalog herausgenommen oder durch Zuzahlungen, Festbeträge oder Festzuschüsse modifiziert werden. Hierzu gehören: Heilmittel wie Physiotherapie, dabei besonders Massagen; Hilfsmittel durch eine Neugestaltung des unübersehbar gewordenen Hilfsmittelkatalogs und die Einführung von Festzuschüssen; künstliche Befruchtung durch Änderung der jetzigen paritätischen Finanzierung durch GKV und Patient in je ein Drittel GKV, Patient und Staat, da die künstliche Befruchtung auch eine bevölkerungspolitische Bedeutung hat; ambulante psychotherapeutische Versorgung mit Änderungen des Prüfverfahrens und der Einführung einer sitzungsbezogenen Selbstbeteiligung; alternative Heilmethoden einschließlich der Homöopathie und alle dem Wellnessbereich zugehörigen Leistungen.

Es ist nicht zu vertreten, dem Versicherten Einschränkungen zuzumuten, ohne gleichzeitig Fragen nach Effektivität und Effizienz der medizinischen Versorgung zu stellen. Dabei können nur beispielhaft ausgewählte Auffälligkeiten angesprochen werden. Im Hinblick auf begrenzte Mittel in der Gesundheitsversorgung ist es unvermeidlich, auch Themen aufzugreifen, die bisher aus ethischen Gründen vermieden worden sind. Bei begrenzten Mitteln reichen jedoch ethische Gründe allein nicht mehr aus, um Entscheidungen zu Art und Umfang von Leistungen zu treffen. Auch dies kann bedeuten, dass Leistungen nicht finanziert werden können, denen eine größere Bedeutung zugemessen werden muss als Leistungen, die ausschließlich mit einer ethischen Begründung weiter gewährt oder neu in den Leistungskatalog aufgenommen werden.

Zur Struktur der medizinischen Versorgung stellen sich folgende Fragen:

Ist die im europäischen Vergleich überdurchschnittlich hohe Zahl an Betten in der akuten Krankenhausversorgung allein medizinisch begründet?
Ist die in Deutschland hohe Zahl an stationären Rehabilitationsbetten medizinisch begründet und gibt es Möglichkeiten, die ambulante Rehabilitation weiter zu stärken?
Entspricht die Zahl der medizinischen Großgeräte dem Bedarf oder gibt es andere Gründe für Art und Umfang des Betriebs medizinischer Großgeräte, und ist nicht zumindest eine Abstimmung über die Neuzulassung von medizinischen Großgeräten erforderlich?
Beklagt wird die in Deutschland im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hohe Zahl von Arztkontakten mit der Folge, dass die für den einzelnen Patienten zur Verfügung stehende Zeit als unzureichend bezeichnet wird. Ist diese hohe Inanspruchnahme medizinisch begründet, und, wenn nein, gibt es Möglichkeiten, die Inanspruchnahme ohne Einschränkung der Qualität der medizinischen Versorung zu reduzieren?

Zum Inhalt medizinischer Leistungen ist zu fragen:

Ist die Zunahme von Schnittentbindungen, von Kaiserschnitten, medizinisch begründet, und ist es Aufgabe der GKV, einen nicht medizinisch begründeten Kaiserschnitt und damit einen Wunsch-Kaiserschnitt zu finanzieren?
Trotz der deutschen Vergangenheit muss es möglich sein, die Frage zu stellen, ob bei der Konkurrenz um begrenzte Mittel nicht auch eine Diskussion darüber geführt werden muss, ob jedes Frühgeborene unabhängig von seinem Geburtsgewicht einer intensivmedizinischen Behandlung zugeführt werden muss oder ob es hierfür nicht Grenzen geben kann wie in der Schweiz. Dort beginnt nach einer Empfehlung der Swiss Society of Neonatology die intensivmedizinische Behandlung erst ab der 25. Schwangerschaftswoche (...)
Ist die Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung eine Aufabe der Gesetzlichen Krankenversicherung?
Ist es vertretbar, dass die Folgen gesundheitlichen Fehlverhaltens von der GKV toleriert werden, oder muss es Sanktionen oder nachgewiesene Anreizsysteme geben, mit denen einem gesundheitlichen Fehlverhalten entgegengewirkt werden kann und damit der Solidargemeinschaft Kosten erspart werden? Ebenfalls eine konkrete Frage an den Deutschen Ethikrat.

In der Öffentlichkeit werden Vorwürfe zu Über-, Unter- und Fehlversorgung erhoben, Vorwürfe, die sich oft direkt an die Heilberufe und dabei besonders an Ärzte wenden. Dies beinhaltet die Sorge über eine Kommerzialisierung der medizinischen Versorgung, dies beinhaltet aber auch den Vorwurf, medizinische Leistungen mehr aus ökonomischen als aus medizinischen Gründen zu erbringen. In einer Situation, in der es um begrenzte Mittel in der Gesundheitsversorgung geht, ist insbesondere die Ärzteschaft aufgefordert, sich dieser Vorwürfe anzunehmen und Vorwürfe so aufzuarbeiten, dass sie öffentlich diskutiert werden können. Um dem Versicherten bei begrenzten Mitteln Vertrauen in die Gesundheitsversorgung zu geben, muss sich die Politik offen zu Gesundheitszielen bekennen und die Einhaltung dieser Ziele gewährleisten. Die Gesundheitsziele sind Versorgungssicherheit (jeder Bürger muss die Gewissheit haben, dass er bei ernsthafter Erkrankung zeitnahen Zugang zur notwendigen medizinischen Versorgung hat); kein Bürger darf durch die Kosten für eine notwendige Versorgung in existenzielle Not geraten; Alter allein darf kein Grund zum Leistungsausschluss sein; medizinischer Fortschritt für alle.

Es ist eine integrierte Vorgehensweise erforderlich, die von einer für Rationierung und Priorisierung zu unterscheidenden Methodik bestimmt wird. Rationierung ist eine politische Aufgabe. Die Politik braucht für ihre Entscheidungen, die in erster Linie den Leistungskatalog der GKV betreffen, fachliche Unterstützung. Die Politik muss sich hierzu Gremien schaffen oder sich vorhandener Einrichtungen wie des G-BA und des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen bedienen. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich auch die Körperschaften und Verbände im Gesundheitswesen, dass sich letztlich die gesamte Fachwelt dieser Aufgabe verpflichtet fühlen.

Priorisierung ist in erster Linie eine medizinische und dabei vorrangig eine ärztliche Aufgabe unter Einbindung anderer Berufe im Gesundheitswesen. Es bietet sich an, die Bundesärztekammer mit der Federführung für Priorisierung zu beauftragen. Die Erarbeitung von Prioritätenlisten erfordert Fachwissen, das vorrangig in der Ärzteschaft vorhanden ist. (....)

Wird dieser Weg nicht gegangen, muss mit einer Ausweitung der impliziten, der stillen, der geheimen, der intransparenten Rationierung gerechnet werden. Diese Form der Rationierung ist die ungerechteste und unsozialste Form von Leistungseinschränkung überhaupt. Sie ist zufallsbedingt und wahllos und kann denjenigen von Leistungen ausschließen, für den diese Leistungen notwendig und bedarfsgerecht sind.

Insgesamt geht es darum, dem Versicherten das notwendige Vertrauen zu geben, dass begrenzte Mittel bedarfsgerecht eingesetzt werden.

Von entscheiden der Bedeutung ist als erster Schritt zu Reformen die öffentliche Anerkennung der auf die Gesundheitsversorgung zukommenden Probleme durch die Politik. Dies ist unabdingbare Voraussetzung dafür, dass sich die Fachwelt dieser Problematik annimmt und sie in die Arbeit einbringt. Andernfalls läuft jeder, der sich dieser Problematik stellt und auch Lösungsvorschläge erarbeitet, Gefahr, hierfür diskriminiert und der sozialen Demontage beschuldigt zu werden. Es muss gleichzeitig anerkannt werden, dass eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung eine ausreichende Zahl an qualifiziertem und motiviertem Fachpersonal erfordert, das leistungsgerecht vergütet wird.


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 1/2011 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2011/201101/h11014a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Januar 2011
64. Jahrgang, Seite 60 - 62
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2011